Mord (Version 2)

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Mord als Sonderfall des Tötens

Was den Mord angeht, so kann man sich als Grundregel merken: nur Menschen können morden. Erdbeben und Überschwemmungen können vieltausendfach pflanzliches, tierisches und menschliches Leben vernichten, aber nicht ermorden. Katzen bringen Vögel und Mäuse um, aber sie ermorden sie nicht. Jemanden ermorden zu können, ist sozusagen ein Monopol - ein negatives Privileg - einer einzigen, nämlich unserer eigenen Spezies: das Subjekt des Mordens ist der Mensch. Das heißt nicht, dass Menschen immer morden, wenn sie töten. Der Mensch tötet weitaus mehr, als dass er mordet: er tötet pflanzliches Leben schon beim Unkrautjäten im Balkonkasten und er tötet tierisches Leben schon bei der Bekämpfung von Mücken, Motten und Silberfischen. Dass er das zielgerichtet, planvoll und mit voller Absicht tut, macht aus dem Töten noch keinen Mord. Das gilt auch für die Tötung von jährlich 25 Millionen Tieren für die Pelzindustrie, von mehreren Milliarden Hühnern und rund 360 Millionen Schweinen, Schafen, Ziegen und Rindern für die Fleischerzeugung allein in der Europäischen Union (European Commission 2008). Nicht alles, was lebt, kommt als Objekt eines Mordes in Frage. Es muss schon "jemand" sein. Mit anderen Worten: jeder Mord erfordert mindestens einen Menschen als Subjekt und mindestens einen Menschen als Objekt einer Tötung.

Es gibt (seltene) Ausnahmen von dieser Regel. Man denke an Mordprozesse gegen Tiere oder an den Diskurs über Folter und Mord an Menschenaffen (Fischer 2005, Cavalieri & Singer 1994). Diese Ausnahmen zeigen zweierlei. Erstens, dass der Mord als soziale Tatsache nicht durch das Mensch-Sein von Täter und Opfer definiert ist, sondern letztlich nur durch die außerordentliche Verwerflichkeit, die einer Tötung zugeschrieben wird; die Menschen-Eigenschaft von Täter (= schuldfähiges Subjekt) und Opfer (= verbotenes Objekt der Tötung) gilt normalerweise als Voraussetzung dafür, eine Tötung als besonders empörend zu qualifizieren, doch können ausnahmsweise eben auch Tier-Mensch- oder Mensch-Tier-Tötungen ebenso starke Reaktionen auslösen wie kaltblütige Tötungen unter Menschen. Zweitens belegt die zunehmende Plausibilität der Ansicht, dass auch Tiere - und insbesondere die sog. Menschenaffen - Opfer von Folter und Mord sein können, die weitere Selbstrelativierung des Menschen im historischen Prozess und die damit zusammenhängende allgemeinere "Tendenz zur Inklusion" (Hess 2011).

Andererseits ist aber auch nicht jede Tötung eines Menschen durch einen Menschen ein Mord. Man denke an die Einnahme feindlicher Stellungen im Krieg, an die Vollstreckung von Todesstrafen, an die Tötung in Notwehr oder an den tödlichen Schuss auf einen Bankräuber zur Rettung von Geiseln. Man denke an fahrlässige Tötungen, an die Tötung auf Verlangen, an Abtreibungen oder Taten im Affekt. Man denke schließlich an vorsätzliche, rechtswidrige und schuldhaft begangene Tötungen, die vom Gesetz und von den Gerichten wie auch von der öffentlichen Meinung als Totschlags- und nicht als Mord-Fälle angesehen werden. Die Funktion der Kategorie des Mordes besteht darin, eine Grenze zu ziehen zwischen den Tötungen, die der Mensch an Artgenossen vornimmt, und die noch irgendwie als innerhalb der Gesellschaft angesehen werden (können und sollen) - und jenen, die von einer Grausamkeit und Gefährlichkeit sind, die ganz fundamentale Fragen der Existenz und des Wesens des Menschen, Gottes und des Bösen aufwerfen ("Wie kann ein Mensch zu einer solchen Tat in der Lage sein? Was muss das für ein Gott sein, der so etwas zulässt?"). Welche Eigenschaften eine Tat aufweisen muss, um der Extremkategorie dieser besonders verabscheuungswürdigen und kaum oder gar nicht nachvollziehbaren Mord-Taten zugeordnet zu werden, wird von jeder Epoche und jeder Rechtskultur anders beantwortet: was sie aber alle zu einen scheint ist die Überzeugung, dass die Existenz einer solchen Kategorie zur Benennung des Aller-Abscheulichsten, was der Mensch dem Menschen antun kann, in der Sprache und in der Verknüpfung solcher Fälle mit besonderen Rechtsfolgen einen klaren Ausdruck finden muss.

Die allgemeine Bedeutung der Definition des Mordes für jede Gesellschaft zeigt sich auch daran, dass der gesetzlich fixierte Mordbegriff zu jeder Zeit mit sozialen Anschauungen und Forderungen konkurriert. So kommt es, dass in der Realität zu jeder Zeit mehreres als Mord bezeichnet wird, nämlich jeweils das, was:

  1. im Gesetz abstrakt-generell als Mord definiert ist (abstrakte Gesetzes-Definition)
  2. soziale Gruppen als Mord geächtet wissen wollen (abstrakte Sozial-Definition)
  3. staatliche Institutionen offiziell als Mord registrieren (formelle Real-Definition)
  4. Historiker, Journalisten, Kriminologen und andere informell unter die gesetzliche Definition subsumieren (informelle Real-Definition).


1. Gesetzliche Definitionen. Die westliche Tradition ordnet grundsätzlich all jene Tötungen der Kategorie des Mordes (oder seiner begrifflichen Äquivalente) zu, die außerhalb des gesetzlichen Rahmens mit Vorbedacht (im griechischen Altertum: ek pronoia) und Planung (bouleusis) begangen wurden. Das deutsche Recht schlug 1941 einen bis heute nicht verlassenen Sonderweg ein, indem es die Abgrenzung nicht mehr nach dem Merkmal der Überlegung vornahm, sondern eine typisierende Bewertung von Tatmotiven, Tatumständen und Tatzielen vornahm. Seither beschreibt das Gesetz auch nicht mehr die Tat des Mordes, sondern den Täter, indem es in § 211 des Strafgesetzbuchs formuliert: "Mörder ist, wer aus Mordlust, zur Befriedigung des Geschlechtstriebes, aus Habgier oder sonst aus niedrigen Beweggründen, heimtückisch oder grausam oder mit gemeingefährlichen Mitteln oder um eine Straftat zu ermöglichen oder zu verdecken, einen Menschen tötet." Aus der nationalsozialistischen Formulierung "Der Mörder wird mit dem Tode bestraft" wurde inzwischen: "Der Mörder wird mit lebenslanger Freiheitsstrafe bestraft." Das deutsche Strafrecht weist dem Mord also eine dreifache Sonderstellung zu: erstens durch die Rede vom "Mörder" inmitten eines sonst nur Handlungen beschreibenden Tatstrafrechts, zweitens durch die Abweichung von der durchgängigen Praxis des Gesetzgebers, keine Punktstrafe vorzuschreiben, sondern einen gerichtlich auszufüllenden Strafrahmen anzugeben und drittens durch die Ausnahmevorschrift (seit 1979), dass Mord - anders als alle anderen Straftaten - keiner Verjährung unterliegt.

