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Der Begriff Mord bezeichnet nur vorsätzliche Handlungen, die mit dem Tod des Opfers enden. Juristen nennen das "Erfolgsdelikt". Der Erfolg der mit Tötungsvorsatz begangenen Handlung ist der Tod. Tritt der Tod nicht ein, ist kein Mord geschehen. Deshalb können auch nach der Tat noch Morde verhindert und sogar Mordraten beeinflusst werden: duch zufällig vorbeikommende Lebensretter oder durch einen hochetwickelten Stand der Notfallmedizin.

Es ist aber bei weitem nicht jede mit Tötungsvorsatz begangene Handlung ein Mord, die mit dem Tod des Opfers endet. Man kann bewusst und gewollt das Leben nehmen und doch keinen Mord begehen. Man denke an sozial erwünschte oder zumindest gerechtfertigte Tötungshandlungen etwa im Falle der Notwehr. Um einen Mord darzustellen, muss eine Tötungshandlung aber nicht nur unerwünscht sein, also ein Tötungs-Delikt darstellen, sondern als außerordentlich verwerflich angesehen werden. Der Begriffskern des Mordes ist also ein doppelter. Er besteht aus einer Beschreibung einerseits (Tötung) und einer Bewertung andererseits (besondere Ächtung). Der Bewertungsaspekt in der Mord-Definition hat zur Folge, dass in verschiedenen Epochen, Rechtskulturen und sozialen Milieus jeweils etwas anderes gemeint ist, wenn von Mord die Rede ist. Denn wann ist eine Tötung unerwünscht, wann ist sie (nur) verwerflich und wann ist sie ganz außerordentlich ächtenswert? Der Verlauf dieser moralischen Grenzen ist erstens immer umstritten, ändert sich zweitens ganz unausweichlich mit dem allgemeinen Wandel der moralischen Anschauungen - und ist zudem drittens auch immer wieder dem Einfluss veränderter Herrschaftsverhältnisse unterworfen. Der Bewertungsaspekt begründet eine unaufhebbare Relativität des Mordbegriffs: um Mord zu sein, muss es sich zwar nach herrschender Auffassung um (mindestens) eine Tötungshandlung handeln, die von (mindestens) einem Menschen begangen wird und in dem Tod von (mindestens) einem Menschen resultiert, doch gehört dazu auch die besondere Verwerflichkeit der Tötungshandlung - und wann diese vorliegt, lässt sich eben nicht ein für allemal sagen.

Zugleich ist das Kriterium der Verwerflichkeit von entscheidender Bedeutung und kann sogar die scheinbar selbstverständlichen Begriffsmerkmale des Mordes - nämlich dass er die Tötung eines Menschen durch einen anderen Menschen voraussetzt - in Frage stellen. Normalerweise gilt: sowohl das Subjekt als auch das Objekt des Mordes muss ein Mensch sein. Die Katze quält und tötet Mäuse und Vögel, aber sie mordet nicht. Wo aber die moralische Empörung groß genug ist, da kann auch ein Tier zum Subjekt des Mordes erklärt werden. Man denke an Platons Diktum: "Verursacht ein Tier den Tod des Menschen, so soll es wegen Mordes angeklagt werden" - und an jene Zeiten, in denen man Schweinen, Mäusen und Heuschrecken den Prozeß machte und die für schuldig befundenen Tiere, so man ihrer denn habhaft werden konnte, auch ganz förmlich hinrichtete (Fischer 2005). Ähnlich verhält es sich mit dem Erfordernis des Menschseins bei der Opfereigenschaft. Urwaldbäume werden gefällt, Wildtiere gejagt und Nutztiere geschlachtet, doch ermordet werden können sie schon rein begrifflich nicht. Die Empörung über die Tötung von Tieren könnte jedoch auch hier zu einer Veränderung der Verhältnisse führen. Im Zuge langfristiger Inklusionstendenzen könnte man auch die grausame und egoistische Tötung von Schimpansen, Orang-Utans, Gorillas und Bonobos (und die Ereignisse in den Schlachthöfen der Welt) als "Mord an Tieren" bezeichnen. Das würde den sozialen Kern des Mordbegriffs sichtbar werden lassen und klar stellen, dass der nicht darin besteht, die Tötung eines Menschen durch einen anderen Menschen zu ächten, sondern innerhalb einer Gesellschaft einen Konsens herzustellen über die Definition dessen, was in einer Gesellschaft als die schlimmste aller Tötungshandlungen gilt.

