Mord (Version 3)

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Mord (Version 2)


Nicht nur die Vorfahren des modernen Menschen, auch der homo sapiens selbst lebte während der längsten Zeit in überschaubaren Gemeinschaften. Kontakte mit Fremden waren selten und regelmäßig feindselig. Für den intelligenten Menschen, der sich vorzustellen vermochte, dass der Fremde schon aus Angst vor einem Angriff wahrscheinlich zu einem Präventivschlag gegen ihn ausholen würde, lag nichts näher, als dass er dann lieber selber angriff. Indem er zum "aggressiven Individuum" wurde, das seine Angst vor den Anderen in die Bereitschaft zum Töten der Artgenossen transformiert hatte und damit auch für seine Mitmenschen zum "gefährlichsten aller Tiere" geworden war (David Livingstone Smith), war der Mensch in eine Grundkonstellation der Feindschaft zwischen Eigen- und Fremdgruppe geworfen, die zwar insofern ambivalent war, als sie in Bezug auf das Binnenklima der jeweils eigenen Gruppe positive Auswirkungen hatte und gewissermaßen als Wiege des menschlichen Altruismus, der menschlichen Hilfsbereitschaft und Liebesfähigkeit fungierte, in Bezug auf die Fremdgruppen aber von Misstrauen, aggressiver Gewalt und instrumenteller Grausamkeit gekennzeichnet war. Im Außenverhältnis konnte zum Beispiel Kannibalismus hilfreich sein, um das eigene Selbstbewusstsein zu stärken, sich die Güter des Getöteten anzueignen und die Versorgung mit den in manchen Weltgegenden eher knappen Proteinen aufzubessern. Es war auch durchaus funktional, möglichst grausam vorzugehen, um eine erhöhte Abschreckungswirkung zu erzielen. Indem man also selbst angriff, vermied man das Risiko, von einer Attacke überrascht zu werden, und indem man (vermeintliche) Feinde möglichst grausam tötete, verschaffte man sich in einer verängstigten Umwelt jedenfalls für eine gewisse Zeit den nötigen Respekt.

Allerdings ist die Bedeutung des Tötens von Artgenossen seit tausenden von Jahren rückläufig. Das hat mit der zunehmenden Bevölkerungsdichte zu tun, mit Hochkulturen und Verwaltungsapparaten, mit Urbanisierungsschüben und veränderten Wertorientierungen ("Aufklärung"), die allesamt einen flexibleren, auf langfristige Folgen achtenden Interaktionsstil erforderten, die Nützlichkeit instrumenteller Grausamkeit relativierten und damit auch faktisch in den Hintergrund drängten. Das Risiko, sein Leben als Opfer einer vorsätzlichen Tötung durch andere Menschen zu beenden, ist deshalb heute (global gesehen) so gering wie noch nie in der Geschichte der Menschheit.

Dementsprechend verengt sich auch der Bereich der sozial erwünschten Tötungen. Zwar gibt es noch die Tötung in militärischen Auseinandersetzungen, zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung sowie vielerorts die Tötung als Form der Kriminalstrafe, doch wird die Legitimität des (zumal grausamen) Tötens langfristig gesehen immer häufiger in Frage gestellt. Ein diskurstaktischer Ausdruck dieser Infragestellung ist die Bezeichnung erlaubter Tötungen mit dem negativen Begriff des Mordes, der nach den Regeln der noch herrschenden (gespaltenen) Tötungsethik in diesem Bereich eigentlich nichts verloren hätte. Wer Soldaten als "Mörder", Abtreibungen als "Mord an Ungeborenen", die Todesstrafe als "staatlichen Mord" und die Ereignisse in Schlachthäusern als "Mord an Tieren" bezeichnet, wirft mit dem als Provokation gemeinten Versuch eines Stigma-Transfers ganz absichtlich ein Licht auf die meist blind befolgte Sitte, nur das egoistisch motivierte Töten (das die Interessen der eigenen Gruppe verletzt) mit dem Stigma des Mordes zu belegen, das (altruistische) Töten hingegen, das im Interesse des Kollektivs erfolgt, von derartigen Bewertungen auszunehmen. Noch freilich gilt die weitgehend als heuchlerisch empfundene Doppelmoral, die einerseits ein ausnahmsloses und nicht-relativierbares Tötungsverbot als Teil des Respekts vor der Menschenwürde postuliert, andererseits aber für die Interessen des Staates eine ganze Reihe von gegenläufigen Lizenzen zum Töten bereithält. So kann denn das Töten für den Täter auch heute noch ganz verschiedene Folgen haben: es kann Existenzen ruinieren oder Geld, Anerkennung, Ruhm und Ehre bringen - eben je nachdem.