2. Gesellschaftliche Definitionen. Verschiedene Anschauungen können Aufschluss geben über divergierende Überzeugungen sozialer Schichten und Milieus ebenso wie über Tendenzen des Wertewandels. Die einen prangern Abtreibungen als "Massenmord an ungeborenen Kindern" an, die anderen bezeichnen das Treiben in Schlachthöfen als "Mord an Tieren" (vgl. dazu Hoerster 2007). Hinter derlei "Streit um Worte" steht meist ein handfester sozialer Konflikt darum, welcher Teil der Bevölkerung seine Wertorientierung im Gesetzestext festschreiben und damit allgemein verbindlich machen darf. Eine selbstbewusste Zivilgesellschaft kämpft zum Beispiel gegen den Obrigkeitsstaat und dessen Parteigänger mit Slogans wie "Soldaten sind Mörder" und kritisiert die Praxis der Hinrichtungen in Staaten, in denen es die Todesstrafe gibt, als "staatlichen Mord". In solchen gesellschaftlichen Morddefinitionen drückt sich nicht nur ein Unbehagen an dem aus, was vielen als pure Heuchelei, bzw. als Doppelmoral einer gespaltenen Tötungsethik erscheint. Sie sind auch die logische Konsequenz eines vergesellschafteten Staatsverständnisses, das diesen als Diener seiner Bürger sieht und ihm also am liebsten die Gesellschaftsmoral des Tötungsverbots oktroyieren würde. All diese Phänomene zeigen, dass es eine Differenz gibt zwischen den herrschenden Überzeugungen, wie sie im positiven Recht verankert sind, und den Werten und Normen gesellschaftlicher Gruppen, Bewegungen oder Subsysteme, aus denen historisch gesehen immer wieder auch rechtlicher Wandel entsteht. Insofern sensibilisieren diese Definitionen nicht nur für ethisch-ideologische Differenzen zwischen Herrschenden und Beherrschten, sondern sie gewähren auch einen Blick auf das, was kommen könnte.

3. Subsumtionen durch Polizei und Justiz. Polizeiliche Kriminalstatistiken vermitteln einen Eindruck von dem Risiko, Opfer einer vorsätzlichen Tötung zu werden. Allerdings findet im Laufe der gerichtlichen Verarbeitung in der Regel eher eine Herabstufung (von Mord zu Totschlag oder Körperverletzung mit Todesfolge) statt. Auch gibt es Länder, in denen Polizeibeamte selbst in zahlreiche Mord- und Totschlagsfälle involviert sind - und in denen diese Taten dann häufig gar nicht in der Statistik auftauchen. Diese Unzulänglichkeiten der polizeilichen Statistik bedeuten nicht, dass die Verurteiltenstatistiken der Justiz zuverlässigere Auskunft über die Wirklichkeit des Mord- und Totschlagsgeschehens gäbe. Dennoch ist das, was Polizei und Justiz als Mord bezeichnen, auch die Konstruktion einer eigenen gesellschaftlichen Wirklichkeit.

4. Subsumtionen durch Dritte. Viele Morde verbleiben im Dunkelfeld. Sie erreichen gar nicht erst die Polizei oder gar die Gerichte. Dennoch werden sie von den Opfern (oder sogar von den Tätern), von Journalisten oder Wissenschaftlern als solche wahrgenommen, beschrieben, bezeichnet und analysiert. Dass es von der Polizei nicht wahrgenommen und deshalb nicht offiziell als Kriminalität bezeichnet wird, macht dieses "rule-breaking behavior“ (Howard S. Becker), bzw. diesen „illégalisme“ (Michel Foucault) nicht weniger real oder weniger verwerflich. Oft sind es die gravierendsten Taten, die im Dunkelfeld verbleiben. Je näher die Täter an der Macht operieren und je brutaler sie sind, desto größer ihr korruptiver und einschüchternder Einfluss und desto größer auch ihre Chance, sich der formellen Definition ihrer Taten als Mord zu entziehen. Wenn zum Beispiel die Opfer eines Massakers gefunden werden und die Funde keinen Zweifel daran lassen, dass hier unbewaffnete Zivilisten grausam zu Tode gebracht wurden, wenn aber die mutmaßlichen Täter längst gestorben oder aus anderen Gründen nicht zu belangen sind, dann können sie in keiner Polizei- oder Verurteiltenstatistik auftauchen - und doch wäre es absurd, die entsprechenden Individuen (man denke an diktatorische Staatsführungen des 20. Jahrhunderts, die nie zur Rechenschaft gezogen werden konnten) aus jeder kriminologischen Betrachtung auszuklammern. Wer vom Mord spricht, ist deshalb gut beraten, seinen Blick auf die Welt nicht dadurch unnötig einzuschränken, dass er sich ausschließlich auf solche Taten und Akteure beschränkt, die von ordentlichen Gerichten rechtskräftig verurteilt wurden. Keine der vier Definitionen hat die Wahrheit gepachtet und keine ist - wenn man sie mit Vorsicht behandelt - als Erkenntnisquelle völlig zu entbehren.

Der evolutionäre Vorteil instrumenteller Grausamkeit

Der Mensch ist nicht nur für seine Umwelt "das gefährlichste aller Tiere" (David Livingstone Smith), er ist, biologisch gesehen, auch durchaus "frei, seine Artgenossen zu töten; die instinktive Hemmung dagegen reicht bei ihm nicht aus" (v. Weizsäcker 1979: 85). Mord und Totschlag gehören zu jeder menschlichen Gesellschaft. Sie sind also im Sinne Émile Durkheims (1968) soziologisch normal. Darüber hinaus glaubt die Forschung heute zweierlei zu wissen.

Erstens, dass der Mensch über einen Erfindungsreichtum sondergleichen verfügt, was die grausame und egoistische Eliminierungen seiner Artgenossen angeht: diese Fähigkeit soll er schon von seinen Vorfahren übernommen haben, für die sich dieses Verhalten im Laufe von rund sechs Millionen Jahren immer wieder als überlebenswichtig erwiesen hatte. Die Angst des Gejagten und der Triumph des Jägers vereinigten sich im "aggressiven Individuum": ein erheblicher evolutionärer Vorteil für den homo erectus und eine gute Basis für den seit rund 200.000 Jahren existierenden anatomisch modernen Menschen. Selbst noch nach der Erfindung des Ackerbaus und der Viehzucht vor rund 12.000 Jahren war die Grausamkeit gegenüber Fremden noch nicht dysfunktional geworden. 95% dieser Zeitspanne verbrachte der Mensch in kleinen Gemeinschaften, die ganz gut ohne Kontakt mit Fremden auskamen und für die zudem der Anblick von Fremden meist nichts Gutes bedeutete. Viele Forscher sehen in der kulturübergreifend feststellbaren Phase des "Fremdelns" bei sieben bis acht Monate alten Kleinkindern ebenso einen ontogenetischen Ausläufer dieses phylogenetischen Erbes wie in der (aus der Angst vor dem Ermordet-Werden stammenden) Fähigkeit des Menschen, sich in die potentiell bösen Absichten Anderer hineinzuversetzen - einer Kunst, die dann von Vorteil ist, wenn es dem Menschen gelingt, die Angst vor dem Anderen in die Bereitschaft zu dessen Tötung zu verwandeln. Die (von Thomas Hobbes eindrucksvoll geschilderte) Logik der wechselseitigen Antizipation böser Absichten befähigt (und nötigt) das um seine Sicherheit besorgte Individuum, dem Risiko eines Angriffs durch eine eigene Attacke zuvorzukommen. Den für die weitere Entwicklung riskanten bellum omnium contra omnes konnte dann - nach Hobbes - nur die Herausbildung einer starken, die Partikulargewalten entwaffnenden Zentralmacht verhindern. In der Aggression gegen Fremde sieht Samuel Bowles (2004) sogar die evolutionäre Wiege menschlicher Liebe, Binnensolidarität und Selbstlosigkeit innerhalb der jeweils eigenen Gruppe. Die zunehmende Bevölkerungsdichte machte Kontakte häufiger, aber nicht aber unbedingt friedlicher. Kopfjäger und Kannibalen genossen den evolutionären Vorteil, durch die Tötung und das Verzehren von Fremden andere Feinde abzuschrecken, den eigenen Eiweißbedarf zu decken und zudem das eigene Machtgefühl zu intensivieren. Doch auch jenseits dieser Kulturen war es rational, weil abschreckend, Fremde zu vergewaltigen, zu foltern und/oder zu zerstückeln. Die Grausamkeit war zweckorientiert im Hinblick auf das eigene Überlegen und insofern strategisch rational (Helbling 2006).