Die Definition des Mordes sagt etwas darüber aus, was die Gesellschaft für das Unerträglichste hält (und halten soll). Und das wiederum sagt viel über die Ideale einer Gesellschaft (und/oder der in ihr Tonangebenden) aus. Indem eine Gesellschaft den Mord definiert, definiert sie das, was sie auf keinen Fall sein will - und damit gleichsam spiegelverkehrt ihr eigenes Idealbild von sich selbst. So erklären sich auch die hohen Wellen, die der Streit um die Fragen schlägt, ob nicht auch die Abtreibung als "Mord an Ungeborenen" und die Todesstrafe als "staatlicher Mord" zu bezeichnen sei (von "Soldaten sind Mörder" ganz zu schweigen). Der Streit um den Mordbegriff verweist auf soziale Konflikte um die Gestaltung der gesellschaftlichen Ordnung. Für den Moment gilt: damit eine Tötung als Mord bezeichnet werden kann, bedarf es auf der Täter- wie auf der Opferseite jeweils mindestens eines Menschen. Wo Täter und Opfer identisch sind, liegt mangels besonderer Verwerflichkeit des Tuns kein (verwerflicher und im Falle des Fehlschlagens zu bestrafender) Selbstmord vor, sondern ein strafloser Suizid. Einen Mord kann es nur geben, wo eine Definitionsmacht zu dem Schluss kommt, dass es sich bei der Tötung um einen Fall extremer moralischer Verwerflichkeit handelt. Insofern ist es nicht die Tötung eines Menschen durch einen anderen Menschen, die den Mord konstitutiert, sondern die Tötung zusammen mit dem darum herum gewobenen Kokon aus einer die Tat ächtenden und hinreichend mächtigen Moral. Dabei ist der Grad der Ächtung von entscheidender Bedeutung. Denn sozial missbilligt sind unter anderem ja auch die fahrlässige Tötung und die Tötung auf Verlangen, in gewissem Maße die Abtreibung und ganz sicherlich der Totschlag. Zum Mord aber wird eine Tötung erst, wenn diejenigen, die über die Definitionsmacht verfügen, in der Tat ein absolut unerträgliches Maß der Verletzung fundamentaler Erwartungen sehen.

Eine vorsätzliche Tötung wird in den meisten Epochen und Kulturen dann als Mord besonders geächtet, wenn sie außerhalb rechtlicher Erlaubnisse stattfindet (außerhalb des Kriegsrechts, der erlaubten polizeilichen Tötungen und der erlaubten Todesstrafen), egoistisch motiviert ist und nicht auf einem kurzfristigen Affekt, einer psychischen Krankheit, emotionaler Überforderung o.ä. beruht, sondern, von böser Absicht getragen, im voraus geplant und rücksichtslos ausgeführt wird. Ein Mann überfällt eine Bank und erschießt Angestellte, um das Risiko der Betätigung von Alarmanlagen auszuschalten. Eine Frau inszeniert einen tödlichen Unfall des Ehemanns, um an die Lebensversicherungssumme zu gelangen. Dass jemand bei der Verfolgung seiner Interessen auf diese Weise über Leichen geht, ist mit den elementaren Voraussetzungen für ein einigermaßen gedeihliches Zusammenleben nicht zu vereinbaren. Wer aus situativer Überforderung heraus handelt, wird hingegen sozial und rechtlich meistens anders angesehen als ein kaltblütiger Killer. Zwar gilt in Deutschland ein Gesetz aus dem Jahre 1941 (!), das in Abweichung von international Üblichen (und in Anlehnung an die nationalsozialistische Lehre von den Tätertypen) erklärt: "Mörder ist, wer aus Mordlust, zur Befriedigung des Geschlechtstriebes, aus Habgier oder sonst aus niedrigen Beweggründen, heimtückisch oder grausam oder mit gemeingefährlichen Mitteln oder um eine Straftat zu ermöglichen oder zu verdecken, einen Menschen tötet", doch letztlich sind es doch ganz ähnliche Deliktsmuster, bei denen die Gerichte in verschiedenen Staaten dazu neigen, statt auf Totschlag auf Mord zu erkennen.