Auch innerhalb der unerwünschten Tötungen gibt es aber Abstufungen. Wer im Affekt handelt oder wer einen anderen Menschen verletzt und dabei fahrlässig dessen Tod verursacht, wird sozial und rechtlich anders angesehen als ein kaltblütiger Auftragskiller. Derlei Unterscheidungen sind in allen Epochen und Kulturen gang und gäbe. Meist wird versucht, die Spitzengruppe der verwerflichsten Tötungen durch die Merkmale der bösen Absicht und der vorangehenden Überlegung (griech.: ek pronoia = mit Vorbedacht; bouleusis = Planung; engl.: malice aforethought, premeditation) zu bestimmen. Zwar gilt in Deutschland ein Gesetz aus dem Jahre 1941 (!), das in Abweichung von international Üblichen (und in Anlehnung an die nationalsozialistische Lehre von den Tätertypen) erklärt: "Mörder ist, wer aus Mordlust, zur Befriedigung des Geschlechtstriebes, aus Habgier oder sonst aus niedrigen Beweggründen, heimtückisch oder grausam oder mit gemeingefährlichen Mitteln oder um eine Straftat zu ermöglichen oder zu verdecken, einen Menschen tötet", doch sind die Unterschiede in der Rechtspraxis dann doch nicht so groß. Mord wird typischerweise bei der zurechenbaren egoistisch motivierten Tötung eines anderen Menschen angenommen, die nicht auf einem kurzfristigen Affekt, einer psychischen Krankheit, emotionalen Überforderungen o.ä. beruht, sondern auf kühler Planung und böser Absicht. Ein Mann überfällt eine Bank und erschießt Angestellte, um das Risiko der Betätigung von Alarmanlagen auszuschalten. Eine Frau inszeniert einen tödlichen Unfall des Ehemanns, um an die Lebensversicherungssumme zu gelangen. Dass jemand bei der Verfolgung seiner Interessen auf diese Weise über Leichen geht, ist mit den elementaren Voraussetzungen für ein einigermaßen gedeihliches Zusammenleben nicht zu vereinbaren. Das amerikanische FBI, das davon ausgeht, dass es im Grunde genommen nur vier Gruppen von Tatmotiven für einen Mord gibt, nennt diese Art von Tötungsdelikt aufgrund eines Bereicherungsmotivs den Criminal Enterprise Murder. Es geht dem Akteur um die Erhaltung oder die Vermehrung von persönlichen Vorteilslagen (einschließlich der Verdeckung eines vorher begangenen Delikts; Filmbeispiel: "Frau ohne Gewissen" von Billy Wilder, 1944).

Taten aus zwischenmenschlichen Beziehungen (Personal Cause Murders) umfassen innerfamiliäre Gewalt, Tötung von Stalking-Opfern, Delikte aus Rache oder ideologischem Hass ebenso wie die Tötung von Vorgesetzten oder aber von schwerkranken Patienten durch Pflegepersonal. Ein tragisches Moment weist oft auch das von Wilfried Rasch (1995: 95 f.) beschriebene Muster der Tötung des Intimpartners auf, wenn der schwache und gehemmte, "klammernde" und von Verlassensängsten geplagte spätere Täter in einer Phase spannungsreicher Labilität abwechselnd an Suizid, an die Tötung des Partners und einen gemeinsamen Tod denkt: "Verzweiflung wird abgelöst von Hoffnung, um erneut tiefer Verzweiflung zu weichen (...) In einer 'letzten Aussprache' erfolgt schließlich die Tat überraschend für das Opfer, aber auch allzuoft unerwartet für den Täter selbst."