Zweitens ging das Risiko, sein Leben als Opfer einer vorsätzlichen Gewalttat zu beenden, im Laufe der Jahrtausende geradezu dramatisch zurück (Pinker 2011). Alles in allem ist die Menschheit heute - so kontraintuitiv das angesichts der Massaker der Gegenwart erscheinen mag - sicherer als früher. Vor 10.000, 5.000, 2.000 und auch noch 500 Jahren war das Risiko umgebracht zu werden wesentlich höher. Drei Schübe der Befriedung marginalisierten die Häufigkeit und die moralische Bewertung des Homizids: zuerst die Entstehung von Hochkulturen vor 5.000 Jahren (Rückgang um vier Fünftel), dann der Aufbau von Verwaltungsstrukturen im 13. und 14. Jahrhundert (auf 30-40 Homizidopfer im Jahr pro 100.000 Einwohner) und schließlich die ineinandergreifenden Prozesse der Urbanisierung und der Aufklärung (Eisner 1997). Selbst die Gewaltexzesse des 20. Jahrhunderts mit ihren vielleicht 180 Millionen Toten (White 2011), die dazu führten, dass im Durchschnitt drei von hundert Todesfällen auf eine vorsätzliche Tötung zurückzuführen war, änderten nichts daran, dass der Tod durch Homizid auch im 20. Jahrhundert deutlich seltener war als in allen früheren Epochen. Insofern könnte man heute froh und dankbar sein für die Leistungen der Aufklärung und der Zivilisation. Man kann aber auch verzweifeln über die conditio humana und das schier unvorstellbare Ausmaß menschlicher Grausamkeit im Laufe der Geschichte. Zumal dann, wenn das 21. Jahrhundert mit seiner "Coming Anarchy" (Kaplan 1994) eine neue Tendenz in Richtung auf vermehrte Extremgewalt begründen sollte. An Gesellschaftskrisen und an militärischem, religiösen und politischen Gewaltpotential fehlt es jedenfalls kaum irgendwo auf der Welt (Gerlach 2011). Dass gerade die entwickelten Gesellschaften im frühen 19. Jahrhundert und in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts schwer erklärliche Phasen des Anstiegs des Risikos gewaltsamer Tötungen zu verzeichnen hatten (vgl. Gartner 1990: 92; Gurr 1981), kann sich rückblickend eines Tages jedenfalls durchaus auch als Beginn einer langen Phase der Rebarbarisierung erweisen.

Tötungsdelikte im internationalen Vergleich

Der internationale Vergleich von Kriminalitätsraten ist für seine Fallstricke bekannt. Die unterschiedlichen Definitionen dessen, was Mord im Gegensatz zu anderen Tötungsdelikten ausmacht, sind auch keine Erleichterung. So verzichtet man heute auf den Versuch, Mordraten zu vergleichen und befasst sich lieber mit der viel weiteren Kategorie der vorsätzlichen Tötungsdelikte (Homicide; Homizid). Da sich auch dort Abgrenzungsprobleme ergeben, verschiebt man das Problem zwar nur und verbaut sich zudem die Möglichkeit eines internationalen Vergleichs extremer Formen vorsätzlicher Tötungen, doch werden die Statistiken dadurch nicht völlig wertlos. Den relativ besten Eindruck von den Größenverhältnissen und Entwicklungstendenzen bei vorsätzlichen Tötungsdelikten vermittelt die Global Study on Homicide des Büros Vereinten Nationen zur Drogen- und Verbrechensbekämpfung (UNODC 2011), die ihre Daten aus nationalen und internationalen sowie polizeilichen und medizinischen Quellen schöpfte und dadurch einige der Verzerrungen, die sich aus selektiven Polizeistatistiken ergeben könnten, ausbügeln konnte.

  • Weltweit starben im Jahr 2010 nach der besten verfügbaren Schätzung 468 000 Menschen durch vorsätzliche Tötungsdelikte. Die Homizidrate lag damit im weltweiten Durchschnitt bei 6,9 Tötungsdelikts-Opfern pro 100.000 Einwohnern. Besonders gefährdet: junge Männer (21/100.000).
  • Überhaupt sind Homizide überwiegend Männersache: 80 Prozent aller Täter und aller Opfer sind männlich.
  • Schußwaffen spielen bei 40% aller Taten eine Rolle (in Europa: 21%).
  • Die UNO sieht eine klare Verbindung zwischen Homizidraten und der Kluft zwischen Arm und Reich. In Ländern mit (laut Gini- oder Human Development Index) besonders krassen Unterschieden sind Homizide um ein Vielfaches häufiger als in Ländern mit einer gleichmäßigeren Verteilung des Wohlstands.
  • In armen Ländern mit extremen Einkommensunterschieden, schlechter Regierungsführung und einem hohen Anteil junger Männer an der Gesamtbevölkerung ist die Mord- und Totschlagsrate um ein Mehrfaches höher als anderswo. In solchen Ländern haben Polizei und Militär oft faktisch eine Lizenz zum Töten und sind selbst eher Teil des Problems als von dessen Lösung.
  • Das höchste Mordrisiko (Homizidrate > 30/100.000) besteht in: Honduras (2010: 82/100.000; 2011: 86), El Salvador (2010: 66; 2011: 71), Saint Kitts and Nevis (2010: 38; 2011: 68) und Venezuela (2010: 48; 2011: 67). Es folgen mit großem Abstand Belize, Guatemala und Jamaika (mit jeweils 39/100.000 im Jahre 2011), die Bahamas (36), Kolumbien (33), Südafrika (32; Durchschnitt für ganz Afrika: 17) und die Dominikanische Republik (31). Im Rest der Welt liegt die Homizidrate unter 30.
  • Ein sehr geringes Mordrisiko (Homizidrate < 3/100.000) bestand 2010 in immerhin 40 von 207 Staaten. Dazu gehören Mittel- und Westeuropa (1,5/100.000) sowie Kanada, Australien und Neuseeland, China und Japan und die meisten arabischen Staaten. Soziale Unruhen (wie in Nordafrika) und einzelne Massenmorde (wie das Massaker auf der norwegischen Insel Utoya) verweisen allerdings auf eine hohe Störanfälligkeit des statistischen Friedens.
  • Insgesamt kommt Europa auf eine Rate von 3/100.000. Der globale Durchschnittswert von 6,9 wird von den neuen baltischen EU-Mitgliedsstaaten erreicht. Ansonsten sind Mord und Totschlag in Europa, wo 11% der Weltbevölkerung wohnen, aber (nur) 5% der vorsätzlichen Tötungen geschehen, selten geworden. Österreich und Deutschland oszillieren seit Jahren um eine Homizidrate von etwa 1/100.000.
  • Sogar ohne dramatische gesellschaftliche Verwerfungen können sich die Homizid-Raten innerhalb von ein bis zwei Dekaden erheblich verändern. Zwischen Ende der 1950er und Ende der 1970er Jahre stieg z.B. in entwickelten westlichen Ländern das Risiko, Opfer eines tödlichen Gewaltverbrechens zu werden, um 60%. Andererseits sank dasselbe Risiko in New York City von 1993 bis 2002 um 69% (vgl. Hess 2004).
  • Ausnahmefall Nicaragua: das Land ist arm und liegt in demselben Drogenkorridor von Süd- nach Nordamerika, der die gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen staatlichen und nicht-staatlichen Gruppen und Banden in Ländern wie Honduras und El Salvador befeuert. Dennoch liegt die Homizidrate (13/100.000) hier niedriger als bei den Nachbarn. Die relative Immunität gegen exorbitante Gewalt korreliert hier mit einer besseren Regierungsführung, einer vergleichsweise funktionsfähigen Justiz und einer weniger in feindselige ethnische oder soziale Lager gespaltenen Gesellschaftsstruktur (Logan 2009).
  • Ausnahmefall Brasilien: das Land hat eine hohe Homizidrate (25). Verbesserungen der Lebensverhältnisse und der Polizeiarbeit bewirkten seit 1998 einen Rückgang der Homizide in Rio um zwei Fünftel und Sao Paulo um zwei Drittel. In anderen Bundesstaaten wie etwa Alagoas trafen die aus den Metropolen verdrängten Drogen- und Waffenhändlerbanden auf überkommene Gewaltstrukturen sowie einen illegalen Tropenholzmarkt, schlecht bewachte Grenzen und eine korrupte Polizei (Waiselfisz 2011). In Alagoas stieg die Homizidrate auf 60, in der Hauptstadt Maceió auf 107.

