No Blame Approach

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Der No Blame Approach (sinngemäß: „Lösungsansatz ohne Schuldzuweisung“), oder auch No Blame Approach to Bullying, ist eine Konfliktlösungsstrategie, die vor allem in der Mobbingintervention an Schulen erfolgreich eingesetzt wird. Diese opferorientierte Herangehensweise verzichtet auf eine retrograde Analyse des Geschehens und orientiert sich an einer perspektivischen Verhaltensänderung aller beteiligten Personen, ohne die Schuldfrage klären zu wollen.

Ein elementarer Bestandteil dieses mehrstufigen Interventionsprozesses ist die Bildung einer Unterstützergruppe und der konsequente Verzicht auf das klassische System von Anschuldigung und Strafe.

Etymologie

Der Begriff blame (englisch) bedeutet, jemanden beschuldigen, verantwortlich machen oder tadeln.

Der Begriff approach (englisch) geht auf das Mittelenglische approachen zurück, welches sich wiederum vom Alt-Französischen approachier (jetzt approcher) ableitet. Approachier hat seinen Ursprung im Spätlateinischen appropiare. Wörtlich übersetzt bedeutet es soviel, wie Annäherung bzw. sich annähern an oder an etwas herantreten. Hier wird die Begrifflichkeit sinngemäß als Ansatz übersetzt. Gemeint ist eine besondere Herangehensweise.

Definition

Im Rahmen der auf die Zukunft ausgerichteten Konfliktlösung mit dem No Blame Approach geht es insbesondere um die Problemlösung in Fällen von Mobbing unter Kindern und Jugendlichen. Der Lösungsansatz zielt auf eine Verhaltensänderung, unter Zuhilfenahme eines kurztherapeutischen Ansatzes, bei der Täterschaft und deren Unterstützern ab und will insbesondere die Opfer schützen. Der No Blame Approach ist ein opferorientierter Interventionsansatz. Dabei geht man davon aus, dass das Verhalten der Täterschaft regelmäßig nur fehlgeleitet und nicht pathologisch ist. Das Strafen und das Sanktionieren als geeignete Sanktionsmittel werden infrage gestellt und kommen bei diesem Ansatz nicht zum Tragen.

Dabei wird eine lineare Vorgehensweise, die ein kausales Ursache-Wirkung-Prinzip zugrunde legt, abgelehnt. Hierbei besteht das Risiko, dass die Handelnden als Problemträger klassifiziert und stigmatisiert werden. Dies betrifft hier alle Beteiligten, sowohl auf der Seite der Agierenden, als auch auf der Seite der Betroffenen. Vielmehr geht es um eine systematische, stufenweise Vorgehensweise, die den Konflikt als zirkuläres Phänomen versteht. Das Verhalten der handelnden Personen ist jeweils abhängig vom Verhalten anderer in dem Konflikt beteiligter Personen. Die Verhaltensweisen beeinflussen sich fortwährend und gegenseitig. Das Mobbing wird aus einer systematischen Perspektive betrachtet.

Eine funktionierende und erfolgreiche Konfliktlösung kann demnach nur gefunden werden, wenn das Zusammenspiel der handelnden Personen betrachtet und in der Folge positiv durch die Beteiligten aktiv geändert wird. Diese lösungsorientierte Vorgehensweise beinhaltet kein Verstehenwollen der zurückliegenden Vorkommnisse und Handlungen. Vielmehr wird der Blick auf mögliche perspektivische und real umsetzbare Verhaltensänderungen gerichtet.

Dabei ist es wichtig, dass alle Beteiligten an der Lösung interessiert sind und den Willen zur aktiven Mitarbeit zeigen. Problemlösungsressourcen aller Beteiligten werden unterstellt und durch Verstärkung der persönlichen und sozialen Fähigkeiten erkennbar gemacht.