Besonders beunruhigend sind Taten mit sexuellem Hintergrund (Sexual Homicide). Die entweder zur sexuellen Stimulierung ("Lustmord") oder zur Verdeckung eines vorangegangenen Sexualdelikts begangene Tötung wehrloser Opfer kann für manche Menschen zum beherrschenden Thema ihrer Existenz werden ("Triebtäter", "Serienkiller"); man denke an Jeffrey Dahmer, der die Köpfe seiner noch lebenden Opfer aufbohrte und mit Säure füllte, um sie zu willenlosen Sex-Sklaven zu machen machen, an Jack Unterweger, der junge Frauen mit dem Draht ihres Büstenhalters oder mit ihrer zu einem Henkersknoten gebundenen Unterwäsche qualvoll strangulierte oder einen Jürgen Bartsch, der seine kindlichen Opfer in einen höhlenartigen Bunker führte, wo er sie zwang sich zu entkleiden, sexuelle Handlungen an ihnen vornahm und sie dann bei vollem Bewusstsein zerstückelte. Der gut dokumentierte Fall Bartsch zeigt im übrigen, dass der Monstrosität der Taten keineswegs auf eine Größe des Bösen in der Täterpersönlichkeit zurückzugehen pflegt. Im Gegenteil: kaum etwas könnte weiter weg sein von intuitiv assoziierten Inbegriff des Bösen als jenes Häuflein Elend, das mit der Ermordung völlig verängstigter, wehrlos-gefügiger Kinder einem unbegriffenen Zwang folgt, seinen eigenen Leidensweg als Kind spiegelverkehrt noch einmal (und immer wieder neu) zu inszenieren.

Den bemerkenswerten Einfluss situativer Faktoren auf das menschliche Verhalten unterstreichen Morde, zu denen kein einziges Gruppenmitglied allein in der Lage gewesen wäre, zu denen es aber im Laufe eines dynamischen Gruppenprozesses dennoch kommt. Beispiele für diesen Group Cause Homicide finden sich überall dort, wo eine Gruppe einen "Sündenbock" ums Leben bringt - man denke an William Goldings Roman "Herr der Fliegen" (1954) oder an den von Andres Veiel beschriebenen Fall in seinem Buch "Der Kick" (2007).

Die Gemeinsamkeit dieser vier klassischen Motiv-Konstellationen liegt in der gleichsam horizontalen Ebene der Konflikte: es handelt sich um Probleme im Verhältnis von Individuum und Gesellschaft. Das Individuum kann oder will sich den Erwartungen des Kollektivs nicht beugen, das Kollektiv will oder kann sich mit dem Individuum nicht arrangieren; das Individuum begeht eine verwerfliche Tötung zu Lasten des Kollektivs oder das Kollektiv begeht eine verwerfliche Tötung zu Lasten des Individuums. Es handelt sich um Mord als Abweichung: Tötungsdelikte, in denen sich ein Individuum gegen seine Bezugspersonen oder mutmaßliche Quellen der Frustration und Erniedrigung wie vielleicht Schulen, Ämter oder Geldinstitute stellt, werden häufig aus Situationen emotionaler Unterlegenheit oder (sonstiger) Überforderung in verschiedenen Lebensbereichen heraus begangen. Anders herum sind auch die gruppendynamisch generierten ungesetzliche Tötungen von Abweichlern durch das Kollektiv erhebliche Abweichungen vom Erwartungsfahrplan der Gesellschaft und stellen damit ebenfalls seit jeher einen legitimen Gegenstand kriminologischer Theorien dar.

Allerdings gibt es Situationen, in denen sich Menschen gleichzeitig den normativen Anforderungen unterschiedlicher Kulturkreise ausgesetzt sehen können. Dabei kann eine Tötung eventuell von der einen Kultur erwünscht, von der anderen aber verboten sein. In dieser Situation ist es mit der Diagnose der "sozialen Abweichung" jedenfalls dann nicht getan, wenn einem Delikt ein Gruppenprozess zugrunde liegt, der selbst normativ strukturiert ist und innerhalb eines größeren Kollektivs durch Legitimitätsglauben gestützt wird. Dann ist die Handlung zwar aus der Sicht der Hauptkultur und ihrer Rechtsordnung "abweichend", nicht aber aus der Sicht der Täter selbst. Ein solcher Fall liegt häufig dem Tatmuster Ehrenmord zugrunde (Sellin 1938). Nach den kulturell verankerten Familien-Normen ist die Tat eine moralische Pflicht; für die anders orientierte Justiz der Hauptkultur ist ein Ehrenmord jedenfalls dann, wenn die Tatausführung besonders grausam war (z.B. minutenlanges Einschlagen und Eintreten auf das Opfer, gefolgt von mehr als einem Dutzend Messerstichen und Verblutenlassen), gleichwohl Mord - und dies, obwohl die Tat kein antisoziales Verhalten im Sinne des Ungehorsams gegenüber sozialen Normen im Allgemeinen darstellt, sondern einen Fall des Autoritäts- und Gehorsamskonflikts: die Befolgung des einen Normensystems bedingt die Verletzung des anderen und umgekehrt.

