Pogrom

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Ein Pogrom (n. oder m., pl. die Pogrome) ist ein Ausbruch kollektiver Gewalt gegen eine religiöse, nationale oder ethnische, früher meist jüdische Minderheit. Es zeichnet sich durch seine spontane Entstehung und einen geringen Organisationsgrad aus. Ursprung der Handlungen ist meist eine der kompletten Minderheit zugeschriebene Verantwortung für eine von der Mehrheit wahrgenommene Bedrohung.

Entwicklung des Begriffs

Sprachlich

In der Literatur wird Pogrom aus dem Russischen übersetzt mit "Gewitter" und "Vernichtung".[1] Den Wortstamm -grom findet man in der russischen Sprache bei der Bezeichnung für "Donner" (russisch гром, deutsche Transliteration grom) sowie den Verben "zerschlagen" oder "vernichten" (russisch громить; deutsche Transliteration gromić) wieder.

Fälschlicherweise wird an manchen Stellen von Progromen gesprochen. Allerdings liegt keine Verwandtschaft mit lateinischen Begriffen vor, die mit pro- beginnen.[2]

Historisch

Der Begriff Pogrom wird in der wissenschaftlichen Literatur seit den antijüdischen Ausschreitungen in Russland 1881-1883 verwendet. Vergleichbare Phänomene haben zwar vorher schon stattgefunden, wurden aber erst rückwirkend als Pogrome beschrieben.[3] Anfänglich galten ausschließlich antijüdische Ausschreitungen in Russland als Pogrome. Diese Einschränkung ist nicht mehr aktuell. So werden auch Ausschreitungen gegen andere ethnische, nationale oder religiöse Gruppen in anderen Ländern wie Deutschland, Amerika und Afrika als Pogrome bezeichnet.

Definition

Ein Pogrom ist ein spontaner Ausbruch kollektiver Gewalt gegen Mitglieder einer ethnischen, nationalen oder religiösen Minderheit, der durch einen geringen Organisationsgrad unter den Akteuren gekennzeichnet ist. Es handelt sich dabei um eine nicht-staatliche Reaktion auf eine empfundene Bedrohung, deren Ursprung der Minderheit kollektiv zugeschrieben wird. Auslösende Ereignisse für Pogrome sind meist Gerüchte, denen zufolge Mitglieder der Minderheit andere Personen angegriffen haben. Pogrome werden als globale Aufforderung an den Staat gesehen, sich für die bedrohte Mehrheit einzusetzen, wobei sie sich durch das Fehlen von konkreten Forderungen auszeichnen. Pogrome haben episodischen Charakter und dauern meist nicht länger als ein paar Tage an.[4]

Die Beteiligung des Staates wird unterschiedlich bewertet. Einerseits finden sich Aussagen darüber, dass die herrschende Staatsmacht nicht aktiv an den Handlungen eines Pogroms beteiligt ist.[5] Andere Autoren verweisen hingegen in historischen Beispielen auf eine stille Duldung, wenn nicht sogar aktive Provokation von Pogromen durch die herrschende Staatsmacht, sofern dieses Verhalten ihnen nützlich erschien.[6]

Pogrome sind kollektive Gewalt gegen andere Gruppen. Sie beinhalten sowohl Gewalt gegen materielle Güter der kollektiv angegriffenen Gruppe wie deren Wohnungen, Geschäfte und Gotteshäuser, aber auch körperliche Angriffe durch Demütigung und direkte Gewalt, bis hin zu Tötungen.