Mord als Abweichung

Tötungsdelikte, in denen sich ein Individuum gegen seine Bezugspersonen oder mutmaßliche Quellen der Frustration und Erniedrigung wie vielleicht Schulen, Ämter oder Geldinstitute stellt, werden häufig aus Situationen emotionaler Unterlegenheit, aus Verlassensangst oder (sonstiger) Überforderung in verschiedenen Lebensbereichen heraus begangen. Das sind Abweichungen vom Erwartungsfahrplan der Gesellschaft, die seit jeher einen legitimen Gegenstand der Theorien abweichenden Verhaltens und der Kriminalitätstheorien darstellen. Man denke an die bekannten Muster bei der Tötung des Intimpartners, wie sie Wilfried Rasch (1995) beschrieben hatte: da ist der Konflikt zwischen der Vitalschwäche, Kontaktenge und Gehemmtheit auf der Seite des späteren Täters einerseits und der Aktivität, Durchsetzungsfähigkeit und Souveränität auf der Seite des späteren Opfers andererseits. In einer Phase spannungsreicher Instabilität denkt der spätere Täter abwechselnd an Suizid, an die Tötung des Partners und einen gemeinsamen Tod: "Verzweiflung wird abgelöst von Hoffnung, um erneut tiefer Verzweiflung zu weichen (...) In einer 'letzten Aussprache' erfolgt schließlich die Tat überraschend für das Opfer, aber auch allzuoft unerwartet für den Täter selbst." Diese für die Geliebtentötung durch den verlassenen Partner charakteristische Konstellation findet sich auch dort, wo der verlassene Partner nicht den Geliebten oder die Geliebte, sondern den fortstrebenden Ehegatten umbringt. Auch hier gibt es das Machtgefälle, "bei dem das spätere Opfer mit seiner Umgebung als derjenige Teil erscheint, der die Situation beherrscht und in der Hand hat" - nur dass das spätere Opfer meist auch noch durch seine Herkunftsfamilie, Freunde, Anwälte und Behörden unterstützt wird und der spätere Täter sich fühlt, als stünde er mit dem Rücken zur Wand (Rasch 1995: 95 f.).

Was im Alltag oft als Mord bezeichnet wird, ist für Gerichte allerdings in der Mehrzahl der Fälle Totschlag (u.a. auch im Affekt) oder Körperverletzung mit Todesfolge. Das gilt auch für die folgenden raum-zeitlichen Aspekte vorsätzlicher Tötungsdelikte:

Tödliche Beziehungen. Für Staaten mit geringen oder durchschnittlichen Homizidraten gilt grundsätzlich, dass das Risiko, von einem unbekannten Täter umgebracht zu werden, deutlich geringer ist als das Risiko, zum Opfer eines Familienmitglieds, Freundes oder Bekannten zu werden. Hier liegt auch der Anteil von Frauen (sowohl unter Tätern als auch unter Opfern) regelmäßig deutlich höher (gelegentlich sogar über 50%) als in Ländern mit hohen Homizidraten, wo er nur halb so hoch oder noch geringer zu sein pflegt (vgl. Dotzauer 1975).

Gefährliches Wochenende. Die Kluft zwischen Arbeitszeit und Freizeit, insbesondere der besondere Status des Wochenendes, macht sich auch in der Kriminalität bemerkbar. Das Wochenende ist für große Bevölkerungskreise die Zeit der Geselligkeit und der außerhäuslichen Aktivitäten. Häufig spielt Alkohol eine Rolle, häufig kommt es auch zu Streitigkeiten. So kann nicht erstaunen, dass immerhin die Hälfte aller Körperverletzungen mit Todesfolge auf das Wochenende entfallen. Überraschenderweise gilt das aber nicht für Mord, der sich sogar unterdurchschnittlich häufig am Wochenende ereignet - mit einer markanten Ausnahme, nämlich der Ehegatten- und Geliebtenmorde. Offenbar werden die freien Tage genutzt, um eine letzte Aussprache herbeizuführen und die Beziehung ab und zu eben auch gewaltsam und endgültig zu beenden. Jedenfalls fallen immerhin rund 40 statt der zu erwartenden 30 Prozent der Taten aus dieser speziellen Fallgruppe auf das Wochenende. Diese Taten werden oft mit starken Emotionen und ohne Rücksicht auf die zu erwartenden Sanktionen ausgeführt (Dotzauer 1975: 365; Katz 1988: 12-51).

Gefährliche Nachtstunden. Zwischen 20 Uhr abends und 4 Uhr morgens spielen sich zwar überproportional viele Tötungsdelikte ab - die ihrerseits auf die Besonderheiten der sich in diesen Stunden abspielenden Sozialkontakte verweisen, sie in stärkerem Maße Reibungsflächen bieten und nach gesonderten Skripts ablaufen - doch werden auch sie in der Regel als Körperverletzungen mit Todesfolge eingeordnet, während Morde sich statistisch gesehen weitaus weniger tageszeitabhängig verhalten. Diese Unabhängigkeit von Wochentagen und Tageszeiten zeigt sich inbesondere in sog. Mord-Selbstmord-Fällen, bei denen der Täter sich nach dem Mord (an Familienangehörigen) selbst richtet (vgl. Dotzauer 1975: 365)

Kurze und lange Tötungen. Zwischen dem plötzlichen Mordanschlag einerseits und dem sich über Stunden, Tage oder gar Wochen hinziehenden Sexualmord andererseits liegen Welten. Die zeitlichen Strukturen des Täterhandelns und des Opferleidens sind bislang untererforscht. Beachtung verdienen vor allem die "langen Morde", seien es solche, die durch anomische Kleingruppen begangen werden - oder solche, die als bürokratische oder militärische Aktionen großer Gewaltkollektive in der Form von mörderischen Deportationen und Todesmärschen manifestieren. Die von Wolfgang Sofsky (1997) entworfene Forschungslandschaft der Gewaltzeit, in der es nicht nur um die Aktionsdynamik geht, sondern auch um deren Auswirkungen auf die leib-seelische Existenz der Opfer, ist für den Mord erst noch in konkrete Forschungen umzusetzen.