Andere Mord-Konstellationen gehen auf Konflikte zwischen "Oben" und "Unten", zwischen Herrschenden und Beherrschten, zurück: man denke an politische Attentate von unten nach oben einerseits und an politische Repressionen von oben nach unten andererseits. Gerade die letztgenannten Handlungsmuster (von extralegalen Hinrichtungen über das Verschwindenlassen bis hin zum Massenmord an Oppositionellen und zum Genozid), die auf staatliche Veranlassung erfolgen, waren der Aufmerksamkeit der Kriminologie die meiste Zeit entgangen. Dabei zwingen gerade sie zur Korrektur überkommener Vorstellungen vom Mord. Die sog. positive Schule der Kriminologie hatte noch an den "geborenen Verbrecher" geglaubt, der sich vom "normalen Menschen" grundlegend unterscheide. Nach Cesare Lombroso (1836–1909) sollten zum Beispiel Vergewaltiger fast immer ein funkelndes Auge haben, dazu ein "feines Gesicht, schwellende Lippen und Brauen, aber einen starken Unterkiefer" - Mörder hingegen hätten "einen glasigen, eisigen, starren Blick, ihr Auge ist bisweilen blutunterlaufen. Die Nase ist groß, oft eine Adler- oder vielmehr Habichtsnase; die Kiefer starkknochig, die Ohren lang, die Wangen breit, die Haare gekräuselt, voll und dunkel, der Bart oft spärlich; die Lippen dünn, die Eckzähne groß. Nystagmus ist häufig, auch einseitiges Gesichtszucken, wobei sie die Eckzähne zeigen, gleichsam grinsend oder drohend" (Lombroso 1894: 229 ff.). Staatlich organisierte Morde benötigen hingegen gerade nicht Täter mit irgendwelchen Anomalien, sondern gerade solche ohne soziale Anpassungsschwierigkeiten. Und das Verblüffende an solchen Phänomenen der Makrokriminalität ist gerade die "Normalität" der Täter, ihre Disziplin, ihr Pflichtbewusstsein und ihre Gehorsamsbereitschaft gegenüber Autorität. Die Angehörigen des Hamburger Polizeibataillons 101 waren weder sozial unangepasst noch sonst irgendwie "anders". Sie waren "ganz normale Männer", die nur ihre Pflicht gegenüber ihren Kameraden, ihren Vorgesetzten, ihrem Führer und ihrem Volk erfüllen wollten und dabei die schrecklichsten Morde verübten (Browning 1999). Ihre Verbrechen waren gerade kein abweichendes, sondern konformes Verhalten, nicht "crimes of deviance", sondern "crimes of obedience". Dabei stand die Gehorsamsbereitschaft gegenüber Autoritäten im Vordergrund - mit der ganzen "Banalität des Bösen", die auch in diesem Fall jede intuitive Erwartung enttäuschte, dass der überdimensionierten Grausamkeit der Taten eine ebensolche Monstrosität der Motivation entsprechen müsse (vgl. Arendt 1986, Milgram 1974; Sykes & Matza 1968).

Gemordet werden kann also (in der Terminologie Max Webers) sowohl 1. zweckrational zwecks bestmöglicher Erreichung eines Ziels, bzw. einer Problemlösung (z.B. Lösung eines Liquiditätsproblems durch einen groß angelegten Versicherungsbetrug) als auch 2. wertrational als Dienst an der eigenen Überzeugung ("Ich musste es einfach tun, es war eine Gewissenspflicht"), 3. affektuell als Reaktion auf eine momentane Gefühlslage ("Es ist dann einfach mit mir durchgegangen ...") oder 4. traditionell in Befolgung einer regelhaften Gewohnheit ("Wir sind dann später jeden Tag von neuem ausgezogen, um unsere Arbeit - das Töten - fortzusetzen ... nach dem Sinn oder Zweck haben wir schon gar nicht mehr gefragt").

