Klassenjustiz

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Herkunft

Der Begriff „Klassenjustiz“, den Friedrich Engels 1887 (MEW 21:336) im Zusammenhang mit der Unterdrückung der Arbeiterbewegung in den USA verwandt hatte, verbreitete sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts als politischer Begriff der frühen Sozialdemokratie zur Kritik und Charakterisierung der Gesetzgebung und des Vorgehens von Polizei, Staatsanwaltschaft und Gerichten. Anfang des 20. Jahrhunderts erarbeiteten Karl Liebknecht und Ernst Fraenkel den Begriff methodisch.


Rechtssoziologischer Begriff

Ernst Fraenkel (1968:37) charakterisierte Klassenjustiz dadurch, dass die Rechtsprechung eines Landes einseitig von den Interessen und Ideologien der herrschenden Klasse beeinflusst wird, so dass trotz formaler Anwendung des Gesetzes die unterdrückte Klasse durch die Handhabung der Justiz beeinträchtigt wird.

Mit Klassenjustiz werden verschiedene Erscheinungsformen und Strukturen der Ungleichheit vor dem Gesetz umschrieben. Teilweise wird als Ausgangspunkt des Begriffs die Klassengesetzgebung angesehen und mit ihm die klassen- bzw. schichtspezifische Diskriminierung im gesamten Rechtssystem charakterisiert. Zum Teil wird der Begriff auf systematische Benachteiligung im Gerichtsverfahren selbst bezogen bzw. noch enger auf die Frage, ob die Ausübung des richterlichen Handlungs- und Entscheidungsermessens durch Herkunft, Erziehung und Schichtzugehörigkeit bestimmt wird. Nach Rottleuthner (1969:7) handelt es sich um eine „Rechtsanwendung, die durch ein im objektiven Interesse einer oder mehrerer Klasse(n) verzerrtes Vorverständnis geleitet ist“. Anderer Definition nach ist Klassenjustiz die „Summe derjenigen Merkmale richterlichen Entscheidens, die dem Interesse einer bestimmten sozialen Schicht eine größere Durchsetzungschance verleihen“ (Lautmann).


Traditionelle Grundlagen

Nach Karl Marx (MEW 13:7) gehen die Menschen in der gesellschaftlichen Produktion ihres Lebens „bestimmte, notwendige, von ihrem Willen unabhängige Verhältnisse ein, Produktionsverhältnisse, die einer bestimmten Entwicklungsstufe ihrer materiellen Produktivkräfte entsprechen. Die Gesamtheit dieser Produktionsverhältnisse bildet die ökonomische Struktur der Gesellschaft, die reale Basis, worauf sich ein juristischer und politischer Überbau erhebt und welcher bestimmte gesellschaftliche Bewusstseinsformen entsprechen.“ Danach entsprechen Rechtssetzung und Rechtsanwendung als Bestandteile des juristischen Überbaus mithin der ökonomischen Basis und dem von ihr bestimmten gesellschaftlichen Bewusstsein. Ausgehend hiervon ist Recht in einer Klassengesellschaft der zum Gesetz erhobene Wille der herrschenden Klasse (Marx/Engels, MEW 4:477), Justiz in einer Klassengesellschaft notwendig immer die Justiz der jeweils herrschenden Klasse.

Ende des 19./Anfang des 20. Jahrhunderts wurde der Begriff Klassenjustiz seitens sozialdemokratischer Autoren justizkritisch in der Auseinandersetzung mit der Gesetzgebung und Strafverfolgung des Kaiserreichs weiter geprägt.

Karl Liebknecht (1960:38-41) führte den Begriff 1907 näher aus. Ihm zufolge äußert sich Klassenjustiz in vier Richtungen:

  • in der Prozessführung selbst, da Angeklagte der „besseren Stände“ schon in der Verhandlung ganz anders behandelt werden als Arme und Arbeiter,
  • in der einseitigen Auffassung des Prozessmaterials und in der einseitigen Würdigung des Tatbestandes, weil Richter in einer anderen Sphäre leben, denken und fühlen als der proletarische Angeklagte; das vielleicht wichtigste Element der Klassenjustiz,
  • in der Auslegung der Gesetze, die durch den Klassenstandpunkt der Richter stark beeinflusst wird und
  • in der außerordentlichen Härte der Strafen gegen politisch und sozial Missliebige und der großen Milde und dem wohlwollenden Verständnis für die Angehörigen der herrschenden Klasse, wenn sie einmal Objekte der Justiz werden.