Sicherer Arbeitsplatz. Individuell motivierte Homizide geschehen nur selten am Arbeitsplatz des Täters: Interessen und Kräfte sind absorbiert, die Konflikte am Arbeitsplatz selbst erreichen häufig nicht die Intensität wie zuhause - und ein Blick auf die Strafurteile wegen Mordes zeigt, dass die meisten Täter zur Zeit der Tat sogar von einer beruflichen Bindung und damit von ihrem Arbeitsplatz akut oder längerfristig gelöst waren (arbeitslos, krank, im Urlaub, schlichtes Fernbleiben; vgl. Dotzauer 1975: 366).

Tödliche Wohnung. Speziell die Mord-Selbstmord-Fälle, aber auch die Beziehungs-Taten allgemein erfolgen überaus häufig in der gemeinsamen Wohnung, bzw. in der des Täters oder des Opfers. Für Frauen ist der riskanteste Ort mit großem Abstand das Schlafzimmer, für Männer aber auch noch die Küche, wo die Tötung dann typischerweise durch Erstechen erfolgt.

Die für die Zuordnung zum Mord erforderliche besondere Verwerflichkeit der Tat ist hingegen bei solchen Tatmustern gegeben, die von geradezu archetypischer Grausamkeit sind und an die Grenzen der menschlichen Vorstellungskraft gehen - nicht umsonst graben sich in solchen Fällen auch die Namen der Täter in das kollektive Gedächtnis ein. Man denke an Jeffrey Dahmer, der die Köpfe seiner noch lebenden Opfer aufbohrte und mit Säure füllte, um sie zu willenlosen Sex-Sklaven zu machen machen, an Jack Unterweger, der junge Frauen mit dem Draht ihres Büstenhalters oder mit ihrer zu einem Henkersknoten gebundenen Unterwäsche qualvoll strangulierte oder einen Jürgen Bartsch, der seine kindlichen Opfer in einen höhlenartigen Bunker führte, wo er sie zwang sich zu entkleiden, sexuelle Handlungen an ihnen vornahm und sie dann bei vollem Bewusstsein zerstückelte. Der gut dokumentierte Fall Bartsch zeigt allerdings auch, dass sich erstens die Lustphantasien der Täter bei der Ermordung verängstigter, gefügiger und völlig wehrloser Opfer häufig als spiegelverkehrte Neuinszenierungen eigener Leidenswege des Täters als Kind verstehen und erklären lassen, und dass die monströsesten Taten von den Personen vollbracht werden können, die psychisch eher ein Häuflein Elend darstellen. Wo das Tatstrafrecht nach einer vergeltenden Grausamkeit ruft, würde ein Täterstrafrecht eher eine Klinikunterbringung nahelegen.

Mord als Konformität

Die soziale Bewertung reicht von schärfster Verurteilung bis zu höchster Anerkennung. Das Grundmuster, dem die Verteilung von Ächtung und Achtung folgt, sieht folgendermaßen aus. Das Töten von Nicht-Menschen gilt grundsätzlich als moralisch neutral. Das Töten von Artgenossen wird grundsätzlich dann als Gefahr für die Allgemeinheit wahrgenommen und dementsprechend missbilligt, wenn die Handlung aus (egoistischen) Motiven zum privaten Vorteil erfolgt. Demgegenüber wird das (altruistische) Töten zur Abwehr von Bedrohungen des Gemeinwesens innerhalb des betreffenden Gemeinwesens grundsätzlich als notwendig und gerechtfertigt, wenn nicht lobenswert und vorbildlich bewertet. Tötungen können den Status einer Person also beschädigen (Bestrafung, Verachtung), sie können ihn aber auch unberührt lassen (Indifferenz bei Notwehr oder bei der Tötung von Tieren) oder erhöhen (Orden, Ehrenzeichen, Denkmäler).

Die schiere Bandbreite sozialer Werturteile birgt ein gewisses Potential an Wertungswidersprüchen und -konflikten, deren Aufbrechen und Ausufern nicht nur den ethischen, sondern auch den politisch-ideologischen und damit den machtmäßigen Status Quo der Gesellschaft gefährden könnte. Diesem Risiko begegnet in gewisser Weise die Trennung zwischen privater und politischer Moral. Nach dem Prinzip Quod licet Iovi non licet bovi kann dann zwar der Staat das Töten verlangen und belohnen, doch gilt für Privatpersonen nichtsdestotrotz der Satz: Du sollst nicht töten. Eine Vielzahl von Ausnahmen und feinen Differenzierungen führt dazu, dass das soziale Bewertungskontinuum, das sich zwischen der verwerflichsten und der lobenswertesten Tötung erstreckt, letztlich dann aber doch nicht ganz deckungsgleich ist mit dem Kontinuum vom Privaten zum Öffentlichen: die Tötung aus privater Notwehr gilt zum Beispiel als achtens-, die extralegale Tötung von Zivilpersonen durch staatliche Akteure hingegen eher als ächtenswert.

Vor allem aber gibt es auch innerhalb der Klasse der sozial unerwünschten Tötungshandlungen noch erhebliche moralische Differenzierungen: wo die Tötung fahrlässig oder auf Verlangen des dann Getöteten erfolgte, wird sie generell weniger stark geächtet sein als dort, wo sie als Totschlag im Rahmen eines Eifersuchtsanfalls erfolgt oder gar ganz kaltblütig ein arg- und wehrloses Opfer langsam und qualvoll vom Leben zum Tode befördert. Für Taten vom Stile der letztgenannten Art haben die meisten Gesellschaften mittels besonderer Begriffe und Sanktionen eine von anderen Tötungsdelikten abgesonderte Klasse geschaffen, die als Inbegriff des größten Unrechts und der größten Schuld gilt, die ein Mensch auf sich laden kann. Insofern hat die Bezeichnung einer vorsätzlichen Tötung als Mord eine viel wuchtigere und metaphysisch aufgeladenere Bedeutung als wenn sie als Totschlag bezeichnet würde.

Während der sozial unangepasste Mörder schon lange die Aufmerksamkeit der Kriminologie erregen konnte, ist die Möglichkeit des Mordes aus Gehorsam gegenüber bestimmten Normen und Werten erst in jüngerer Zeit wissenschaftlich bearbeitet worden. Dabei kommt Mord wohl mindestens ebenso häufig als Verbrechen aus Gehorsamsbereitschaft und damit als Ausdruck von sozialer Konformität vor wie als Ausdruck sozialer Anpassungsschwierigkeiten.