Die Abwesenheit starker und effektiver natürlicher Tötungshemmungen beim Menschen wird in der gesellschaftlichen Realität üblicherweise durch die Erziehung zur Selbstkontrolle und durch soziale Bindungen unterschiedlicher Art substituiert (Hirschi 1969; Gottfredson & Hirschi 1992). Je stärker diese sozialen Bindungen an die "richtigen" Personen, Werte und Normen ausgeprägt sind, desto geringer das Risiko, dass ein Mensch vorsätzliche eine böse Tat im Allgemeinen oder einen Mord im Besonderen begeht. Zu diesen social bonds zählen 1. eine enge emotionale Bindung an (rechtschaffene) Eltern und andere Bezugspersonen (attachment), 2. die Existenz starker konventioneller Verpflichtungen, die vor Abweichung bewahren (commitment), 3. das Eingebundensein in legale Aktivitäten und Engagements im sozialen Leben (involvement) und 4. die Existenz von konventionellen Wertorientierungen und Glaubensüberzeugungen (belief), die dabei helfen, eine Person vor der Identifikation mit Subkulturen der Gewalt zu bewahren.

Dieselben Bindungen können allerdings fatale Auswirkungen haben, wenn das, woran man sich gebunden fühlt, die Begehung von Gewaltdelikten nicht hemmt, sondern fördert. Dann kann gerade der Mensch mit vielen sozialen Bindungen (das "social animal") zum Täter von Handlungen werden, die ansonsten typischerweise nur von Personen mit reduzierter sozialer Kompetenz begangen werden. Wo die soziale Umwelt vom gut integrierten Individuum die Begehung von Straftaten erwartet, lässt sich die innere Kontrollinstanz des Gewissens durch Manipulationen normativer Bewußtseinsinhalte überwinden. Wo die von Sykes und Matza (1968) beschriebenen Neutralisationstechniken die offiziellen Diskurse dominieren, da schaffen sie im moralischen Universum des prospektiven Täters eine verführerische Definition der Situation, der zufolge gleichsam "alles in Ordnung" ist. Die von ihm erwartete Tötungshandlung erscheint ihm "erforderlich", "leider unausweichlich", "heldenhaft" oder doch zumindest als kompatibel mit den eigenen wie mit den öffentlichen moralischen Standards. Im Hinblick auf individuelle Morde wurde dieser interne Legitimationsprozess auf überzeugende Art von Jack Katz (1988) beschrieben, im Hinblick auf religiös motivierte Terroristen von Mark Juergensmeyer (2004) und auf Kriegsverbrechen deutscher Soldaten im Zweiten Weltkrieg von Sönke Neitzel und Harald Welzer (2012). Unter solchen Umweltbedingungen ist dann die psychische Belastung für den Täter im Allgemeinen nicht größer als bei einer anderen sozial akzeptierten Form der Tötung (z.B. in Notwehr oder im Rahmen eines Verteidigungskrieges o.ä.), wo die Überwindung erster Hemmungen zwar auch erforderlich, aber sozial unterstützt, ethisch gleichsam geadelt und damit auch für jeden Einzelnen leichter zu bewältigen ist. Ist die Bereitschaft zur Tat gegeben, dann bedarf es noch der objektiven Möglichkeit und des letzten Entschlusses zur unmittelbaren Durchführung der Tat selbst.

Eine generell erhöhte Bereitschaft zur Anwendung (tödlicher) Gewalt findet sich auch in anomischen Gesellschaften, in denen vor dem Hintergrund tiefer Gräben zwischen Bevölkerungsgruppen und Lebensweisen sowohl das Zusammengehörigkeitsgefühl als auch das Rechtsbewusstsein nur schwach ausgeprägt sind (Durkheim 1983, Merton 1938, Messner/Rosenfeld 2012). Wenn zu vermehrten Gewalt-Gelegenheiten noch die Unfähigkeit des Staates kommt, den Bürgern Schutz vor Gewalt zu gewähren, dann wird die Bevölkerung gleichsam genötigt, sich zum Selbst-Schutz der Gewalt zu bedienen. Mit einem hohen Gewaltniveau geht eine hohe Mordrate jedenfalls dann einher, wenn in den Strukturen selbst gewisse Anreize für instrumentelle Grausamkeit angelegt sind oder aber eine Tendenz zum Ausleben von sinnlicher Lust am Töten befördern.