Das FBI (Douglas et al. 2006) unterscheidet vier Gruppen von Tatmotiven: 1. Wo ein weitgefaßtes Bereicherungsmotiv vorherrscht (Criminal Enterprise Murder) geht es dem Akteur um materielle Güter, um Status, um die Erhaltung oder die Vermehrung von persönlichen Vorteilslagen oder auch nur die Vertuschung eines vorherigen Delikts (Filmbeispiel: "Frau ohne Gewissen" von Billy Wilder, 1944). 2. Taten aus zwischenmenschlichen Beziehungen (Personal Cause Murders) umfassen innerfamiliäre Gewalt, Tötung von Stalking-Opfern, Delikte aus Rache oder ideologischem Hass ebenso wie die Tötung von Vorgesetzten oder aber von schwerkranken Patienten durch Pflegepersonal. Ein tragisches Moment weist oft auch das von Wilfried Rasch (1995: 95 f.) beschriebene Muster der Tötung des Intimpartners auf, wenn der schwache und gehemmte, "klammernde" und von Verlassensängsten geplagte spätere Täter in einer Phase spannungsreicher Labilität abwechselnd an Suizid, an die Tötung des Partners und einen gemeinsamen Tod denkt: "Verzweiflung wird abgelöst von Hoffnung, um erneut tiefer Verzweiflung zu weichen (...) In einer 'letzten Aussprache' erfolgt schließlich die Tat überraschend für das Opfer, aber auch allzuoft unerwartet für den Täter selbst." 3. Besonders beunruhigend sind Taten mit sexuellem Hintergrund (Sexual Homicide), und das insbesondere dann, wenn die Tötung wehrloser Opfer für die Täter zur Obsession wird ("Triebtäter", "Serienkiller"). Man denke an Jeffrey Dahmer, der die Köpfe seiner noch lebenden Opfer aufbohrte und mit Säure füllte, um sie zu willenlosen Sex-Sklaven zu machen machen, an Jack Unterweger, der junge Frauen mit dem Draht ihres Büstenhalters oder mit ihrer zu einem Henkersknoten gebundenen Unterwäsche qualvoll strangulierte oder einen Jürgen Bartsch, der seine kindlichen Opfer in einen höhlenartigen Bunker führte, wo er sie zwang sich zu entkleiden, sexuelle Handlungen an ihnen vornahm und sie dann bei vollem Bewusstsein zerstückelte. Der gut dokumentierte Fall Bartsch zeigt im übrigen, dass der Monstrosität der Taten keineswegs auf eine Größe des Bösen in der Täterpersönlichkeit zurückzugehen pflegt. Im Gegenteil: kaum etwas könnte weiter weg sein von intuitiv assoziierten Inbegriff des Bösen als jenes Häuflein Elend, das mit der Ermordung völlig verängstigter, wehrlos-gefügiger Kinder einem unbegriffenen Zwang folgt, seinen eigenen Leidensweg als Kind spiegelverkehrt noch einmal (und immer wieder neu) zu inszenieren. 4. Den bemerkenswerten Einfluss situativer Faktoren auf das menschliche Verhalten unterstreichen Morde, zu denen kein einziges Gruppenmitglied allein in der Lage gewesen wäre, zu denen es aber im Laufe eines dynamischen Gruppenprozesses dennoch kommt. Beispiele für diesen Group Cause Homicide finden sich überall dort, wo eine Gruppe einen "Sündenbock" ums Leben bringt - man denke an William Goldings Roman "Herr der Fliegen" (2011/1954) oder an die hervorragende Rekonstruktion eines wahren Kriminalfalls durch Andres Veiel (2007).

Die Gemeinsamkeit dieser vier klassischen Motiv-Konstellationen liegt in der gleichsam horizontalen Ebene der Konflikte: es handelt sich um Probleme im Verhältnis von Individuum und Gesellschaft. Das Individuum kann oder will sich den Erwartungen des Kollektivs nicht beugen, das Kollektiv will oder kann sich mit dem Individuum nicht arrangieren; das Individuum begeht eine verwerfliche Tötung zu Lasten des Kollektivs oder das Kollektiv begeht eine verwerfliche Tötung zu Lasten des Individuums. Es handelt sich um Mord als Abweichung: Tötungsdelikte, in denen sich ein Individuum gegen seine Bezugspersonen oder mutmaßliche Quellen der Frustration und Erniedrigung wie vielleicht Schulen, Ämter oder Geldinstitute stellt, werden häufig aus Situationen emotionaler Unterlegenheit oder (sonstiger) Überforderung in verschiedenen Lebensbereichen heraus begangen. Anders herum sind auch die gruppendynamisch generierten ungesetzliche Tötungen von Abweichlern durch das Kollektiv erhebliche Abweichungen vom Erwartungsfahrplan der Gesellschaft und stellen damit ebenfalls seit jeher einen legitimen Gegenstand kriminologischer Theorien dar.