Historie / Entwicklung des Begriffs

Der No Blame Approach stammt in seinen Ursprüngen aus England. Hier beschäftigten sich ab 1991 Barbara Maines und George Robinson mit Mobbingfällen im schulischen Kontext. Die beiden Pädagogen konnten auf Erfahrungen aus ihrer langjährigen Arbeit mit verhaltensauffälligen Kindern und Jugendlichen zurückgreifen. Ihr Grundgedanke war, dass die retrospektive Betrachtung und Analyse sowie eine Bestrafung nicht zielführend sind. Vielmehr konzentrierte sich die Betrachtung der Mobbingfälle auf eine in die Zukunft blickende, problemlösende Strategie.

Durch eine gezielte Öffentlichkeitsarbeit erreichte diese Vorgehensweise schnell eine gewisse Bekanntheit, wobei der Verzicht auf Strafe zuerst kritisch gesehen wurde. Obwohl die hohe Erfolgsquote für den No Blame Approach sprach, gab es viel Kritik und Ablehnung.

In den folgenden Jahren wurde der No Blame Approach in der Schweiz und ab 2002 auch in Deutschland bekannt und vermehrt zur Mobbingintervention vor allem im schulischen Kontext eingesetzt. Die Einführung und Entwicklung in Deutschland ist dem Züricher Pädagogen Christopher Szaday zuzuschreiben, der im Rahmen einer Qualifizierungsmaßnahme für Pädagogen den Umgang mit Gewalt in der pädagogischen Praxis thematisierte. In der Folge wurde der No Blame Approach an verschiedenen Schulen in Deutschland mit großem Erfolg getestet. Nach dieser Testphase wurde ein Qualifizierungskonzept entwickelt, welches in einem eintägigen Workshop den zukünftigen Anwendern die theoretischen Grundlagen vermittelt und in Trainings die praktische Anwendung aufzeigt.

Zwischen 2006 und 2008 wurde der inzwischen bundesweit eingesetzte Ansatz evaluiert. Bis 2012 sind deutschlandweit rund 10.000 Lehrer, Pädagogen, Schulsozialarbeiter und Schulpsychologen fortgebildet worden. Wird der No Blame Approach angewendet, so zeigen die Evaluationsergebnisse, dass in 85 % der Fälle das Mobbing nachhaltig gestoppt werden konnte.

Praktische Anwendung zur Mobbingintervention

Der No Blame Approach wird in sieben Schritten durchgeführt, welche sich in drei Phasen zusammenfassen lassen. Diese Schritte sind im Einzelnen:

  1. Das Gespräch mit dem oder der Mobbingbetroffenen
  2. Das Bilden der Unterstützergruppe
  3. Definition des Problems
  4. Verzicht auf Schuldzuweisung
  5. Sammlung von in die Zukunft gerichteten Ideen
  6. Verantwortungsübernahme durch die Unterstützergruppe
  7. Nachbereitung

In Deutschland wird lediglich von den drei Phasen gesprochen. Diese Phasen beinhalten die oben genannten Schritte. Die Phasen gliedern sich in:

  1. Erstgespräch mit dem oder der Mobbingbetroffenen
  2. Gespräch mit der Unterstützergruppe
  3. Nachgespräch

Nach Erkennen eines Mobbingvorfalls wird das Gespräch mit der/ dem Betroffenen gesucht. Hierbei geht es nicht um die Schilderung der zurückliegenden Geschehnisse. Vielmehr ist es elementar, die Gefühlslage und die persönliche, belastende Situation aufzuhellen und die Beteiligten zu identifizieren. In der Folge wird die so genannte Unterstützergruppe gebildet. Diese besteht im Idealfall aus sechs bis acht Personen. Darunter befinden sich sowohl die Täter oder Täterinnen, Mitläuferinnen und Mitläufer und bislang Unbeteiligte. In der Gruppenarbeit werden die Gefühlszustände der Betroffenen beziehungsweise des Betroffenen deutlich gemacht und thematisiert. Auf Schuldzuweisungen und die Suche nach Verantwortlichkeiten wird dabei vollständig verzichtet. In den nächsten Schritten erarbeitet die Unterstützergruppe Vorschläge, wie die Situation der oder des Betroffenen perspektivisch verbessert werden kann und übernimmt aktiv die Verantwortung für deren Umsetzung. Zeitlich abgesetzt davon wird mit allen Beteiligten der Prozess in Einzelgesprächen nachbereitet.