Kleine und große Gewaltkollektive sind umso üblicher, je häufiger ihre Mitglieder nur über schwache soziale Bindungen zu gewalthemmenden Akteuren und Ideologien verfügen und desto stärker sie Gewalt-Gelegenheiten ausgesetzt und an gewaltaffine Bezugsgruppen gebunden sind. Zu unterscheiden sind (bei fließenden Übergängen): 1. Anomische Gruppen von (jungen) Menschen mit wenig Selbstkontrolle, oftmals geringem Bildungsgrad und geringer sozialer Integration, bei denen Langeweile und die Suche nach einem gewissen Erregungsniveau - auch durch körperliche Gewalt - oft eine große Rolle spielen. Ein ebenso bewunderter wie gefürchteter informeller Anführer ist in der Lage, auch an sich unaggressive Trabanten in eine mörderische Gewalteskalation zu involvieren, hinter der wenig anderes als die (oft alkoholisierte) Suche nach diesem besonderen Kick steht. Die Milieus, in denen sich solche Gruppen bilden, sind häufig solche der "doppelten Verlierer", die auch in regulären Subkulturen keinen Anschluss finden und sich am Rande des Randes einer Gesellschaft im wahrsten Sinne des Wortes durchschlagen. Wenn die Beteiligten nach den ersten größeren Gewaltaktionen vor Gericht kommen, hören die jeweiligen Gruppen in der Regel auf zu existieren. Wo aber nennenswerte Teile der Bevölkerung von sozio-ökonomischen Teilhabechancen ausgeschlossen bleiben, wo also eine kritische Masse von Menschen in ähnlich prekären Lebenslagen entsteht, können sich auch überdauernde Milieus herauskristallisieren. Es kommt zu 2. Sub- und Teilkulturen der Gewalt, in denen Mutproben und Gewaltorgien in Diskurs und Praxis fetischisiert werden und eine zentrale Rolle beim Statuserwerb und -verlust einnehmen (Wolfgang/Ferracutti 1967). 3. Organisierte Gruppen, bei denen es primär um ökonomischen Erfolg auf illegalen Märkten geht, spielen Gewalt im Allgemeinen und Mord im Besonderen eine eher untergeordnete Rolle als unabdingbares Mittel zum Zweck: Bedrohungen müssen abgewehrt, Spitzel liquidert, Probleme gelöst werden. Gewalt ersetzt in den Fällen, in denen nicht einmal Korruption ihn öffnen kann, den versperrten Zugang zu staatlichen Institutionen. 4. In Sub- und Teilkulturen der Ehre erfüllt die tödliche Gewalt ebenfalls eine dienende Funktion. Beim Ehrenmord und beim Mord an sündhaften Mitgliedern strenger Religionsgemeinschaften - sowie dort, wo zum Beispiel polizeiliche oder militärische Sondereinheiten mörderische Aktionen durchführen - werden Häufigkeit und Leichtigkeit des Mordens durch das Bewusstsein der Pflichterfüllung gegenüber Befehlen und höheren Werten erleichtert. 5. In Gewaltkulturen, also Gesellschaften mit einer langen Tradition (Kontinuität) von Gewalt, die sich über alle Bereiche der Gesellschaft erstreckt (Ubiquität), in denen statt eines staatlichen Gewaltmonopols eine Vielfalt von Gewaltakteuren bestimmt (Pluralität) und in denen illegale Gewalt aller Art als normal angesehen wird (Normalität), da stärkt die Faktizität der Gewalt ihrerseits deren normative Akzeptanz (Legitimität). In einer Gewaltkultur gräbt sich die Gewalt auf diese Weise tief in die Strukturen von Staat und Gesellschaft ein und wird zu einem Alltagsphänomen wie andere auch. Wo ein demokratischer Rechtsstaat mit einer Gewaltkultur koexisiert, bilden Justiz und Polizei die systemische Schnittstelle. Deren "Dysfunktionalität" im Sinne rechtsstaatlichen Handelns und juridischer Aufarbeitung staatlicher sowie nicht-staatlicher Morde sorgt dafür, dass Menschenrechtsverletzungen und andere Verbrechen keine spürbaren Folgen für die Täter haben. Die Straflosigkeit garantiert dann der Gewalt über Jahrzehnte hinweg ihre Rolle als effektivstes Konfliktlösungsinstrument und als bevorzugtes Mittel zur Durchsetzung von Partikularinteressen auf allen Ebenen, zumal die Abwesenheit staatlichen Schutzes vor Gewalt die Bevölkerung zur gewaltförmigen Selbstorganisation geradezu nötigt. Wo solche Strukturen die Bildung kleiner und großer Gewaltgruppen erleichtern und wirksame Eindämmungsmöglichkeiten fehlen, sind - wie gegenwärtig in Mittelamerika - die weltweit höchsten Homizidraten zu verzeichnen. 6. Gewaltsysteme, in denen der Staat das Gewaltmonopol nicht rechtsstaatlich kanalisiert, sondern seine eigenen Institutionen nach Gutdünken gewaltförmige Maßnahmen aller Art gegen Feinde, Verdächtige und andere Unerwünschte treffen lässt, sind immer Brutstätten des Massenmords. Der Staat kann aufgrund seiner überlegenen Ressourcen materieller und ideologischer Art mit größter Leichtigkeit unzählige Menschen zu Mördern machen und Makrokriminalität bis hin zum Völkermord organisieren.