Nimmt die Mehrheit eine Bedrohung ihrer Machtposition oder Ressourcen wahr, kann eine Reaktion ein Pogrom sein. Die Verantwortung für die Bedrohung wird - mehr oder weniger durch staatliche Äußerungen gestützt - einer Minderheit zugeschrieben. Empfindet die Mehrheit fehlende Unterstützung des Staates, wird sie selbst aktiv. Einige Autoren sprechen deshalb bei Pogromen von Selbsthilfe.[7]

Pogrome zeichnen sich durch das Fehlen von klaren Zielen aus.[8] Globale Ausrufe wie "Ausländer raus!" begleiten die Ausschreitungen in den meisten Fällen, beinhalten aber keine konkreten, umsetzbaren Forderungen. Ein Einschreiten des Staates für die Belange der Mehrheit wird erwartet, aber selten klar formuliert.[9]

Ursachen

Für den Ausbruch eines Pogroms sind verschiedene Bedingungen verantwortlich:

  • Die Mitglieder der Mehrheit empfinden Bedrohung ihrer eigenen Ansprüche durch die Minderheit und identifizieren sich gleichzeitig mit ihrer Gruppe. Tatsächlich ist das Machtverhältnis aber unausgeglichen zugunsten der dominanten Gruppe.
  • Der Staat als dritte Partei im Pogrom (neben Mehrheit und Minderheit) vermittelt eine Gelegenheitsstruktur für kollektive Gewalt. Dies tut er entweder durch die tatsächliche Bevorzugung der Minderheit, indem er ihr neue Ansprüche zuschreibt. Oder durch eine unterstützende Zuschreibung der Schuld auf die Minderheit, so dass sich die Mehrheit als vom Staat beauftragt fühlt. Außerdem kann der Machtverlust des Staates Pogrome begünstigen, weil der Staat handlungsunfähig ist.
  • Der wahrgenommene Konflikt wird durch ideologische Deutungen verschärft. In der Mehrheit findet eine Kommunikation über Normen statt, die auf die Minderheit angewandt werden. Deren Verhalten erscheint so als Unrecht. Die Verständigung über interne Normen legitimiert somit gewalttätiges Handeln gegen die Minderheit.[10]
  • Zwischen Mehrheit und Minderheit herrscht eine große soziale Trennung. Diese stellt sich dar in fehlenden Beziehungen zwischen den Gruppen, einer großen kulturellen Distanz in Sprache, Religion oder Kunst, einer fehlenden wirtschaftlichen, politischen oder militärischen Abhängigkeit untereinander sowie einer großen Ungleichheit gemessen an Status und Wohlstand zwischen den Gruppen.[11]
  • Ein auslösendes Ereignis führt dann zum Pogrom. Ein solches Ereignis kann ein Gerücht sein, nach dem Mitglieder der Minderheit Mitglieder der Mehrheit angegriffen oder verletzt haben. Da die Minderheit zu diesem Zeitpunkt unter genauster Beobachtung steht, wird Fehlverhalten schnell wahrgenommen oder als solches gedeutet.
  • Eine Menschenmenge wird mobilisiert und auf ein räumlich identifizierbares Ziel gerichtet. Diese Menschenmenge kann sowohl aus einer sonst nicht verbundenen Menge von Menschen entstehen (z.B.: auf Märkten, Umzügen) oder aus bereits existierenden Menschengruppen (z.B.: Fangruppen, organisierte Gangs), die Außenstehende mit sich ziehen. [12]

Abgrenzung zu anderen Formen kollektiver Gewalt

Formen kollektiver Gewalt können auf verschiedenen Dimensionen unterschieden werden:

  • Von welcher Seite geht die Gewalt aus? Unilateral oder bilateral?
  • Gegen wen richtet sich die Gewalt? Mehrheit oder Minderheit?
  • Wem wird die Schuld an den empfundenen Missständen zugeschrieben? Einem Individuum oder einer Gruppe?
  • Wie hoch ist der Organisationsgrad der Akteure? Hoch oder niedrig?