Eine Mittelstellung zwischen Mord als Abweichung und Mord als Konformität nimmt noch der Mord im Kontext eines Kulturkonflikts ein. Speziell in Einwanderergesellschaften ist es mit der Diagnose der "sozialen Abweichung" jedenfalls dann nicht getan, wenn einem Delikt ein Gruppenprozess zugrunde liegt, der selbst normativ strukturiert ist und innerhalb eines größeren Kollektivs durch Legitimitätsglauben gestützt wird. Dann ist die Handlung zwar aus der Sicht der Hauptkultur und ihrer Rechtsordnung "abweichend", nicht aber aus der Sicht der Täter selbst. Diese halten sich mit der Tat an eine eigene Ethik mit Werten und Normen, die sie und ihre Bezugsgruppen für legitim und verpflichtend halten, auch wenn diese von der sie umgebenden Rechtskultur nicht anerkannt werden (Sellin 1938). Ein solcher Fall liegt häufig dem Tatmuster Ehrenmord zugrunde. Nach den kulturell verankerten Familien-Normen ist die Tat eine Art Pflichterfüllung, die aber von der Rechtsordnung angesichts der nicht selten brutalen Tatausführung (z.B. dann, wenn zu mehreren auf das Opfer eingeschlagen und eingetreten wurde, um es sodann mit 18 Messerstichen im Leib - von denen ein besonders wuchtiger das Schulterblatt durchstieß - qualvoll verbluten zu lassen) häufig dann doch als Mord verurteilt wird. Derlei ist nicht antisoziales Verhalten im Sinne des Ungehorsams gegenüber sozialen Normen, sondern ein Fall des Autoritäts- und Gehorsamskonflikts: die Befolgung des einen Normensystems bedingt die Verletzung des anderen und umgekehrt. Und wenn keine rechtliche Strafe wartet, dann vielleicht eine informelle Sanktion aus dem anderen Normensystem, die von den Betroffenen noch mehr gefürchtet wird als eine formelle Strafe. Nicht nur für die Opfer von Ehrenmorden, sondern für alle direkt und indirekt daran Beteiligten enden derlei Doppelbindungen an konträre Normen mit großer Regelmäßigkeit in menschlichen Tragödien.

In anderen Fällen machen sich die Erwartungen der sozialen Umwelt so stark bemerkbar, dass von einem Kulturkonflikt nicht mehr die Rede sein kann. Bei den nationalsozialistischen Gewaltverbrechen ging es um Morde, hinter denen eben gerade nicht individuelle soziale Anpassungsschwierigkeiten standen. Hier hatten "ganz normale Männer" das Gefühl, mit ihren Taten eine Pflicht gegenüber ihren Kameraden zu erfüllen, darüber hinaus aber auch gegenüber den Vorgesetzten und gegenüber ihrem von äußeren Feinden bedrohten Volk (Browning 1999). Es handelte sich nicht abweichendes, sondern um angepasstes Verhalten, nicht um "crimes of deviance", sondern "crimes of obedience". Dabei stand die Gehorsamsbereitschaft gegenüber Autoritäten im Vordergrund - mit der ganzen "Banalität des Bösen", die jede intuitive Erwartung enttäuschte, dass der überdimensionierten Grausamkeit der Taten auch eine ebensolche Monstrosität der Motivation entsprechen müsse (vgl. Arendt 1986, Milgram 1974; Neubacher 2005).

Die Täter waren von der Aussicht auf kleine Vorteile motiviert: von der Vermeidung von Beschämung und Ausgrenzung, von der Hoffnung auf Anerkennung durch die Peer-Group und die Vorgesetzten - kurz: von den banalsten der alltäglichen Anreize. Wo sich angesichts der Wehrlosigkeit der Opfer stärkere Skrupel bemerkbar machten, ließen sich diese situativ durch die Manipulation normativer Bewusstseinsinhalte neutralisieren (Sykes & Matza 1968). Dazu gehörte vor allem der von der Staatsführung bis zu den Kameraden permanent wiederholte Diskurs darüber, dass sich das gesamte Kollektiv in einem Ausnahmezustand befinde. Der Einzelne sollte sich als Teil einer Schicksalsgemeinschaft begreifen, die er nicht verraten dürfe. Sein Volk sei zu Unrecht angegriffen worden und in seiner Existenz bedroht. Da der Feind jedes Mitgefühl vermissen lasse und Zivilisten angreife, seien die eigenen Maßnahmen gegen Zivilisten als kompensatorische Vergeltungsschläge nicht nur erforderlich, sondern auch vollkommen legitim.

Wege zum Mord

Der negative Sonderstatus, der die Kategorie des Mordes nicht nur von der Welt der Rechtschaffenheit, sondern darüber hinaus von "normalen" Straftaten trennt, legt zunächst einmal den Gedanken nahe, dass auch die Ursachen und Motive des Mordes ganz außergewöhnlich sein müssten. Heute glaubt man allerdings zu wissen, dass man aus tragischen Folgen nicht unbedingt auch auf dramatische Ursachen schließen kann, sondern dass die grässlichsten Ereignisse sich aus den banalsten Motiven und Situationen entwickeln können.

In der Frühzeit der Kriminologie sah das man noch anders. Die von Comte und Darwin beeinflussten Vertreter der sog. positiven Schule der Kriminologie waren um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert überzeugt, dass es "geborene Verbrecher" gäbe, und dass diese wiederum unter den Mördern besonders häufig anzutreffen seien. Cesare Lombroso (1836–1909) glaubte zum Beispiel, Mörder schon nach ihrem Äußeren von Vergewaltigern unterscheiden zu können: "Die Mörder haben einen glasigen, eisigen, starren Blick, ihr Auge ist bisweilen blutunterlaufen. Die Nase ist groß, oft eine Adler- oder vielmehr Habichtsnase; die Kiefer starkknochig, die Ohren lang, die Wangen breit, die Haare gekräuselt, voll und dunkel, der Bart oft spärlich; die Lippen dünn, die Eckzähne groß. Nystagmus ist häufig, auch einseitiges Gesichtszucken, wobei sie die Eckzähne zeigen, gleichsam grinsend oder drohend". Die Vergewaltiger hingegen "haben fast immer ein funkelndes Auge, feines Gesicht, schwellende Lippen und Brauen, aber einen starken Unterkiefer. Meist sind die gracil gebaut, bisweilen jedoch bucklig" (Lombroso 1894: 229 ff.). Enrico Ferri (1856-1929) versicherte seinerseits, dass auch er im Stande sei, "allein aus den organischen Erscheinungen die Diagnose des Mörders zu machen inmitten anderer Verbrecher" (Ferri 1896: 38). Die sog. Lyoner Schule unter Alexandre Lacassagne (1843-1924) wiederum konterte derlei Biologismen gerne mit dem Hinweis auf sozialstrukturelle Ursachen aller Kriminalität und wurde für das Motto bekannt: "Jede Gesellschaft hat die Verbrecher, die sie verdient" (Lacassagne 1913: 364).

Die aktuelle Kriminologie hat sich vom "Mörder-Gen" ebenso verabschiedet wie von anderen monokausalen Modellen. Zwar fordern hirnphysiologisch orientierte Forscher ganz ähnlich wie die alte positive Schule die Verabschiedung des Schuldstrafrechts und dessen Ersetzung durch sichernde Maßnahmen (vgl. Markowitsch & Siefer 2007; kritisch dazu Hassemer 2009), doch dominieren heutzutage interdisziplinäre Erklärungsversuche, in denen der Stellenwert biologischer Aspekte im Vergleich zu früh geformten sozialen Bindungen und situativen Einflüssen (z.B. von Gleichaltigen oder von hierarchischen Gruppen) und denjenigen der formellen und informellen Sozialkontrolle als eher gering eingeschätzt wird.

Man geht auch nicht mehr davon aus, dass der Mensch grundsätzlich gut und regelkonform sei und man deshalb jede Abweichung durch Besonderheiten zu erklären habe, sondern legt häufiger ein Menschenbild zugrunde, in dem man sich den Menschen zunächst einmal als zu allem fähig und zu allem bereit vorstellt, was dieser aus seiner Sicht für nützlich hält. Morde können aus dieser Perspektive - wie andere Handlungen auch - anhand der vier Weber'schen Idealtypen sozialen Handelns klassifiziert werden. Gemordet werden kann entweder

  • zweckrational zwecks bestmöglicher Erreichung eines Ziels, bzw. einer Problemlösung (z.B. Lösung eines Liquiditätsproblems durch einen groß angelegten Versicherungsbetrug) oder
  • wertrational als Dienst an der eigenen Überzeugung ("Ich musste es einfach tun, es war eine Gewissenspflicht") oder
  • affektuell als Reaktion auf eine momentane Gefühlslage ("Es ist dann einfach mit mir durchgegangen ...") oder
  • traditionell in Befolgung einer regelhaften Gewohnheit ("Wir sind dann später jeden Tag von neuem ausgezogen, um unsere Arbeit - das Töten - fortzusetzen ... nach dem Sinn oder Zweck haben wir schon gar nicht mehr gefragt").