Allerdings gibt es Situationen, in denen sich Menschen gleichzeitig den normativen Anforderungen unterschiedlicher Kulturkreise ausgesetzt sehen können. Dabei kann eine Tötung eventuell von der einen Kultur erwünscht, von der anderen aber verboten sein. In dieser Situation ist es mit der Diagnose der "sozialen Abweichung" jedenfalls dann nicht getan, wenn einem Delikt ein Gruppenprozess zugrunde liegt, der selbst normativ strukturiert ist und innerhalb eines größeren Kollektivs durch Legitimitätsglauben gestützt wird. Dann ist die Handlung zwar aus der Sicht der Hauptkultur und ihrer Rechtsordnung "abweichend", nicht aber aus der Sicht der Täter selbst. Ein solcher Fall liegt häufig dem Tatmuster Ehrenmord zugrunde. Nach den kulturell verankerten Familien-Normen ist die Tat eine moralische Pflicht; für die anders orientierte Justiz der Hauptkultur ist ein Ehrenmord jedenfalls dann, wenn die Tatausführung besonders grausam war (z.B. minutenlanges Einschlagen und Eintreten auf das Opfer, gefolgt von mehr als einem Dutzend Messerstichen und Verblutenlassen), gleichwohl Mord - und dies, obwohl die Tat kein antisoziales Verhalten im Sinne des Ungehorsams gegenüber sozialen Normen im Allgemeinen darstellt, sondern einen Fall des Autoritäts- und Gehorsamskonflikts: die Befolgung des einen Normensystems bedingt die Verletzung des anderen und umgekehrt.

Andere Mord-Konstellationen gehen auf Konflikte zwischen "Oben" und "Unten", zwischen Herrschenden und Beherrschten, zurück: man denke an politische Attentate von unten nach oben einerseits und an politische Repressionen von oben nach unten andererseits. Gerade die letztgenannten Handlungsmuster (von extralegalen Hinrichtungen über das Verschwindenlassen bis hin zum Massenmord an Oppositionellen und zum Genozid), die auf staatliche Veranlassung erfolgen, waren der Aufmerksamkeit der Kriminologie die meiste Zeit entgangen. Dabei zwingen gerade sie zur Korrektur überkommener Vorstellungen vom Mord. Die sog. positive Schule der Kriminologie hatte noch an den "geborenen Verbrecher" geglaubt, der sich vom "normalen Menschen" grundlegend unterscheide. Nach Cesare Lombroso haben zum Beispiel Vergewaltiger "fast immer" funkelnde Augen (und ein "feines Gesicht, ... aber einen starken Unterkiefer") - Mörder hingegen "einen glasigen, eisigen, starren Blick". "Die Nase ist groß, oft eine Adler- oder vielmehr Habichtsnase; die Kiefer starkknochig, die Ohren lang, die Wangen breit, die Haare gekräuselt, voll und dunkel, der Bart oft spärlich; die Lippen dünn, die Eckzähne groß. Nystagmus ist häufig, auch einseitiges Gesichtszucken, wobei sie die Eckzähne zeigen, gleichsam grinsend oder drohend" (Lombroso 1894: 229 ff.). Staatlich organisierte Morde benötigen hingegen gerade nicht Täter mit irgendwelchen Anomalien, sondern gerade solche ohne soziale Anpassungsschwierigkeiten. Und das Verblüffende an solchen Phänomenen der Makrokriminalität ist gerade die "Normalität" der Täter, ihre Disziplin, ihr Pflichtbewusstsein und ihre Gehorsamsbereitschaft gegenüber Autorität. Die Angehörigen des Hamburger Polizeibataillons 101 waren weder sozial unangepasst noch sonst irgendwie "anders". Sie waren "ganz normale Männer", die nur ihre Pflicht gegenüber ihren Kameraden, ihren Vorgesetzten, ihrem Führer und ihrem Volk erfüllen wollten und dabei die schrecklichsten Morde verübten (Browning 1999). Ihre Verbrechen waren gerade kein abweichendes, sondern konformes Verhalten, nicht "crimes of deviance", sondern "crimes of obedience". Dabei stand die Gehorsamsbereitschaft gegenüber Autoritäten im Vordergrund - mit der ganzen "Banalität des Bösen", die auch in diesem Fall jede intuitive Erwartung enttäuschte, dass der überdimensionierten Grausamkeit der Taten eine ebensolche Monstrosität der Motivation entsprechen müsse (Arendt 1986; vgl. auch Milgram 1974).