Literatur

  • Arendt, Hannah (1986) Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen. München: Piper.
  • Browning, Christopher R. (1999) Ganz normale Männer. Das Reserve-Polizeibataillon 101 und die 'Endlösung' in Polen. Reinbek: rororo.
  • Buss, David (2008) Der Mörder in uns. Warum wir zum Töten programmiert sind. 2. Auflage. Heidelberg (Spektrum Akademischer Verlag) ISBN 978-3-8274-2083-1; Original: The Murderer Next Door. Why the Mind is designed to kill; New York (Penguin Press) 2005, ISBN 1-59420-043-2.
  • Durkheim, Émile (1968) Kriminalität als normales Phänomen. In: König, R. / Sack, F.: Kriminalsoziologie. Frankfurt am Main, S. 3-8.
  • Eisner, Manuel (2011) Violence in Evolutionary and Historical Perspective. Special Issue of British Journal of Criminology, 51(4) (Co-ordinator and editor).
  • Gerlach, Christian (2011) Extrem gewalttätige Gesellschaften. Massengewalt im 20.Jahrhundert. München: DVA.
  • Golding, William (1954) Der Herr der Fliegen.
  • Helbling, Jürg (2006) Tribale Kriege: Konflikte in Gesellschaften ohne Zentralgewalt. Frankfurt: Campus.
  • Juergensmeyer, Mark (2004) Terror im Namen Gottes. Freiburg: Herder.
  • Katz, Jack (1988) Seductions of Crime. Moral and sensual attractions in doing evil. New York: Basic Books.
  • Lombroso, Cesare (1894) Der Verbrecher in anthropologischer, ärztlicher und juristischer Beziehung, übersetzt von M.O. Fraenkel, Erster Band. Hamburg: Richter.
  • Messner, Steven F. & Richard Rosenfeld (2012) Crime and the American Dream. Belmont, Ca.: Wadsworth Publishing.
  • Merton, Robert K. (1938) Social Structure and Anomie. American Sociological Review (1938) 672-682.
  • Milgram, Stanley (1974) Das Milgram-Experiment. Zur Gehorsamsbereitschaft gegenüber Autorität. Reinbek: Rowohlt.
  • Neitzel, Sönke & Harald Welzer. Soldaten. Protokolle vom Kämpfen, Töten und Sterben. Frankfurt a.M.: Fischer.
  • Pinker, Steven (2011) Gewalt. Eine neue Geschichte der Menschheit. A. d. Engl. v. Sebastian Vogel. S. Fischer, Frankfurt/M.
  • Rasch, Wilfried (1995) Tötung des Intimpartners. Bonn: Psychiatrie-Verlag (reprint des Orginals von 1964).
  • Sellin, Thorsten (1938) Culture Conflict and Crime, New York.
  • Sykes, Gresham M., David Matza (1968). Techniken der Neutralisierung. Eine Theorie der Delinquenz. In: Fritz Sack, René König: Kriminalsoziologie. Frankfurt/M.: Akademische Verlagsgesellschaft, S. 360–371.
  • Veiel, Andres (2007) Der Kick: Ein Lehrstück über Gewalt: München, Deutsche Verlags-Anstalt (DVA).
  • Waldmann, Peter (2005) Gibt es in Kolumbien eine Gewaltkultur?
  • Waldmann, Peter (2002) Der anomische Staat: Über Recht, öffentliche Sicherheit und Alltag in Lateinamerika. Opladen: Leske + Budrich.
  • Welzer, Harald (2005) Täter: Wie aus ganz normalen Menschen Massenmörder werden: Frankfurt am Main: S. Fischer.
  • Wolfgang Ferracutti (1967) ...


Siehe auch: Handbook, Handbook2, Handbook3, Handbook4