Die vier Motiv-Arten des Homizids, die das FBI unterscheidet, stehen dazu nicht unbedingt in einem Widerspruch:

  • Bereicherung (Criminal Enterprise Murder; Begehung zwecks persönlichen - nicht nur materiellen - Gewinns, bzw. zum Erhalt oder der Vermehrung von Ressourcen; einschließlich Taten zur Verdeckung eines vorher begangenen Delikts).
  • Beziehung (Personal Cause Murder; Begehung infolge eines emotionalen Konflikts; dazu gehört auch: vorsätzliche Tötung im Rahmen von Stalking, von häuslicher Gewalt, Rachetaten, Mord an Vorgesetzten, d.h. Autoritätshomizide, ideologisch motivierter Hass; Tötungen von schwerkranken Patienten durch Pflegepersonal).
  • Sexualität (Sexual Homicide; Begehung, bei denen die Ereignissequenz, die zur Tat führte, sexuelle Komponenten aufwies; dazu gehören die Tötungen von Kindern durch Pädophile, von Frauen durch Vergewaltiger, die von sadistischen Serienmördern begangenen Tötungen).
  • Gruppendynamik (Group Cause Homicide; in der gemeinsamen Ideologie mehrerer Akteure erscheint die Tötung als unabdingbar, gerechtfertigt, notwendig - jedenfalls legitim).

Die Frage ist dann weniger, warum Menschen morden, als vielmehr, warum so viele Menschen es nicht tun. Was ist es, was die Menschen ihrer Freiheit zur Abweichung, genauer: ihrer Freiheit zum Morden, beraubt? Kriminologische Kontrolltheorien (Gottfredson & Hirschi 1992) postulieren, dass es der Sozialisationsprozess in der Familie sei, der die meisten Menschen mit so viel Selbstkontrolle ausstatte, dass sie der Versuchung zu impulsiven und letztlich unvernünftigen Straftaten widerstehen können. Die vier wirksamsten Faktoren, um Menschen davor zu bewahren, kriminell zu werden, sind ihnen zufolge:

  • attachment (gemeint sind die Kräfte starker emotionaler Bindung an rechtschaffene Eltern und andere Bezugspersonen)
  • commitment (soziale Verpflichtungen)
  • involvement (Eingebundensein in legale Aktivitäten und Engagements) und
  • belief (als Glaube an konventionelle Werte und Normen in Abgrenzung zur Identifikation mit Subkulturen).

Je stärker diese sozialen Bindungen an die "richtigen" Personen, Werte und Normen ausgeprägt sind, desto geringer das Risiko, dass ein Mensch eine Tat begeht, die von der Gesellschaft, in welcher er lebt, als Inbegriff der Verwerflichkeit angesehen wird. Anders herum ergibt sich aus diesem Zusammenhang ebenfalls, dass der Mensch um so anfälliger für die Motivation und Bereitschaft zu einer Straftat sein wird, desto schwächer und lückenhafter die entsprechenden Bindungen bei ihm ausgeprägt sind. - Je lückenhafter hingegen die erwähnten Bindungen, desto freier ist ein Individuum, bei den allfällig auftretenden Diskrepanzen zwischen Wunsch und Wirklichkeit - seien diese sachlicher oder affektiver Art - auch illegale Wege der Problemlösung überhaupt wahrzunehmen, zum Gegenstand von Überlegungen zu machen und gegebenenfalls auch auf (evtl. selbst gesuchte) Gelegenheiten zu reagieren, sich darin bestätigen und unterstützen zu lassen. Dabei sind dann allerdings immer noch zwei Hürden zu überwinden, bevor es zur Tat kommen kann. Zum einen die innere Kontrollinstanz des Gewissens. Dessen hemmende Wirkung gilt es - soll es zu einer als verwerflich angesehenen Tötungshandlung kommen - durch eine entsprechende Manipulation der eigenen normativen Bewußtseinsinhalte zu überwinden. Das ist die selblegitimierende Funktion der von Sykes und Matza (1968) beschriebenen Neutralisationstechniken. Sie schaffen im individuellen moralischen Universum des prospektiven Täters eine Wahrnehmung, bzw. Definition der Situation, der zufolge gleichsam "alles in Ordnung" ist und die vorgestellte Tat "erforderlich", "leider unausweichlich" oder sogar "heldenhaft" - jedenfalls mit den eigenen moralischen Standards vereinbar und damit legitim - erscheint. Im Hinblick auf individuelle Morde wurde dieser interne Legitimationsprozess auf überzeugende Art von Jack Katz (1988) beschrieben, im Hinblick auf religiös motivierte Terroristen von Mark Juergensmeyer (2004) und auf Kriegsverbrechen deutscher Soldaten im Zweiten Weltkrieg von Sönke Neitzel und Harald Welzer (2012).

Ist dieser innere Prozess erst einmal erfolgt, dann ist die Durchführung der Handlung für den Akteur psychisch nicht schwieriger zu bewerkstelligen als die Durchführung irgend einer sozial akzeptierten Form der Tötung (z.B. in Notwehr oder im Rahmen eines Verteidigungskrieges o.ä.), wo die Überwindung erster Hemmungen zwar auch erforderlich, aber sozial unterstützt, ethisch gleichsam geadelt und damit auch für jeden Einzelnen leichter zu bewältigen ist.

Ist die Bereitschaft zur Tat gegeben, dann bedarf es noch der objektiven Möglichkeit und des letzten Entschlusses zur unmittelbaren Durchführung der Tat selbst. Die objektive Möglichkeit kann entweder an den Akteur herangetragen werden (die Gruppe fordert den Novizen auf, einen Gefangenen aus der gegnerischen Gruppe zu liquidieren, um seine Loyalität zur Gruppe unter Beweis zu stellen) - oder er kann sie sich selbst schaffen (langfristige Vorbereitung eines Giftmords). Wo eine Gelegenheit weder vorhanden ist noch geschaffen werden kann, da erfolgt auch kein Mord: insofern ist die Abwesenheit geeigneten (personalen oder technischen) Schutzes eine weitere (wenn auch negative) Voraussetzung für das Zustandekommen von Morden (Cohen & Felson 1979).

Gesellschaftliche Bedingungen

In ruhigeren Zeiten bleibt die Mordrate - wie auch diejenige anderer Verbrechen und Vergehen - ziemlich konstant. Es gibt also so etwas wie ein recht gut prognostizierbares "Verbrechensbudget", das Jahr für Jahr in etwa dieselbe Zahl von Opfern fordert. Darin sah Adolphe Quetelet (1839: 7) den Beweis, "dass es die Gesellschaft ist, die das Verbrechen vorbereitet, und dass der Schuldige nur das Werkzeug ist, das es ausführt." Auch wer als Mörder "seinen Kopf auf den Block legt oder sich anschickt, sein Leben in den Gefängnissen zu beschließen", ist aus dieser Perspektive letztlich gar nicht selber schuld, sondern erfüllt nur, was die gesellschaftlichen Verhältnisse notwendig hervorbringen müssen: der Mörder ist ein Opfer dieser Verhältnisse: "Sein Verbrechen ist die Frucht der äußeren Umstände, die er vorfindet."

