Kindstötung

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Unter Kindstötung wird die Tötung des eigenen Kindes durch einen Elternteil verstanden. Dabei wird entsprechend des Alters des Kindes zum Zeitpunkt der Tötung unterschieden zwischen Neonatizid (Tötung binnen 24 Stunden nach der Geburt durch die Mutter), Infantizid (Tötung im Alter zwischen einem Tag bis zu einem Jahr) und Filizid (Tötung im Alter über einem Jahr). Die Wahrscheinlichkeit der Kindstötung durch einen Elternteil nimmt mit steigendem Lebensalter des Kindes ab. Sie ist abzugrenzen von Tötungen als Folge von Misshandlungen sowie von Tötungen durch andere Täter als den leiblichen Eltern.

Kulturgeschichte

Es handelt sich bei der Kindstötung um ein in allen Gesellschaften und zu allen Zeiten bestehendes Phänomen. In der Antike war der Kindsmord bzw. die Aussetzung ein dem Vater vorbehaltenes Recht, während die Tötung durch die Mutter nicht nur wegen der Tat als solchen, sondern auch wegen der Missachtung der patriarchalen Gewalt bestraft wurde. Opfer wurden vor allem weibliche Nachkommen und Kinder, die mit Fehlbildungen zur Welt kamen. Dabei spielten ökonomische Gründe eine große Rolle. Während in armen Familien Kinder aus Angst vor Versorgungsnot getötet wurden, galt der Kindsmord in reichen Familien als Mittel zur Regulierung der Machtverhältnisse. Bis heute gibt es Kulturen, in denen die Tötung vor allem von weiblichem Nachwuchs nicht selten der Fall ist. Die Geburt von Mädchen stellt in diesen Gesellschaften unter anderem vor dem Hintergrund des fehlenden Beitrags zur Steigerung des Familieneinkommens eine finanzielle Belastung dar, weshalb sie als wertlos gelten.

Im Mittelalter und im Gemeinen Recht wurde der Kindsmord durch einen Elternteil mit der Todesstrafe geahndet. Während diese auf die Mutter in voller Härte angewandt wurde, blieb der Vater zumeist weiterhin von Strafverfolgung verschont. Geregelt wurde das geltende Recht in der Constutio Criminalis Carolina von 1532, die für das Deutsche Reich erstmals eine einheitliche Grundlage darstellte. Da christliche Werte hierbei eine wesentliche Rolle spielten, verschärfte sich die Situation lediger Mütter. Sie verstießen sowohl durch den Kindsmord als solchen gegen göttliches Gebot als auch durch sittenwidriges und unzüchtiges Verhalten in Form des Beischlafs außerhalb der Ehe.

Erst in der Zeit der Aufklärung fand allmählich eine Humanisierung des bis dahin geltenden Strafrechts statt. Die Todesstrafe wegen Kindsmord wurde Ende des 18. Jahrhunderts durch die Entstehung von Zucht- und Frauenhäusern durch lebenslängliche Haftstrafen abgelöst. Vor allem die Situation lediger Mütter wurde Anfang des 19. Jahrhunderts grundlegend neu bewertet. Wo zunächst besonders hartes Vorgehen in der Bestrafung von Kindsmord durch Mütter unehelich geborener Kinder gefordert wurde, setzte eine erste Privilegierung dieser vor dem Hintergrund ein, dass die Tötung der eigenen Ehrenrettung diene und Ursache einer verminderten Zurechnungsfähigkeit durch den Vorgang der Geburt sei. Dieser Sonderstellung wurde im Folgenden durch § 217 des Reichstrafgesetzbuches (RStGB) von 1871 Rechnung getragen und bei vorliegendem Tatbestand nicht mehr von Kindsmord, sondern von Kindstötung gesprochen.

Rechtslage

Bis 1998 wurde die Kindstötung binnen 24 Stunden nach der Geburt, also der Neonatizid, unter bestimmten Voraussetzungen im Rahmen des § 217 des Strafgesetzbuches (StGB) gesondert geregelt. Vorläufer hierfür war § 217 RStGB. Er lautete zuletzt wie folgt:

"(1) Eine Mutter, welche ihr nichteheliches Kind in oder gleich nach der Geburt tötet, wird mit Freiheitsstrafe nicht unter drei Jahren bestraft.

(2) In minder schweren Fällen ist die Strafe Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren."

Das Gesetz räumte Müttern nichtehelicher Kinder eine Sonderstellung ein, die zum einen die Ehrenrettung vor dem Hintergrund des vorehelichen Geschlechtsverkehrs und zum anderen die besondere psychische und physische Belastung der Geburt als solcher berücksichtigte, unabhängig davon, ob dieser Sachverhalt tatsächlich zutraf. Dieses Gesetz fand keine Anwendung bei Kindstötungen durch Mütter von ehelich geborenen Kindern. In diesen Fällen lautete das Urteil je nach zugrundeliegendem Sachverhalt Totschlag (5-15 Jahre Freiheitsstrafe), oder Mord (lebenslängliche Freiheitsstrafe).

