Militärputsch und Stadtguerilla

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Während der Militärputsch in Brasilien von 1964 ebenso wie die ihm folgende Zeit der Diktatur von 1964 bis 1985 intensiv erforscht werden, haben die eher indirekten Folgen des Putsches weniger Aufmerksamkeit auf sich gezogen.

Das hat sicherlich mit der Breite des Spektrums zu tun, das da zu kartographieren wäre. Und mit der Schwierigkeiten, die sich ergeben, wenn die Frage zu beantworten ist, ob (oder inwiefern) sich spätere Ereignisse und Entwicklungen auf den golpe als Ausgangspunkt zurückführen lassen.

Dieses Problem ergibt sich auch bei der Erörterung des Zusammenhangs von Militärputsch und Stadtguerilla, zumal hier zwei, wenn nicht sogar drei Komplexe zu unterscheiden sind:

  1. der Zusammenhang zwischen Putsch und Stadtguerilla in Brasilien
  2. die Transplantation des brasilianischen Modells nach Deutschland
  3. die Gründe für das Scheitern des Experiments in Brasilien und Deutschland.


Brasilien: vom Putsch zur Stadtguerilla

Der Militärputsch vom 1. April 1964 kam nicht aus heiterem Himmel. Jahrelang war der Konflikt zwischen der sozialistisch orientierten Regierung und den Kreisen, in denen die faktische militärisch-ökonomische Macht konzentriert war, eskaliert. Im Kontext des globalen Kalten Krieges waren die USA daran interessiert, diese Kreise wieder an die Regierung zu bringen. Da das auf demokratischem Wege nicht leicht zu sein schien - Präsident Goulart hatte erst Anfang 1963 ein Referendum für sich entscheiden können - setzten die USA wie die brasilianische Rechte auch auf eine gewaltsame Entfernung der Regierung Goulart und nahmen dabei auch das Risiko eines längeren Bürgerkriegs in Kauf.

Die Regierung und die mit ihr sympathisierende KP hatten ebenfalls seit 1963 mit dem Risiko eines Militärputsches gerechnet. Um einen Putschversuch schon im Keim zu ersticken oder durch breiten Widerstand scheitern zu lassen, verfügte man über

  1. Netzwerke im Militär; Generäle und Soldaten dieses "dispositivo militar" würden Putschisten rechtzeitig und entschlossen entgegentreten
  2. Auch wenn die "Landligen" - die Ligas Camponesas (bzw. die SAPPP) im Nordosten des Landes - in den Jahren vor dem Putsch u.a. durch die Ermordung ihrer Führungspersönlichkeiten entscheidend geschwächt worden, so gab es doch seit dem Herbst 1963 auf Initiative des Gouverneurs des Bundesstaates Rio Grande do Sul, Leonel Brizola, die grupos dos onze. Ihren Auftrag zur Verteidigung der Demokratie sollten sie nach dem Modell der Roten Garden (Oktoberrevolution) wie eine Bürgerkriegsmiliz erfüllen. Brizola hielt flammende Radio-Ansprachen, in denen er die Elfergruppen (G-11) zur Bildung eines "Exército Popular de Libertação" (EPL) aufrief. Os G-11 seriam a "vanguarda avançada do Movimento Revolucionário", a exemplo da "Guarda Vermelha da Revolução Socialista de 1917 na União Soviética". Os integrantes dos G-11 deveriam considerar-se em "Revolução Permanente e Ostensiva" e seus ensinamentos deveriam ser colhidos nas "Revoluções Populares", nas "Frentes de Libertação Nacional" e no "folheto cubano" sobre a técnica de guerrilha. Chegou a organizar 5.304 grupos, num total de 58.344 pessoas, distribuídas, particularmente, pelos Estados do Rio Grande do Sul, Guanabara, Rio de Janeiro, Minas Gerais e São Paulo."

Besonders tragisch war die Kluft zwischen revolutionärer Rhetorik von Regierung und KP einerseits und ihrer resignativen Hinnahme des Putsches andererseits. Für viele Anhänger war es überraschend und enttäuschend, dass sowohl die Regierung als auch die KP dann doch beschlossen, sich nicht gegen den Putsch zu wehren. Die Losung "evitar derramamento de sangue" und die Rede vom "recuo organizado" (MM 310, 315) stellten sie nicht zufrieden. Diese Kluft erzeugte eine politische Deprivation, die zum Aufbrechen einer gewaltförmigen Dissidenz geradezu einladen musste (Davies).