Man muss die Interpretation Quetelets nicht teilen, um gleichwohl anzuerkennen, dass große Veränderungen der Mordrate nicht aus sich selbst heraus erklärbar sind, sondern auf dem Einfluss veränderter Bedingungen zu beruhen pflegen.

Die Veränderung äußerer Lebensumstände beeinflusst sowohl die Motive der Menschen als auch die Gelegenheitsstruktur, die sie vorfinden - und sowohl die inneren Hemmungen als auch die äußeren Kontrollen.

Sozialer, aber auch politischer Wandel kann die relativen Häufigkeiten unterschiedlicher Arten und Erscheinungsformen des Mordes verändern, aber auch generell das Risiko erhöhen oder vermindern, zu einer gegebenen Zeit und an einem bestimmten Ort zum Täter oder zum Opfer eines Mordes zu werden.

Insbesondere ein Zustand der Anomie, in dem vor dem Hintergrund tiefer Gräben zwischen Bevölkerungsgruppen und Lebensweisen sowohl das Zusammengehörigkeitsgefühl als auch das Rechtsbewusstsein nur schwach ausgeprägt sind (Durkheim 1983, Merton 1938, Messner/Rosenfeld 2012), führt in aller Regel zu erhöhter Bereitschaft und zu vermehrten Gelegenheiten der Gewalt, wenn nicht sogar - aufgrund der Schwäche staatlichen Schutzes - dazu, dass die Bevölkerung gleichsam genötigt wird, sich zum Schutz der eigenen Person, Familie und Güter der Gewalt als einer immer verfügbaren und häufig auch effektiven Ressource zu bedienen. Mit einem hohen Gewaltniveau geht eine hohe Mordrate jedenfalls dann einher, wenn in den Strukturen selbst gewisse Anreize für instrumentelle Grausamkeit angelegt sind oder aber eine Tendenz zum Auslegen von sinnlicher Lust am Töten befördern.

Kleine und große Gewaltkollektive werden um so häufiger in einer Gesellschaft auftreten, je häufiger ihre Mitglieder nur über schwache soziale Bindungen verfügen und desto größer ihre ursprüngliche Freiheit zur Abweichung ist.

  • Anomische Gruppen. In Gruppen von (jungen) Menschen mit wenig Selbstkontrolle, oftmals geringem Bildungsgrad und geringer sozialer Integration spielen Langeweile und die Suche nach einem gewissen Erregungsniveau - auch durch körperliche Gewalt - oft eine große Rolle. Ein ebenso bewunderter wie gefürchteter informeller Anführer ist in der Lage, auch an sich unaggressive Trabanten in eine mörderische Gewalteskalation zu involvieren, hinter der wenig anderes als die (oft alkoholisierte) Suche nach diesem besonderen Kick steht (Veiel 2007). Die Milieus, in denen sich solche Gruppen bilden, sind häufig solche der "doppelten Verlierer", die auch in regulären Subkulturen keinen Anschluss finden und sich am Rande des Randes einer Gesellschaft im wahrsten Sinne des Wortes durchschlagen.
  • Sub- und Teilkulturen der Gewalt. Wenn die Beteiligten nach den ersten größeren Gewaltaktionen vor Gericht kommen, hören die jeweiligen Gruppen in der Regel auf zu existieren. Wo aber nennenswerte Teile der Bevölkerung von sozio-ökonomischen Teilhabechancen ausgeschlossen bleiben, wo also eine kritische Masse von Menschen in ähnlich prekären Lebenslagen entsteht, können sich auch überdauernde Milieus herauskristallisieren: Sub- und Teilkulturen der Gewalt, in denen Mutproben und Gewaltorgien in Diskurs und Praxis fetischisiert werden und eine zentrale Rolle beim Statuserwerb und -verlust einnehmen (Wolfgang/Ferracutti 1967).
  • Organisierte Gruppen. Wo es primär um ökonomischen Erfolg auf illegalen Märkten geht, spielen Gewalt im Allgemeinen und Mord im Besonderen eine weniger expressive Rolle. Gewalt ist etwa im illegalen Drogenhandel von einem gewissen Niveau an ein unabdingbares Mittel zum Zweck: Bedrohungen müssen abgewehrt, Spitzel liquidert, Probleme gelöst werden. Gewalt ersetzt in den Fällen, in denen nicht einmal Korruption ihn öffnen kann, den versperrten Zugang zu staatlichen Institutionen.
  • Sub- und Teilkulturen der Ehre. Eine dienende Funktion der Gewalt und des Mordes findet sich auch beim Ehrenmord und beim Mord an sündhaften Mitgliedern strenger Religionsgemeinschaften - sowie last not least auch dort, wo zum Beispiel polizeiliche oder militärische Sondereinheiten mörderische Aktionen gegenüber Unerwünschten aus der eigenen oder einer fremden Bevölkerung durchführen: Häufigkeit und Leichtigkeit des Mordens wird hier durch das Bewusstsein gefördert, eine Pflicht zu erfüllen und die Taten in Befolgung nicht nur von Befehlen, sondern auch von höheren Werten auszuführen.
  • Gewaltkulturen. In Gesellschaften mit einer langen Tradition (Kontinuität) von Gewalt, die sich über alle Bereiche der Gesellschaft erstreckt (Ubiquität), in denen statt eines staatlichen Gewaltmonopols eine Vielfalt von Gewaltakteuren bestimmt (Pluralität) und in denen illegale Gewalt aller Art als normal angesehen wird (Normalität), da stärkt die Faktizität der Gewalt ihrerseits ihre normative Akzeptanz (Legitimität). In einer Gewaltkultur gräbt sich die Gewalt auf diese Weise tief in die Strukturen von Staat und Gesellschaft ein und wird zu einem Alltagsphänomen wie andere auch. Wo ein demokratischer Rechtsstaat mit einer Gewaltkultur koexisiert, bilden Justiz und Polizei die systemische Schnittstelle. Deren "Dysfunktionalität" im Sinne rechtsstaatlichen Handelns und juridischer Aufarbeitung staatlicher sowie nicht-staatlicher Morde sorgt dafür, dass Menschenrechtsverletzungen und andere Verbrechen keine spürbaren Folgen für die Täter haben. Die Straflosigkeit garantiert dann der Gewalt über Jahrzehnte hinweg ihre Rolle als effektivstes Konfliktlösungsinstrument und als bevorzugtes Mittel zur Durchsetzung von Partikularinteressen auf allen Ebenen, zumal die Abwesenheit staatlichen Schutzes vor Gewalt die Bevölkerung zur gewaltförmigen Selbstorganisation geradezu nötigt. Wo solche Strukturen die Bildung kleiner und großer Gewaltgruppen erleichtern und wirksame Eindämmungsmöglichkeiten fehlen, sind - wie gegenwärtig in Mittelamerika - die weltweit höchsten Homizidraten zu verzeichnen.
  • Gewaltsysteme. Wo der Staat das Gewaltmonopol nicht rechtsstaatlich kanalisiert, sondern seine eigenen Institutionen nach Gutdünken gewaltförmige Maßnahmen aller Art gegen Feinde, Verdächtige und andere Unerwünschte treffen lässt, kann er aufgrund seiner enormen Übermacht über alle sonstigen Akteure und seiner ideologischen Einflussmöglichkeiten in besonders hohem Ausmaß und mit größter Leichtigkeit unzählige Menschen zu Mördern machen und Massenmorde bis hin zum Völkermord organisieren.

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Weblinks


Siehe auch