Im Rahmen des 6. Strafrechtsreformgesetzes vom 26. Januar 1998 wurde der § 217 StGB und damit die strafrechtliche Privilegierung der Mütter unehelicher Kinder aufgehoben. Begründet wurde die Aufhebung damit, dass zum einen die Geburt eines unehelichen Kindes gesellschaftlich keine Schande und damit keine besondere Belastung mehr darstellt und zum anderen, dass die psychische und physische Ausnahmesituation der Geburt für alle Mütter den gleichen Stellenwert hat. Seit Aufhebung des § 217 StGB gelten im Falle eines Neonatizids, wie schon vorher für die Tötung ehelich geborener Kinder und den Infantizid und Filizid, entsprechend die §§ 211-213 StGB (Totschlag, Mord, minder schwerer Fall des Totschlags) und § 221 StGB (Aussetzung)[1].

Die Entscheidung, § 217 StGB aufzuheben, statt ihn auch auf Mütter ehelicher Kinder anzuwenden, ist umstritten. Der gegebenenfalls besonderen Belastung der Mütter durch den Vorgang der Geburt kann seither lediglich durch die Anwendung des § 213 StGB Rechnung getragen werden. Durch das Fehlen einer einheitlichen Regelung müssen außerdem durch das Strafrecht eine Vielzahl von unterschiedlichen Fallkonstellationen berücksichtigt werden.

Motive und Häufigkeit

Zur Erklärung des Phänomens der Kindstötung werden die folgenden drei Ansätze herangezogen:

  • Klinisch-psychiatrisch: Tötung des Kindes aufgrund einer psychopathologischen Störung, wie zum Beispiel bei Vorliegen einer Psychose.
  • Psychologisch: Gründe für die Tötung des Kindes, die in der Persönlichkeit des Elternteils liegen. Hierzu zählt zum Beispiel die persönliche Unreife.
  • Systemtheoretisch: Gesellschaftliche Phänomene, zum Beispiel das Erleben von Kinderfeindlichkeit, oder die empfundene Überidealisierung von Elternschaft und das Gefühl, der Rolle und den Erwartungen nicht gerecht zu werden.

Daneben wird unterschieden zwischen:

  • Altruistischen Motiven: Das eigene Kind wird mit der Absicht des Selbstmordes getötet, auch erweiterter Suizid genannt, bzw. um es vor realem oder angenommenem Leid, wie zum Beispiel aufgrund einer Behinderung des Kindes, zu bewahren.
  • Psychotischen Motiven: Das Kind wird vor dem Hintergrund von psychotischen Symptomen, wie Wahnvorstellungen, getötet.
  • Tötung von unerwünschten Kindern.
  • Tötung des Kindes aufgrund erschöpfter Alltagsressourcen.
  • Tötung des Kindes, um sich am Partner zu rächen und ihm Leid zuzufügen.
  • Unfällen und unbeabsichtigter Tötung als Folge von Misshandlung (gilt nicht im Sinne der oben genannten Definition).

Die Tatsache, dass einer Kindstötung vielfältige Motive zugrunde liegen können und sie keinen eigenen Straftatbestand darstellt, spiegelt sich in Aussagen über deren Häufigkeit wider. Es gibt keine amtliche Statistik über die bekannt gewordenen Fälle und in der Polizeilichen Kriminalstatistik werden sie entsprechend der Zuordnung zu den verschiedenen Tötungsdelikten ebenfalls nicht separat aufgeführt. Daneben ist von einem nicht unerheblichen Dunkelfeld durch nicht als solche erkannte bzw. bekannt gewordenen Fälle auszugehen, die eine Aussage über die Häufigkeit zusätzlich erschweren. Schätzungen gehen allerdings von circa einer Kindstötung auf 25.000 Geburten aus[2].

Maßnahmen

Maßnahmen, durch die Kindstötungen verhindert werden sollen, setzen in aller Regel voraus, dass die eigene Situation entsprechend reflektiert wird, um von diesen Angeboten Gebrauch machen zu können. Das ist aber häufig nicht der Fall, da es sich für die Betroffenen um eine extreme Ausnahmesituation handelt, die nur wenig Raum für rationale Entscheidungen lässt. Vor diesem Hintergrund ist es von besonderer Bedeutung, dass Außenstehende mögliche Hinweise ernst nehmen und entsprechende Hilfsangebote machen.

Anonyme Geburt und Babyklappe

Bei der anonymen Geburt findet die Entbindung ohne Angaben von persönlichen Daten der Mutter bzw. der Eltern, aber unter ärztlicher Versorgung statt. Die Babyklappe ermöglicht es, Neugeborene anonym bei einer Institution mit entsprechender Vorrichtung in Obhut zu geben. Babyklappen werden in der Regel von sozialen Trägern der Schwangeren-, Kinder- und Jugendhilfe bzw. von Krankenhäusern bereitgestellt, entbehren allerdings einer gesetzlichen Grundlage. Vorteil der anonymen Geburt gegenüber der Babyklappe stellt die Möglichkeit dar, durch den Kontakt zur Mutter bzw. den Eltern beratend auf diese einwirken und dadurch gegebenenfalls eine alternative Entscheidung auslösen zu können. Nachteil beider Angebote ist unter anderem die Verletzung des Rechts des Kindes auf Kenntnis über seine Herkunft[3]. Darüber hinaus wird kritisch bemerkt, dass beide Maßnahmen keine Auswirkungen auf die Zahlen von Kindstötung und Aussetzung haben, die eigentliche Zielgruppe also nicht erreicht wird. Die Ursache wird darin gesehen, dass vor allem Mütter, die ihr Kind nach der Geburt töten, alle mit der Schwangerschaft und der Geburt zusammenhängenden Sachverhalte verdrängen und in ihrer vermeintlich ausweglosen Situation keine bewussten Entscheidungen treffen, die ihnen alternative Handlungsweisen ermöglichen.