Der Mord kann, muss aber nicht Ausdruck einer gestörten Persönlichkeit sein. Gemordet werden kann sowohl 1. zweckrational zwecks bestmöglicher Erreichung eines Ziels, bzw. einer Problemlösung (z.B. Lösung eines Liquiditätsproblems durch einen groß angelegten Versicherungsbetrug) als auch 2. wertrational als Dienst an der eigenen Überzeugung ("Ich musste es einfach tun, es war eine Gewissenspflicht"), 3. affektuell als Reaktion auf eine momentane Gefühlslage ("Es ist dann einfach mit mir durchgegangen ...") oder 4. traditionell in Befolgung einer regelhaften Gewohnheit ("Wir sind dann später jeden Tag von neuem ausgezogen, um unsere Arbeit - das Töten - fortzusetzen ... nach dem Sinn oder Zweck haben wir schon gar nicht mehr gefragt").

Steht die Menschheit vor einer katastrophalen Entwicklung? Werden (die Angst vor) Mord und Totschlag die Realität künftiger Generationen in noch stärkerem Maße als heute beherrschen? Jeder Versuch eines Blicks in die Zukunft beruht auf der Möglichkeit zum Vergleich. Man müßte also wissen, wie es früher war, wie es heute ist - und welche Bedingungen für die Frequenz extremer Gewalttaten verantwortlich sind. Hierzu lassen sich nach heutigem Stand des Wissens folgende Aussagen treffen:

1. Trotz aller Verbrechen, Massenmorde und Genozide im 20. und beginnenden 21. Jahrhundert lebt die Menschheit heute in der gewaltärmsten Epoche aller Zeiten. Der Mensch ist ein gefährliches Raubtier und heute ist er stärker denn je domestiziert. In der Urzeit war er alles andere als friedlich. Er lebte in übersichtlichen Horden, weitgehend ohne Kontakt mit anderen Menschen. Wo es zu Kontakten kam, verliefen die meist kriegerisch. Seine Intelligenz erlaubte es dem "aggressiven Individuum", das Misstrauen in den Augen von Fremden zu ahnen und/oder zu deuten. Wissend, dass es für den Fremden allemal rationaler wäre, einen Präventivschlag durchzuführen statt einfach abzuwarten, entwickelte der Mensch die Fähigkeit und Bereitschaft zum aggressiven Töten fremder Artgenossen. So wurde er nicht nur für seine sonstige Umwelt, sondern auch für andere Menschen zum gefährlichsten aller Tiere. Obwohl die Kluft zwischen Eigengruppe und Fremdgruppe auch dazu führte, dass sich im Binnenverhältnis der eigenen Gruppe so positive Eigenschaften wie Solidarität, Hilfsbereitschaft und Liebesfähigkeit entwickeln konnten, blieb das Verhalten des Menschen im Verhältnis zu fremden Menschen von Misstrauen, aggressiver Gewalt und instrumenteller Grausamkeit gekennzeichnet. Da konnte zum Beispiel Kannibalismus hilfreich sein, um das eigene Selbstbewusstsein zu stärken, sich die Güter des Getöteten anzueignen und die Versorgung mit den in manchen Weltgegenden eher knappen Proteinen aufzubessern. Es war auch durchaus funktional, möglichst grausam vorzugehen, um eine erhöhte Abschreckungswirkung zu erzielen. Indem man also selbst angriff, vermied man das Risiko, von einer Attacke überrascht zu werden, und indem man (vermeintliche) Feinde möglichst grausam tötete, verschaffte man sich in einer verängstigten Umwelt jedenfalls für eine gewisse Zeit den nötigen Respekt.

2. Seit mehreren Jahrtausenden geht die Häufigkeit von Mord und Totschlag unter den Menschen zurück. Das hat mit der zunehmenden Bevölkerungsdichte zu tun, mit Hochkulturen und Verwaltungsapparaten, mit Urbanisierungsschüben und veränderten Wertorientierungen ("Aufklärung"), die allesamt einen flexibleren, auf langfristige Folgen achtenden Interaktionsstil erforderten, die Nützlichkeit instrumenteller Grausamkeit relativierten und damit auch faktisch in den Hintergrund drängten. Der (nicht zuletzt mit grausamen Tötungen durchgesetzte) Anspruch staatlicher Zentralgewalten, die legitime Gewaltausübung in einer (ihrer) Hand zusammenzuführen ("Gewaltmonopol") und die Tendenz zur Entwaffnung der Bürger ging damit Hand in Hand. Jedenfalls ist damit das Risiko, sein Leben als Opfer einer vorsätzlichen Tötung zu beenden, trotz aller auch mit diesen Prozessen einhergehenden Grausamkeiten heute (global gesehen) so gering wie noch nie in der Geschichte der Menschheit (vgl. Pinker 2011).