Bei einem Pogrom geht die Gewalt von einer Gruppe aus, sie ist unilateral. Die mächtigere Mehrheit geht gegen die Minderheit vor. Dieser wird kollektiv die Verantwortung für die empfundenen Missstände zugeschrieben. Auch wenn eine ganze Gruppe agiert, ist der Organisationsgrad relativ gering. Ebenfalls unilateral, also kollektive Gewalt von nur einer Seite, ist Lynchjustiz, das Töten von Einzelpersonen ohne richterliches Urteil. Auch hier agiert eine Mehrheit gegen Mitglieder einer Minderheit auf einem sehr niedrigen Organisationsgrad. Allerdings wird im Gegensatz zum Pogrom nicht eine gesamte Gruppe, sondern eine Einzelperson für die empfunden Missstände verantwortlich gemacht.

Eine weitere Form kollektiver Gewalt, die unilateral ist und sich gegen Mitglieder eine Minderheit richtet ist der Vigilantismus. Einzelne Personen werden auch hier als Bedrohung wahrgenommen, weshalb sich die Akteure als Gegenwehr zusammenfinden. Die so entstehenden Gruppierung sind von längerer Dauer als die Lynchjustiz und weitaus stärker organisiert. Dem gegenüber steht der Terrorismus, der ebenfalls als unilaterale, kollektive Gewalt zu verstehen ist. Auch hier liegt ein hohes Maß an Organisation vor. Die Verantwortung für die wahrgenommenen Missstände werden hingegen wieder kollektiv einer Gruppe zugeschrieben. Ganz eindeutig ist nicht, ob es sich um eine agierende Mehr- oder Minderheit handelt.

Eine unilaterale Form der kollektiven Gewalt, bei der die Minderheit gegen eine weitaus stärkere, herrschende Mehrheit agiert, sind Rassenunruhen oder Aufstände (engl. riots). Eine Minderheit, die sich unterdrückt fühlt, will ihre eigenen Rechte stärken und wird deshalb aktiv.

Als Beispiel für kollektive Gewalt, die bilateral ausgeübt wird, sind Kriege und Familienfehden zu nennen. Beide Parteien werden dabei aktiv, unabhängig davon, wer begonnen hat.[13]

Geschichtliche Beispiele

Russland 1881-1884

Am 1. März 1881 töteten Mitglieder einer nationalen Untergrundorganisation den russischen Zaren Alexander II bei einem Attentat. Gerüchte schrieben diese Tat Mitgliedern der jüdischen Bevölkerung zu. Ab dem Frühjahr 1881 kam es in verschiedenen Städten um Odessa und Kiev zu Pogromen gegen die jüdische Bevölkerung. Diese Pogrome wurden gestützt durch antijüdische Presse. Zusätzliche Restriktionen zu Wohnort und Handel der jüdischen Bevölkerung kamen durch die sogenannten Maigesetze. Die Pogrome hielten bis Sommer 1884 an. [14]

Novemberpogrome 1938

Hauptartikel bei Wikipedia: Novemberpogrome 1938

Am 07. November 1938 schoß der polnische Jude Herschel Grynszpan in der deutschen Botschaft in Paris zweimal auf den deutschen Diplomaten Ernst vom Rath und verletzte ihn schwer. Von den nationalsozialistztischen Medien wurde der jüdischen Bevölkerung die Verantwortung für dieses Attentat zugeschrieben und Vergeltung gefordert. Erste Pogrome fanden bereits in der Nacht zum 08. November in Kurhessen statt. Nach dem Tod vom Raths hielt Joseph Goebbels eine Rede vor führenden NSDAP-Mitgliedern, in der er die antijüdischen Demonstrationen in Kurhessen ansprach. Sollten vergleichbare Aktionen spontan entstehen, solle man nicht versuchen sie zu unterbinden.[15]

Überall in Deutschland wurden in der Nacht vom 9. zum 10. Novemer Synagogen angezündet, Geschäfte und Wohnungen der jüdischen Bevölkerung demoliert und geplündert. Die Inhaber wurden verbal und körperlich angegriffen, viele wurden umgebracht. Bundesweit wurden etwa 30.000 jüdische Männer verhaftet und in die Konzentrationslager Buchenwald, Dachau und Sachsenhausen gebracht.[16] Die Pogrome hielten vereinzelt bis zum 12. November an.