Deshalb kam es über die Frage der richtigen Strategie im Umgang mit der Militärdiktatur zu einer folgenreichen Spaltung. Während der moskautreue Apparat auf die Bildung einer breiten demokratischen Front setzte, bildeten vor allem junge urbane Aktivisten einen militanten Gegenpol ("dissidência comunista").

Man kann sagen: die Vermeidung des Bürgerkrieges war nicht umsonst zu haben; den Preis dafür zahlte aber nicht die Rechte, sondern die Linke selbst, und zwar in zweierlei Form. Erstens war die Dissidenz ein unglaublicher ideologischer und personeller Aderlass für die KP, die rapide an Reputation und zudem vielleicht die Hälfte ihrer Mitglieder verlor. Zweitens war aber auch die Dissidenz wegen dieser Spaltung zwar stark genug, um bewaffnete Aktionen starten zu können, aber zu schwach, um diese auf Dauer durchzuhalten. Viele der jungen Idealisten zahlten dafür mit dem Erleiden von Folter und/oder mit ihrem Leben.

Zwar gab es eine unendliche Vielzahl kleiner und kleinster bewaffneter Aktionen in Brasilien, die meist nach maoistischem oder kubanischem Vorbild abliefen (23 Männer, die Tage vor dem Putsch zwecks Guerilla-Trainings nach China abgereist waren, nahmen am 26.3.1965 für kurze Zeit die Kleinstadt Tres Passos im Nordosten von Rio Grande do Sul ein; MM 337), auch gab es die Tupamaros un Uruguay (noch verspielt zu der Zeit), doch letztlich war Marighella der am kräftigsten leuchtende Stern am Himmel. Niemand artikulierte die Wut auf das Versagen der KP so klar, niemand hatte so viel für die KP geopfert, niemand war so charismatisch und mutig. Marighella war 21 Jahre alt, als er 1932 zum ersten Mal ins Gefängnis kam; als er 1964 zum vierten und letzten Mal aus einer Haft entlassen wurde, hatte er in diesem Zeitraum von 32 Jahren insgesamt 2691 Tage in Haft verbracht, also fast 7,5 Jahre (MM 325). Als er am 31.7.64 das letzte Mal die Gefängnistür hinter sich schloss, schwor er sich, nie wieder ins Gefängnis zu gehen.

1964/65

  • 1964: Agenten der Abteilung für Politische und Soziale Ordnung (DOPS: Departamento de Ordem Política e Social) verletzen Marighella mit vier Schüssen lebensgefährlich in einem Kino, in dem er sich versteckt hatte. Ohne Anklage in Haft, wird der auf Betreiben des Anwalts Sobral Pinto am 31.07.64 von einem Gericht entlassen.
  • 1965: Publiziert Por que resisti a prisao. Auszüge: MM 332 f.; 1965/66 publiziert Frente a frente com a polícia e os IPMs (333). In der Zeit streitet sich die PCB-Führung unter Beteiligung von Marighella über den richtigen Weg. Im Mai 1965 erringen die Moderaten die Kontrolle (erneut). Für kurze Zeit kriegt M. die camponeses-Arbeit, wird ihm aber wieder entzogen 334.

1966/67

  • 1966 begründet er in seiner Schrift The Brazilian Crisis die Notwendigkeit eines bewaffneten Kampfes gegen die Militärdiktatur und tritt danach von seiner Leitungsfunktion in der Partei zurück. Brief an die Exekutivkommission vom 10.12.1966 (MM: 335) A crise brasileira: ensaios políticos, 60 p. (333). Juni pcb paulista wählt ihzn zum primeiro secr., damit hat er eine truppe (334). von den 30er Jahren bis in die 50er hatte er schon mal sao paulo vorgestanden, aber mit dem segen des ZK, diesmal dagegen. Diesmal hat die pro-bewaffnung partei nicht nur unter den s.p.-studies die mehrheit, sondern auch bei den arbeitern. Am 10.12.1966 verabschiedet sich M. aus der Commissao Executiva (335) per Brief: 335.