3. Das historisch niedrige Gewaltniveau der Gegenwart drückt sich darin aus, dass - global gesehen - in jedem Jahr "nur" noch 69 Menschen von jeweils einer Million Bewohnern der Erde zu Opfern vorsätzlicher Tötungen werden. Allerdings variieren die Risiken erheblich. In Österreich ist die entsprechende Zahl geringer als 6, im mittelamerikanischen Honduras hingegen liegt sie bei 860. Ein Blick auf Länder wie Honduras zeigt anomische Gesellschaften, in denen vor dem Hintergrund tiefer Gräben zwischen einer winzigen Oberschicht und einer hochgradig fragmentierten und marginalisierten Bevölkerungsmehrheit nur eine minimale Identifikation mit Staat und Recht existieren und wo das Vertrauen in Polizei und Justiz so gut wie nicht vorhanden ist. Für Gewaltakteure sind die Risiken staatlicher Kontrollen zu vernachlässigen. Dies gilt um so mehr, als ein Großteil der Tötungsdelikte auf das Konto von Polizei und Militär gehen. Push- und Pull-Faktoren führen zu Gelegenheit und Bereitschaft der Gewaltanwendung selbst bei denjenigen, die lieber darauf verzichten würden. Wenn Drogenkartelle und Jugendbanden die Leerstelle des Staates auf ihre Weise okkupieren, dann entstehen Konfigurationen der Konkurrenz um Territorialkontrolle, in denen auch die archaische Strategie des Machterwerbs durch instrumentelle Grausamkeit wieder zum Tragen kommen kann.