Schon nach Liebknecht ist Klassenjustiz keine bewusste und böswillige Rechtsbeugung, sondern im Allgemeinen richterliches Handeln nach bestem Wissen.

1927 stellte Ernst Fraenkel (1968:16) klar, dass mit dem Begriff der Klassenjustiz kein Vorwurf, vielmehr lediglich die Feststellung einer soziologischen Tatsache verbunden ist. Bei einer erheblichen Anzahl von Urteilen zu gesetzlich eindeutig geregelten Fragen sei der geistige Prozess des Richtens möglich, ohne dass bei der Feststellung des Tatbestandes, der Auslegung des Gesetzes und der Subsummierung die klassengebundene Einseitigkeit des Richters in Erscheinung tritt. Die Mehrzahl der Entscheidungen grundsätzlicher Art enthalten aber versteckte oder offene Werturteile. Exemplarisch bezieht sich Fraenkel auf die richterliche Entscheidung darüber, ob eine Handlung gegen die guten Sitten verstößt, anhand des 1901 vom Reichsgericht zum Maßstab erhobenen und bis heute gültigen Anstandsgefühls aller billig und gerecht Denkenden. Er führt aus, es sei geradezu eines der Herrschaftsmittel der kapitalistischen Klasse, dass sie ihre eigenen Werturteile verabsolutiert (1968:38 f.). Justiz steht im Dienst der Aufrechterhaltung der Klassenherrschaft. Durch Erweckung und Aufrechterhaltung des Glaubens an die Möglichkeit einer Interessenharmonie der Klassen, auch innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft, veranlasst er die Richter, ihre durch die Klassenlage bestimmten Vorstellungen von Recht und Billigkeit als die Gerechtigkeit schlechthin hinzustellen. Das Proletariat – als unterdrückte Klasse – bezeichnet jenen Prozess der Verabsolutierung des klassengebundenen Rechtsempfindens der – der herrschenden Klasse angehörenden – Richter als Klassenjustiz. Je weiter der Spielraum ist, der dem Richter in seiner Tätigkeit offengelassen wird, desto größer muss die Gefahr der Klassenjustiz werden (1968:41).


Entwicklung

In den 1960er Jahren wurde die Diskussion über Klassenjustiz zunächst in der Rechtssoziologie wiederbelebt. Ausgehend von der Vermutung Ralf Dahrendorfs, „dass in unseren Gerichten die eine Hälfte der Gesellschaft über die unbekannte andere Hälfte zu urteilen befugt ist“, wurden erste empirische Untersuchungen zur sozialen Herkunft, Sozialisation und Stellung der deutschen Richterschaft sowie der Entscheidungspraxis mit dem Ziel unternommen, die Justiz zu reformieren.

Fritz Sack (1973:56) sprach der Richtersoziologie die theoretische Orientierung an einer klassenanalytischen Position ab. Klassenjustiz ist nach Auffassung Sacks etwas anderes als eine Soziologie richterlichen Handelns oder die Schichtspezifität rechtlicher Phänomene schlechthin. Die kriminologischen Diskussionen zu den empirisch nachgewiesenen Selektionsprozessen bei der gesellschaftlichen Definition abweichenden Verhaltens verstanden sich bescheidener als „Beitrag im Vorfeld zur Motivierung und Stimulierung einer Klassenanalyse von Rechtsphänomenen“ (Sack 1973:57).

Ausgangspunkt der kriminologischen Analyse der Selektivität und der Selektionsmechanismen ist das Verhältnis zwischen aufgedeckter und Dunkelfeldkriminalität. Die Selektion beider erfolgt systematisch durch Strategien strafrechtlicher Sozialkontrolle. Empirische Forschungsergebnisse weisen besonders hohe negative Korrelationen der erfassten Kriminalität mit der Schichtzugehörigkeit und mit der Zerrüttung der Familie nach. Sack konstatierte daher, dass jemand, der der unteren sozialen Schicht angehört bzw. in einer zerrütteten Familie aufwuchs, damit rechnen muss, dass sein Verhalten eine größere Wahrscheinlichkeit in sich trägt, von anderen als abweichend bzw. kriminell definiert zu werden, als jemand, der sich in gleicher Weise verhält, jedoch einer anderen sozialen Situation entstammt (Sack 1968:472 f.).