Am 26.12.1966 schreibt er einen Brief an Fidel Castro: er will Leute nach Kuba zum Guerilla-Training schicken. Die Kubaner finanzieren. Bis Juli 1967 sind schon 8 Leute nach Kuba gegangen. MM 346.

  • 1967: M's Ideen fallen im studentischen Protestmilieu auf fruchtbaren Boden. Immer mehr schließen sich dem Marighella-Flügel (= Ala Marighela = Agrupamento Comunista = AC/SP) an.

Im April 67 letzter partei-event für M. conferencia pualista. Konflikt der Linien.

Com expulsoes e intimidacoes, o comite central assegurou a maioria, mas o partido desidratou am menos pela metade. o pcb perdera a hegemonia que nao recuperaria no universo das esquerdas. 336.

Mai und Juni 1967: Zeit des Bruchs und der Entscheidung für die Guerilla auch ohne KP-Unterstützung, bzw. unter Mitnahme seiner Gefolgsleute.

Am 31.7. Eröffnung von OLAS mit 22 Ländern, wie die Gründung einer Guerilla-Internationale. PCB nicht dabei. Marighella verbreitet Slogans: nossa tarefa #e criar dosi, tres, muitos Vietnas (Che); O dever de todo revolucionario #e fazer a vevolucao (Fidel), a vanguarda se fará na luta (cubano Armando Hart).

Abmachung mit Fidel. In 1960er und 1970er Jahren rund 250 Brasilianer auf Kuba. Sie lernen Land-, nicht Stadt-Guerilla. Und Marighella wollte das auch so (MM 353).

August 1967 einen Kongress für Lateinamerikanische Solidarität in Havanna, wo er Some Questions About the Guerillas in Brazil schreibt. Der Beitrag ist dem Andenken Che Guevaras gewidmet (getötet 9.10.67) und wird am 5.9.1968 im Jornal do Brasil gedruckt.

Im Herbst 1967 wird Marighella aus der PCB ausgeschlossen, nachdem der VI. Kongress sich gegen den bewaffneten Kampf und für eine breite demokratische Bewegung zur Überwindung der Diktatur ausgesprochen hatte. Diese breite Bewegung nannte sich zu Beginn MDB und transformierte sich später in die Partei PMDB.

Seit 1967 bereitete sich das Comitê Metropolitano do PCB de Brasilia (CM/ PCB/Bsb) auf den bewaffneten Kampf vor. Unter der Supervision des ZK übte man sich in der Guerillataktik in Paracatu/MG (Marschieren, Schießen, Bombenherstellung). Nach dem VI. Parteitag entfernte sich diese Gruppe unter der Führung der Anwälte Thomas Miguel Pressburger und Raimundo Nonato dos Santos von der Partei und näherte sich dem Marighella-Flügel an.

Ende 1967: ALN von Marighella.

1968

  • 1968: Im Februar 1968 gründet Marighella die Nationale Befreiungsaktion, die Ação Libertadora Nacional (ALN), eine Sammlungsbewegung aller revolutionären Kräfte Brasiliens. Er kooperiert mit der VPR (Vanguarda Popular Revolucionaria) und dem MR-8 (Movimento Revolucionario 8 de Outubro).

März 1968: Kontakte zwischen AC/SP und der Gruppe Corrente aus Minas Gerais (ebenfalls Parteidissidenten), Expansion bis in das zentrale Hochland. In Brasília schließen sich zwei weitere Gruppen zusammen, dazu noch die Guerrilha do Triângulo Mineiro. Unterstützung durch die Dominikaner von São Paulo. Erkundungen in Gegenden mit Landkonflikten: Formosa, Posse, Niquelândia und Unaí. Guerilla-Training mit Revolvern und Maschinenpistolen, Explosivstoffen.

Immer mehr Leute wechseln vom PCB zur Militanz. In der zweiten Jahreshälfte kommt Edmur Péricles de Camargo nach Brasilia. Er soll verantwortlich sein für die ländliche Guerilla in Goiás und Minas Gerais, zusammen mit den Leuten von der früheren CM/PCB/Bsb.


1969

  • 1969: Anfang 1969 wartet Edmur auf weitere Befehle. Bei einem Treffen mit Marighella in Formosa (Goiás) stellt sich heraus, dass die Gegend nicht geeignet ist. Edmur schlägt vor, die Stadt Unai in Minas zu besetzen. Marighella lehnt ab und lässt im Februar die Nachricht durch José Gomes da Silva (" Ricardo") überbringen.