4. Kleine und große Gewaltkollektive sind also umso üblicher, je anomischer, ungleicher und zerrissener die Gesamtgesellschaft ist, je schwächer der Einfluss gewalthemmender Akteure und Ideologien ist und je stärker die Bürger (z.B. ökonomisch) an gewaltaffine Bezugsgruppen gebunden sind. Zu unterscheiden sind (bei fließenden Übergängen): a. Anomische Gruppen von (jungen) Menschen mit wenig Selbstkontrolle, oftmals geringem Bildungsgrad und geringer sozialer Integration, bei denen Langeweile und die Suche nach einem gewissen Erregungsniveau - auch durch körperliche Gewalt - oft eine große Rolle spielen. Ein ebenso bewunderter wie gefürchteter informeller Anführer ist in der Lage, auch an sich unaggressive Trabanten in eine mörderische Gewalteskalation zu involvieren, hinter der wenig anderes als die (oft alkoholisierte) Suche nach diesem besonderen Kick steht. Die Milieus, in denen sich solche Gruppen bilden, sind häufig solche der "doppelten Verlierer", die auch in regulären Subkulturen keinen Anschluss finden und sich am Rande des Randes einer Gesellschaft im wahrsten Sinne des Wortes durchschlagen. Wenn die Beteiligten nach den ersten größeren Gewaltaktionen vor Gericht kommen, hören die jeweiligen Gruppen in der Regel auf zu existieren. Wo aber nennenswerte Teile der Bevölkerung von sozio-ökonomischen Teilhabechancen ausgeschlossen bleiben, wo also eine kritische Masse von Menschen in ähnlich prekären Lebenslagen entsteht, können sich auch überdauernde Milieus herauskristallisieren. Es kommt zu b. Sub- und Teilkulturen der Gewalt, in denen Mutproben und Gewaltorgien in Diskurs und Praxis fetischisiert werden und eine zentrale Rolle beim Statuserwerb und -verlust einnehmen. c. Organisierte Gruppen, bei denen es primär um ökonomischen Erfolg auf illegalen Märkten geht, spielen Gewalt im Allgemeinen und Mord im Besonderen eine eher untergeordnete Rolle als unabdingbares Mittel zum Zweck: Bedrohungen müssen abgewehrt, Spitzel liquidert, Probleme gelöst werden. Gewalt ersetzt in den Fällen, in denen nicht einmal Korruption ihn öffnen kann, den versperrten Zugang zu staatlichen Institutionen. d. In Sub- und Teilkulturen der Ehre erfüllt die tödliche Gewalt ebenfalls eine dienende Funktion. Beim Ehrenmord und beim Mord an sündhaften Mitgliedern strenger Religionsgemeinschaften - sowie dort, wo zum Beispiel polizeiliche oder militärische Sondereinheiten mörderische Aktionen durchführen - werden Häufigkeit und Leichtigkeit des Mordens durch das Bewusstsein der Pflichterfüllung gegenüber Befehlen und höheren Werten erleichtert. 5. In Gewaltkulturen, also Gesellschaften mit einer langen Tradition (Kontinuität) von Gewalt, die sich über alle Bereiche der Gesellschaft erstreckt (Ubiquität), in denen statt eines staatlichen Gewaltmonopols eine Vielfalt von Gewaltakteuren bestimmt (Pluralität) und in denen illegale Gewalt aller Art als normal angesehen wird (Normalität), da stärkt die Faktizität der Gewalt ihrerseits deren normative Akzeptanz (Legitimität). In einer Gewaltkultur gräbt sich die Gewalt auf diese Weise tief in die Strukturen von Staat und Gesellschaft ein und wird zu einem Alltagsphänomen wie andere auch. Wo ein demokratischer Rechtsstaat mit einer Gewaltkultur koexisiert, bilden Justiz und Polizei die systemische Schnittstelle. Deren "Dysfunktionalität" im Sinne rechtsstaatlichen Handelns und juridischer Aufarbeitung staatlicher sowie nicht-staatlicher Morde sorgt dafür, dass Menschenrechtsverletzungen und andere Verbrechen keine spürbaren Folgen für die Täter haben. Die Straflosigkeit garantiert dann der Gewalt über Jahrzehnte hinweg ihre Rolle als effektivstes Konfliktlösungsinstrument und als bevorzugtes Mittel zur Durchsetzung von Partikularinteressen auf allen Ebenen, zumal die Abwesenheit staatlichen Schutzes vor Gewalt die Bevölkerung zur gewaltförmigen Selbstorganisation geradezu nötigt. Wo solche Strukturen die Bildung kleiner und großer Gewaltgruppen erleichtern und wirksame Eindämmungsmöglichkeiten fehlen, sind - wie gegenwärtig in Mittelamerika - die weltweit höchsten Homizidraten zu verzeichnen. 6. Gewaltsysteme, in denen der Staat das Gewaltmonopol nicht rechtsstaatlich kanalisiert, sondern seine eigenen Institutionen nach Gutdünken gewaltförmige Maßnahmen aller Art gegen Feinde, Verdächtige und andere Unerwünschte treffen lässt, sind immer Brutstätten des Massenmords. Der Staat kann aufgrund seiner überlegenen Ressourcen materieller und ideologischer Art mit größter Leichtigkeit unzählige Menschen zu Mördern machen und Makrokriminalität bis hin zum Völkermord organisieren.

5. Die Abwesenheit starker und effektiver natürlicher Tötungshemmungen beim Menschen wird in der gesellschaftlichen Realität üblicherweise durch die Erziehung zur Selbstkontrolle und durch soziale Bindungen unterschiedlicher Art substituiert. Je stärker diese sozialen Bindungen an die "richtigen" Personen, Werte und Normen ausgeprägt sind, desto geringer das Risiko, dass ein Mensch vorsätzliche eine böse Tat im Allgemeinen oder einen Mord im Besonderen begeht. Zu diesen social bonds zählen a. eine enge emotionale Bindung an (rechtschaffene) Eltern und andere Bezugspersonen (attachment), b. die Existenz starker konventioneller Verpflichtungen, die vor Abweichung bewahren (commitment), c. das Eingebundensein in legale Aktivitäten und Engagements im sozialen Leben (involvement) und 4. die Existenz von konventionellen Wertorientierungen und Glaubensüberzeugungen (belief), die dabei helfen, eine Person vor der Identifikation mit Subkulturen der Gewalt zu bewahren (vgl. Hirschi 1969). - Dieselben Bindungen können allerdings fatale Auswirkungen haben, wenn das, woran man sich gebunden fühlt, die Begehung von Gewaltdelikten nicht hemmt, sondern fördert. Dann kann gerade der Mensch mit vielen sozialen Bindungen (das "social animal") zum Täter von Handlungen werden, die ansonsten typischerweise nur von Personen mit reduzierter sozialer Kompetenz begangen werden. Wo die soziale Umwelt vom gut integrierten Individuum die Begehung von Straftaten erwartet, lässt sich die innere Kontrollinstanz des Gewissens durch Manipulationen normativer Bewußtseinsinhalte überwinden. Wo die von Sykes und Matza (1968) beschriebenen Neutralisationstechniken die offiziellen Diskurse dominieren, da schaffen sie im moralischen Universum des prospektiven Täters eine verführerische Definition der Situation, der zufolge gleichsam "alles in Ordnung" ist. Die von ihm erwartete Tötungshandlung erscheint ihm "erforderlich", "leider unausweichlich", "heldenhaft" oder doch zumindest als kompatibel mit den eigenen wie mit den öffentlichen moralischen Standards. Im Hinblick auf individuelle Morde wurde dieser interne Legitimationsprozess auf überzeugende Art von Jack Katz (1988) beschrieben, im Hinblick auf religiös motivierte Terroristen von Mark Juergensmeyer (2004) und auf Kriegsverbrechen deutscher Soldaten im Zweiten Weltkrieg von Sönke Neitzel und Harald Welzer (2012). Unter solchen Umweltbedingungen ist dann die psychische Belastung für den Täter im Allgemeinen nicht größer als bei einer anderen sozial akzeptierten Form der Tötung (z.B. in Notwehr oder im Rahmen eines Verteidigungskrieges o.ä.), wo die Überwindung erster Hemmungen zwar auch erforderlich, aber sozial unterstützt, ethisch gleichsam geadelt und damit auch für jeden Einzelnen leichter zu bewältigen ist. Welche Art von Erziehung (und welche Art von Persönlichkeit) dazu führt, dass ein Mensch in der Lage ist, einer nicht nur von der Peer-Group, sondern auch von der Politik, den Medien und der Regierung ausgehenden Verführung zum Mord mit einem etiamsi omnes - ego non zu widerstehen, wäre einer gründlichen Erforschung wert.