Adoption

Die Freigabe des Kindes zur Adoption wird vor dem Hintergrund entschieden, dass die Mutter- bzw. Elternschaft abgelehnt wird. Sie Bedarf entsprechend der Zustimmung der Mutter bzw. der Eltern oder wird im Falle der Verletzung der elterlichen Pflichten durch das Vormundschaftsgericht geregelt. Da die Zustimmung frühestens acht Wochen nach der Geburt des Kindes erteilt werden kann, ist eine Abkehr von der zunächst geplanten Adoption durch die Mutter bzw. die Eltern möglich. Für das Kind besteht der Vorteil, dass im Falle einer Adoption sein Recht auf Kenntnis über die biologische Abstammung nicht verletzt wird.[4] Grundsätzlich gilt auch hier, dass die Kindstötung durch die Adoption nur dann verhindert werden kann, wenn sie als Handlungsalternative wahrgenommen bzw. Außenstehenden die Problematik bekannt ist und dahingehend beraten werden kann.

Frühe Hilfen

"Frühe Hilfen für Eltern und Kinder und soziale Frühwarnsysteme" ist ein Aktionsprogramm des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Das Programm wurde 2007 durch die Einrichtung des Nationalen Zentrums Frühe Hilfen (NZFH) vor dem Hintergrund der (auch vermehrt medial dargestellten) jüngsten Einzelfälle der Kindstötung bzw. der Kindesvernachlässigung und einer damit einhergehenden öffentlichen Diskussion über die Verantwortung der Gesellschaft ins Leben gerufen. Durch eine gezielte Vernetzung von Leistungen des Gesundheitswesens, der Kinder- und Jugendhilfe und eines zivilgesellschaftlichen Engagements soll ein Frühwarnsystem entstehen, dass belastete Mütter bzw. Familien mit Kindern vom vorgeburtlichen Alter bis zum Kleinkindalter von drei Jahren erkennt und in der Folge aufeinander abgestimmte und sich ergänzende Präventionsangebote bereitstellt.[5] Vorteil dieser Herangehensweise ist, dass die Unterstützung durch die beteiligten Stellen keine Handlungskompetenzen in einer Belastungssituation bei den Betroffenen voraussetzt.

Hilfen zur Erziehung

Hilfen zur Erziehung sind Bestandteil der Kinder- und Jugendhilfe und in § 27 des Achten Buches Sozialgesetzbuch (SGB VIII) geregelt. Die in diesem Rahmen gewährte Unterstützung reicht von ambulanten bis hin zu stationären Maßnahmen und stellt eine Ergänzung der elterlichen Erziehung dar. Die Wahl der Hilfeart und damit Inhalt und Form wird nach den Kriterien von Eignung und Notwendigkeit in Bezug auf den Einzelfall getroffen und reicht von Erziehungsberatung bis hin zur Heimerziehung (§§ 28-35 SGB VIII). Eltern haben ein Recht auf Hilfen zur Erziehung. Da die Inanspruchnahme allerdings impliziert, das Wohl des Kindes durch die eigene Erziehung nicht gewährleisten zu können, wird eine Zusammenarbeit zwischen Betroffenen und zuständigen Stellen erschwert.[6] Während die Hilfen zur Erziehung auf Freiwilligkeit beruhen und Präventionscharakter haben, greifen bei der Gefährdung des Kindeswohls familiengerichtliche Maßnahmen gem. § 1666 BGB mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und dem Vorrang öffentlicher Hilfen gem. § 1666a BGB [7].

Literatur

  • F. Häßler, R. Schepker, D. Schläfke (Hrsg.): Kindstod und Kindstötung. Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft, Berlin 2008, ISBN 978-3-939069-23-2.
  • Nahlah Saimeh: Die Tötung des eigenen Kindes. In: Jutta Elz (Hrsg.): Täterinnen. Befunde, Analysen, Perspektiven. Eigenverlag Kriminologische Zentralstelle, Wiesbaden 2009, ISBN 978-3-926371-86-7, S. 161-176 (Kriminologie und Praxis (KuP). Schriftenreihe der Kriminologischen Zentralstelle e.V. Band 58).
  • Dieter Dölling: Die Kindstötung unter strafrechtlichen Aspekten. In: Forensische Psychiatrie, Psychologie und Kriminologie. Springer Medizin Verlag GmbH c/o Steinkopff Verlag, Heidelberg 2009, Band 3, Nr. 1, S. 32-36.

Weblinks

Einzelnachweise