Juni 1969: Minihandbuch. Das Projekt war eigentlich Landguerilla. Während des Wartens auf die Anfänge der Landguerilla schreibt M. seine Erfahrungen mit der Stadtguerilla auf. Eigentlich ein Paradox. Für die Welt wird er, der die Guerilla gar nicht für urbane Verhältnisse für geeignet gehalten hatte, der Prophet dieser Kampfesform.


Zusammenfassung

Vietnam war besetzt, Brasilien nicht. Fokismus: macht nichts; zwei, drei, viele Vietnam.

Stadtguerilla unerprobt. Experiment. Schwachstellen: Netzwerk zu groß, Unterschätzung der Repression (Doppelstaat), Überschätzung der Kämpfer und insbesondere der Widerstandsfähigkeit gegen die Folter.


Er machte Brasilien aber auch zum Modell für andere, insbesondere in Europa, darunter nicht zuletzt auch für die militante Linke in Deutschland. Insofern war der Putsch auch einer der wichtigsten Geburtshelfer der RAF. 50 Jahre nach dem Putsch von 1964 und 16 Jahre nach der Auflösung der RAF im Jahre 1998 sind viele Aspekte beleuchtet worden, die den Zeitgenossen damals nicht bekannt waren und nicht sein konnten. Ein Blick zurück birgt vielleicht auch Lektionen für die Zukunft.

Es gab aber wichtige Bedingungen, ohne die es nicht zur deutschen Stadtguerilla gekommen wäre. Als solche conditiones sine qua non lassen sich ausmachen:

  1. Der brasilianische Putsch von 1964
  2. Die Apathie der Regierenden gegenüber den Putschisten und der viele Anhänger völlig überraschende und tief enttäuschende Attentismus der Kommunistischen Partei unter ihrem damaligen Generalsekretär und geliebten Idol Carlos Prestes (1898-1990)
  3. Ein globales "Befreiungs-Klima", gespeist durch anti-imperialistische Erfolge wie die Revolution in Kuba (1959), das Scheitern der Invasion in der Schweinebucht (1961), den algerischen Befreiungskrieg (1962) und die Endstation der britischen Dekolonisation in Kenia (1963)
  4. Die Verbreitung und kritiklose Übernahme des Minihandbuchs der Stadtguerilla in Europa.

Transplantation des brasilianischen Modells

Was wird transplantiert?

Wie wird transplantiert?

Warum wird transplantiert?

Mit welchem Erfolg wird transplantiert?

Gründe für das Scheitern

Kritiklose Übernahme des Minihandbuchs

Das Minihandbuch in Grundzügen

Das Paradox der Wartezeit: Wartezeit auf Landguerilla

Das Paradox der Transplantation: Schon gescheitert, dann exportiert; außerdem: die größten Erfolge waren die Botschafterentführungen, aber die waren auch der Sargnagel für die Stadtguerilla. Es gibt einen tipping point für die staatliche Reaktion.

good people, dirty work

Die Praxis und die Schrift aus Brasilien werden nach Europa transportiert. Hier werden sie Vorbild.

Was bleibt?

Scheitern. Die großen Erfolge waren Anlass für schnelle und radikale Niederlagen. Uruguay. Brasilien. Deutschland. Mitleidsterrorismus nicht von der Linken, von den Liberalen. Gründe für das Scheitern: kleine Fehler im Minihandbuch. Große Illusionen über die Widerstandsfähigkeit gegenüber Folter und über Grenzen, die der Staat nicht verletzen würde. Barbarisierung. Doppelstaat.

Wolf Biermann: nicht anders zu haben. Benjamin.

Marighella 1966, in: A crise brasileiraL ensaios políticos, 60 Seiten. Für den Bürgerkrieg, für preparacao da insurreicao armada popular. Trata-se do caminho nao pacifico, violento - até mesmo da guerra civil. Sem o recurso a violencia por arte das massas, a ditadura sera institutcionalizada por um periodo de maior ou menor duracao." (CM. 333).

Damals schon oder noch gegen die Stadtguerilla: "A luta de guerrilhas nao é inerente às cidades, nao é uma forma de luta apropriada às áreas urbanas." (CM: 333).

Weblinks und Literatur

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