Kriminologische Relevanz

Der Verzicht auf Strafe, Schuldzuweisung und auf stigmatisierende Behandlung der Täterschaft ist ein Hauptbestandteil des No Blame Approach. Da eine retrograde Erforschung der schuldhaften Täterhandlung unterbleibt, umgeht man die im Labeling Approach thematisierte Stigmatisierung, Kriminalisierung und die Definition der Tathandlung als abweichend oder gar kriminell. Der oder die Handelnde wird während des gesamten Prozesses nicht als Täterin oder Täter bezeichnet. Mittelbar Beteiligte sind im Sprachgebrauch keine Mittäter.

Konfliktlösungsressourcen und persönliche Entwicklungsmöglichkeiten aller Betroffenen werden aufgezeigt und verstärkt. Durch die dem Mobbing eigene Dynamik und die damit verbundene Rollenverteilung besteht die Gefahr, dass auch mittelbar Beteiligte und der oder die Betroffene einer Etikettierung oder einer negativen Rollenzuschreibung unterliegen. Diesem Prozess wird bei Anwendung des No Blame Approach aktiv entgegen gewirkt. Dies geschieht vor allem durch die Vermeidung von stigmatisierenden Begrifflichkeiten wie Täter, Opfer oder Duldender.

Die Beteiligten der Unterstützergruppe müssen sich mit der Rolle des nun verantwortlichen Unterstützers identifizieren können. Sie sollen diese Rolle für sich annehmen und in der Folge aktiv umsetzen. Eine Identifikation mit der Täterrolle und die damit verbundene Übernahme von Verhaltensmustern wird somit verhindert.

Ebenso soll der Effekt der selbsterfüllenden Prophezeiung (englisch self-fulfilling prophecy), wie dieser zum Beispiel von Merton beschrieben wurde, unterbunden werden. Demnach verursacht eine Rollenerwartung ein bestimmtes Verhalten, was wiederum eine in gleiche Richtung zielende Reaktion bei dem jeweiligen Gegenüber auslöst.

Der No Blame Approach versteht sich in seiner Herangehensweise als ein opferorientierter Lösungsansatz. Ziel ist es, neben einer zukunftsorientierten Verhaltensänderung bei den nicht Mobbingbetroffenen, eine weiterführende Viktimisierung der oder des Betroffenen zu vermeiden.

Die primäre Viktimisierung, wie sie u.a. von Lamnek beschrieben wurde, bezeichnet die Opferwerdung im direkten Zusammenhang mit der Tathandlung. Die daran anknüpfende sekundäre Viktimisierung resultiert aus der falschen Reaktion des sozialen Nahraums auf die Geschehnisse. Oft führen diese Reaktionen zur Identifikation mit der Opferrolle und zu einer Übernahme dieser in das Selbstbild der oder des Betroffenen. Dies wird als tertiäre Viktimisierung bezeichnet. Der No Blame Approach kann mit seiner zukunftsorientierten Herangehensweise diese Entwicklung unterbinden.


Literatur

  • Barbara Maines und George Robinson, Crying for help. The No Blame Approach to Bullying, Bristol 1997
  • Heike Blum und Detlef Beck, No Blame Approach Mobbingintervention in der Schule, Köln 2012
  • Robert K. Merton, Soziologische Theorie und soziale Struktur, 1995
  • Siegfried Lamnek, Neue Theorien abweichenden Verhaltens II, 1994