Literatur

Arendt, Hannah (1986) Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen. München: Piper.

Browning, Christopher R. (1999) Ganz normale Männer. Das Reserve-Polizeibataillon 101 und die 'Endlösung' in Polen. Reinbek: rororo.

Buss, David (2008) Der Mörder in uns. Warum wir zum Töten programmiert sind. 2. Auflage. Heidelberg: Spektrum Akademischer Verlag.

Douglas, John E.; Burgess, Ann W.; Burgess, Allen G.; Ressler, Robert K. (2006) Crime classification manual: a standard system for investigating and classifying violent crime (2nd ed.). San Francisco, Calif.: Jossey-Bass.

Fischer, Michael (2005) Tierstrafen und Tierprozesse — zur sozialen Konstruktion von Rechtssubjekten. Münster: LIT.

Golding, William (2011) Der Herr der Fliegen. Frankfurt a.M.: Fischer.

Hirschi, Travis B. (1969) Causes of Delinquency. Berkeley: University of California Press.

Juergensmeyer, Mark (2004) Terror im Namen Gottes. Freiburg: Herder.

Katz, Jack (1988) Seductions of Crime. Moral and sensual attractions in doing evil. New York: Basic Books.

Lombroso, Cesare (1894) Der Verbrecher in anthropologischer, ärztlicher und juristischer Beziehung, übersetzt von M.O. Fraenkel, Erster Band. Hamburg: Richter.

Milgram, Stanley (1974) Das Milgram-Experiment. Zur Gehorsamsbereitschaft gegenüber Autorität. Reinbek: Rowohlt.

Neitzel, Sönke; Welzer, Harald (2012) Soldaten. Protokolle vom Kämpfen, Töten und Sterben. Frankfurt a.M.: Fischer.

Pinker, Steven (2011) Gewalt. Eine neue Geschichte der Menschheit. A. d. Engl. v. Sebastian Vogel. S. Fischer, Frankfurt/M.

Rasch, Wilfried (1995) Tötung des Intimpartners. Bonn: Psychiatrie-Verlag.

Sykes, Gresham M.; Matza, David (1968). Techniken der Neutralisierung. Eine Theorie der Delinquenz. In: Fritz Sack, René König: Kriminalsoziologie. Frankfurt/M.: Akademische Verlagsgesellschaft, S. 360–371.

Veiel, Andres (2007) Der Kick: Ein Lehrstück über Gewalt: München, Deutsche Verlags-Anstalt (DVA).

Waldmann, Peter (2002) Der anomische Staat: Über Recht, öffentliche Sicherheit und Alltag in Lateinamerika. Opladen: Leske + Budrich.

Welzer, Harald (2005) Täter: Wie aus ganz normalen Menschen Massenmörder werden: Frankfurt am Main: S. Fischer.