Empirie

Selektive Strafverfolgung im Ermittlungsverfahren

Die erste maßgebende deutsche Untersuchung zu Strategien der polizeilichen Strafverfolgung und sozialen Selektion, insbesondere den selektiven Verdachtsstrategien und Bagatellkonzeptionen der Polizei von Feest/Blankenburg erwies, dass handlungsbestimmend eine Theorie ist, innerhalb derer die Kategorien „anständig“ und „sozial bessergestellt“ sowie „verdächtig“ und „sozial schlechter gestellt“ weitgehend gleichgesetzt sind (1972:116). Dementsprechend wurde eine weitgehende Abhängigkeit der Definitionsmacht der Polizei vom sozialen Status der Betroffenen festgestellt. Die liberalen rechtsstaatlichen Garantien zum Schutz vor ungerechtfertigter Strafverfolgung sind in der Praxis im wesentlichen solche zur Sicherung der Freiheit des Besitz- und Bildungsbürgertums. Fester Wohnsitz, anwaltliche Vertretung und andere Merkmale des gehobenen sozialen Status´ erschweren die Strafverfolgung selbst dann, wenn sie im Einzelfall durchaus gerechtfertigt wäre. Weniger reale Garantien, insbesondere im Vorverfahren, bestehen für Personen von niedrigerem Sozialstatus (1972:117).


Selektive Strafjustiz

Analoge Selektionsmechanismen bei der richterlichen Rekonstruktion von Sachverhalten und Zuschreibungen des subjektiven Tatbestandes aufgrund theoretischer Annahmen über Charakter und Lebensbedingungen von Delinquenten wurden in Untersuchungen von Dorothee Peters festgestellt. Die richterlichen Anwendungsregeln diskriminieren insbesondere die Angehörigen der unteren Unterschicht, während bei den Angehörigen der Mittel- und Oberschichten gesetzmäßiges Verhalten vermutet wird. Dadurch erreicht die Strafjustiz die Exkulpation der ranghohen Normbrecher und sichert zugleich die Bestrafung der rangniederen (Lautmann/Peters, 1973:49 f.).

Richterliche Entscheidungen in Bezug auf Sanktionierung und Strafzumessung erfolgen ebenso klassen- bzw. schichtspezifisch. Nach der Untersuchung von Peters (1973:41 f.) wird die "Sanktionsstärke [...] wesentlich durch die Sozialkategorie des Angeklagten bestimmt", während Tatschwere und Schadenshöhe nur eine untergeordnete Rolle spielen. Bei Untersuchungen im Bereich des Verkehrsstrafrechts wurde festgestellt, dass Angeklagte aus der Mittelschicht mit größerer Wahrscheinlichkeit mit einer Einstellung des Verfahrens oder einem Freispruch rechnen können als Angehörige der unteren Schichten (Schumann/Winter, 1971:142). Lewrenz u.a. kamen zu dem Ergebnis, dass bei sozial besser gestellten Tätern besonders häufig Mitschuld anderer, erheblich mildernde Umstände in der Person des Täters und der Tat, besonders selten grob fahrlässiges Verhalten angenommen, seltener die Fahrerlaubnis entzogen wird und dass sie auch seltener zu einer Gefängnisstrafe verurteilt werden (Lewrenz u.a. 1968:32,39).

Aus den Untersuchungsergebnissen schlussfolgerten Lautmann/Peters, dass die richterlichen Kriterien, etwa auch bei der Entscheidung über die Strafaussetzung zur Bewährung, ein Spiegel der Wertvorstellungen der oberen Mittelschicht sind, der die Richter selbst angehören. Indem die Struktur sozialer Ungleichheit Maßstab der Verteilung von Sanktionen ist, legitimiert Strafjustiz nicht nur die Herrschaftsstruktur, sondern dient auch deren Verfestigung (1973:53).

Als Folge gesellschaftlicher Herrschaftsstrukturen werden von Bussmann/Lüdemann auch Aushandlungen im Strafprozess charakterisiert. Aus ihren vergleichenden Untersuchungen der „Deals“ in allgemeinen Strafverfahren und Wirtschaftsstrafprozessen ergibt sich, dass Aushandlungen in Wirtschaftsstrafverfahren normale Regelpraxis sind (1995:45) und statushohe Beschuldigte geringeren Strafverfolgungsrisiken unterliegen. Maßgebend dafür, dass die Wahrscheinlichkeit von Aushandlungen für Wirtschaftsstraftäter im Verhältnis zu anderen Angeklagten einseitig erhöht wird, sind klassenjustizielle Effekte: die prozessuale Durchsetzungsfähigkeit der Wahlverteidiger in Wirtschaftsstrafverfahren, die statushöheren Angeklagten zugeschriebene höhere Strafempfindlichkeit (1995:67) sowie ein günstigeres Verfahrensklima (1995:68), die Perzeption von Strafmilderungsgründen und im Hinblick auf restitutive Verfahrensziele die bessere sozialstrukturelle Lebenslage (1995:174).