Rostock-Lichtenhagen 1992

Hauptartikel bei Wikipedia: Ausschreitungen von Rostock-Lichtenhagen

Am 03.12.1990 wurde die Zentrale Aufnahmestelle für Asylbewerber in Mecklenburg-Vorpommern (ZAst) in Rostock-Lichtenhagen direkt neben einem Wohnheim für vietnamesische Vertragsarbeiter/-innen eröffnet. Viele Asylsuchende mussten aus Platzmangel vor dem Haus übernachten. Gestützt durch Zeitungsberichte, die den Asylsuchenden mangelnde Hygiene und Kriminalität zuschrieben, entstand eine ablehnende Haltung gegen die Asylsuchenden. Vom 22. bis 26. August kam es zu Ausschreitungen gegen die ZAst und das danebenliegende Arbeiterwohnheim. Bis zu 3000 Menschen vor Ort riefen fremdenfeindliche Parolen, warfen Brandflachen und Steine in die zerschlagenen Fenster der Gebäude oder unterstützten die Akteure durch Applaus. Die ZAst und das Wohnheim der vietnamesischen Vertragsarbeiter wurden nach diesen Ausschreitungen an andere Orte verlegt.

Literatur

  • Adam, Uwe Dietrich: Wie spontan war der Pogrom?, In: Pehle, Walter H. (Hrsg.): Der Judenpogrom 1938. Von der "Reichskristallnacht" zum Völkermord. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 1988, ISBN 3-596-24386-6, S. 74-93.
  • Benz, Wolfgang: Der Rückfall in die Barberei. Bericht über den Pogrom., In: Pehle, Walter H. (Hrsg.): Der Judenpogrom 1938. Von der "Reichskristallnacht" zum Völkermord. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 1988, ISBN 3-596-24386-6, S. 13-54.
  • Bergmann, Werner: Pogrome: Eine spezifische Form kollektiver Gewalt. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie., Jg. 50, Heft 4, 1998, ISSN 1861-891X, S. 644-665.
  • Klier, John Doyle: The pogrom paradigm in Russian history In: Klier, John Doyle and Lambroza Shlomo (Hrsg.): Pogroms: Anti-Jewish violence in modern Russian history. University Press, Cambridge 1995, ISBN 0-521-40532-7, S. 13-38.
  • Klier, John Doyle & Lambroza Shlomo Klier: The pogroms of 1881-1884. In: John Doyle and Lambroza Shlomo (Hrsg.): Pogroms: Anti-Jewish violence in modern Russian history. University Press, Cambridge 1995, ISBN 0-521-40532-7, S. 39-43.
  • Senechal de la Roche, Roberta: Collective Violence as Social Control. In: Sociological Forum, Vol. 11, No. 1, 1996, ISSN 1573-7861, S. 97-128.
  • Weinberg, Sonja: Pogroms and Riots. German Press Responses to Anti-Jewish violence in Germany and Russia (1881-1882)., Lang, Frankfurt a.M. (u.a.) 2010, ISBN 978-3-631-60214-0.

Einzelnachweise

  1. Bergmann, 1998: 648.
  2. http://www.duden.de/rechtschreibung/Pogrom nachgeschlagen am 14.03.2013
  3. Bergmann, 1998: 648
  4. Bergmann, 1998: 647ff.
  5. Bergmann, 1998: 647
  6. Adam, 1988: 90-93
  7. Senechal de la Roche,1996: 102ff.
  8. Klier, 1995: 14
  9. Bergmann, 1998: 658
  10. Bergmann, 1998: 655
  11. Senechal de la Roche, 1996:105ff.
  12. Bergmann, 1998: 648-655
  13. Senechal de la Roche, 1996: 102ff.
  14. Klier u. Lambroza, 1995: 39ff.
  15. Adam, 1988: 76-80
  16. Benz, 1988: 33-41

--LM 09:23, 14. Mär. 2013 (CET)