Loïc Wacquant charakterisiert unter anderem aufgrund der Analyse der Inhaftierungsrate in den USA, die sich seit Mitte der 1970er bis zum Jahr 2000 trotz stagnierender bzw. abnehmender Kriminalität verfünffacht hat, und der Zielgruppen von Haftstrafen drei Funktionen der explosionsartigen Zunahme der Reichweite und Intensität des Strafrechts, die in Wechselbeziehung zueinander stehen und im Wesentlichen der neuen polarisierten Klassenstruktur entsprechen: „Das Wegsperren“ dient „dazu, die überzähligen Fraktionen der Arbeiterklasse […] physisch zu neutralisieren und zu verwahren“. Bestrafen erfüllt die „zugleich ökonomische und moralische Funktion, bei den etablierten Fraktionen des Proletariats und den absteigenden und ungesicherten Schichten der Mittelklasse die Disziplin der desozialisierten Lohnarbeit durchzusetzen“. Vor allem aber dient der grenzenlose Aktivismus der Strafverfolgungsinstitutionen für die Oberklasse und die Gesellschaft insgesamt dem symbolischen Zweck der Bekräftigung der Autorität des Staates, die Grenze zwischen ehrenwerten Bürgern und devianten sozialen Gruppen, zwischen den „würdigen“ und „unwürdigen“ Armen zu markieren (2009:16). Nach den Untersuchungen Wacquants kommen die Gefängnisinsassen in den postindustriellen Ländern überwiegend aus den prekären Sektoren des städtischen Proletariats. Haftstrafen treffen überproportional häufig die nach allen ökonomischen und kulturellen Maßstäben sozial schwächsten Gruppen, und zwar um so härter, je ärmer sie sind (2009:282).


Literaturverweise/Weblinks

  • Bussmann, Kai-D./Lüdemann, Christian: Klassenjustiz oder Verfahrensökonomie? Aushandlungsprozesse in Wirtschafts- und allgemeinen Strafverfahren. Pfaffenweiler 1995.
  • Dahrendorf, Ralf: Bemerkungen zur sozialen Herkunft und Stellung der Richter an Oberlandesgerichten. In: Hamburger Jahrbuch für Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik. Tübingen 1960, 260-275.
  • Feest, Johannes/Blankenburg, Erhard: Die Definitionsmacht der Polizei. Strategien der Strafverfolgung und soziale Selektion. Düsseldorf 1972.
  • Fraenkel, Ernst: Zur Soziologie der Klassenjustiz. Darmstadt 1968, 1-41.
  • Lautmann, Rüdiger/Peters, Dorothee: Ungleichheit vor dem Gesetz. Strafjustiz und soziale Schichten. In: Vorgänge 1973 Nr. 1, 45-54.
  • Lewrenz, Herbert u.a.: Die Strafzumessungspraxis bei Verkehrsdelikten in der Bundesrepublik Deutschland. Hamburg 1968.
  • Liebknecht, Karl: Rechtsstaat und Klassenjustiz. Gesammelte Reden und Schriften. Band II. Berlin 1960, 17-42.
  • Peters, Dorothee: Richter im Dienst der Macht. Zur gesellschaftlichen Verteilung der Kriminalität. Stuttgart 1973.
  • Rottleuthner, Hubert: Klassenjustiz? In: Kritische Justiz 1969, 1-26.
  • Sack, Fritz: Klassenjustiz und Selektionsprozesse. In: Vorgänge 1973 Nr. 1, 55-60.
  • Sack, Fritz: Neue Perspektiven in der Kriminologie. In: Ders. u. König, René: Kriminalsoziologie. Frankfurt/M. 1968, 430-475.
  • Schumann, Karl F./ Winter, Gerd: Zur Analyse des Strafverfahrens. In: Kriminologisches Journal 1971 Nr. 3, 137-166.
  • Wacquant, Loïc: Bestrafen der Armen. Zur neoliberalen Regierung der sozialen Unsicherheit. Opladen & Farmington Hills 2009.