Neonatizid

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Neonatizid (lateinisch/griechisch: Neugeborenentötung) bezeichnet die Tötung eines neugeborenen Kindes. Resnick (1970) verweist auf die Zeitspanne von bis zu 24 Stunden nach der Geburt (1).

Die Tötung erfolgt aktiv - zumeist durch Ersticken, Ertränken, Erstechen - oder passiv in Form des Nichtversorgens. Mergen (1995) beschreibt die besondere Opferstellung des Kindes mit einer eingleisigen Täter - Opfer - Beziehung (2). Die Handlung kann als Einzel- oder Wiederholungstat erfolgen und primiparae oder pluripara auftreten.

Die Gründe einer Neugeborenentötung stehen im politisch - kulturell - ökonomischen und personell ursächlichen Kontext. Trautmann-Villalba und Hornstein (2007) benennen Kindstötungen "in allen Gesellschaften und zu allen Zeiten" (3). Je nach Fallkonfiguration unterscheiden sich das Geschlecht der Täter und Opfer, sowie die Einbeziehung weiterer Tatbeteiligter. Die Wertung der Neugeborenentötung und die darauf folgende soziale Reaktion unterliegen dem jeweils herrschenden Normensystem der Bezugsgesellschaft.

Ein Rückblick auf die Antike offeriert die selektive Tötung von Neugeborenen mit Behinderungen, aber ebenfalls die "nachgeburtliche Verhütung" der in Badehäusern / Bordellen gezeugten Kinder. Dölling (2009) führt aus, dass Tötungen durch den Vater zum Teil ohne negative Sanktion ergingen (4). Nachdem im Mittelalter eine massive Bestrafung, bei Frick und Lackner / Kühl wird auf das lebendige Begraben und Pfählen oder Ertränken der tötenden Mütter verwiesen (5), Einzug hielt, sorgte die Epoche der Aufklärung im europäischen Raum für die Humanisierung der strafrechtlichen Reaktion . Der Aspekt der Ehrenrettung und die zunehmende Betrachtung psychologisch - psychiatrischer Hintergründe der Tötungshandlung sorgten für weitere Differenzierung. Politischen Bezug erhält der Neonatizid z.B. durch staatliche Vorgaben zur Nachkommenschaft. Ökonomische Hintergründe wie Armut, Ressourcenknappheit und Überbevölkerung wurden u.a. bei Eskimostämmen und Nomadenvölkern recherchiert. Nach Harbort kam hierbei weder ein ethischer, noch ein juristischer Vorwurf zum Tragen.

In heutigen, westlichen Kulturkreisen werden die benannten Motive zur Tötung eines Neugeborenen weitestgehend ausgeschlossen. Die Kriminalisierungstheorie des Labeling Approach verdeutlicht Definitionsprozesse, welche auf ethisch - moralische Grundsätze, Menschenwürde und -rechte aufbauen. Psychologische und psychiatrische Persönlichkeitskonzepte dominieren die individuellen Erklärungsansätze.


Neonatizid im bundesdeutschen Kontext

Strafrechtlicher Hintergrund

Die Tötung von Neugeborenen ist in der Bundesrepublik Deutschland strafrechtlich relevant. Insbesondere unter Beachtung der Schuldfähigkeit, des Alters und der Tötungsabsicht des Tötenden - es handelt sich hierbei fast ausschließlich um Delikte durch die leibliche Mutter - gelten die §§211, 212, 213, 221 Abs.3, 222, 227StGB einzelfallbezogen. 1998 erfolgte mit Verweis auf eine zeitgemäße Sanktionierung, sowie der Beachtung des ggf. psychischen Ausnahmezustandes des Täters durch §213 StGB die nicht unumstrittene Aufhebung des §217 StGB als Sonderdelikt ggü. nichtehelichen Kindern.

Statistische Angaben

Datengrundlage aktueller Forschungen stellen die Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS), sowie die Todesursachenstatistik dar. Eine explizite Datenerhebung für Fälle von Neonatiziden existiert nicht. In der PKS werden Neugeborenentötungen in der Fallgruppe der Opfer von 0 bis 6,6 Jahren zugehörig erfasst. Die Todesursachenstatistik verweist auf entsprechende Fälle innerhalb der Altersdifferenzierung von 0 bis 1,1 Jahre. Eine Hochrechnung von Rohde benennt 1 Fall pro 25.000 Geburten, wobei nicht nur von ihr betont, eine nicht zu unterschätzende Dunkelziffer zusätzliche Beachtung finden muss (5). In einschlägiger Literatur werden Neonatizide inklusive Kindsaussetzungen mit ca. 30 Fällen pro Jahr angegeben. Noch vor 150 Jahren sei ein Auftreten von ca. 300 und um 1850 von mehreren Tausend Fällen rekonstruiert worden. Die Aufklärungsquote nach Opferfund liege bei 50 - 70 %.

Täterinnen

Das Kriminologische Forschungsinstitut Niedersachsen (KFN) realisiert seit 1997 eine Studie zu "Tötungsdelikten an Kindern unter 6 Jahren", welche die Kategorie der Neugeborenentötung beinhaltet. Höynck (2010) gibt zu bedenken, dass das Dunkelfeld, sowie die damit i.V. stehenden Fragen zum Ausmaß der Fallzahlen und dem Fehlen von Hellfeldvergleichen nicht unerheblich sind. Zur Tätertypologie benannt als "Die unsicheren Verdränger" werden folgende Aspekte hervor gehoben:

  • oft mit zunehmender Isolierung vom sozialen Umfeld einher gehend
  • meist ungewollte Schwangerschaft
  • oft intakte Beziehung zum Partner
  • keine Bindung zum betreffenden Kind, ggf. Überforderung durch Geschwisterkinder
  • z.T. depressiv, Borderlinestruktur
  • häufig negatives Selbstbild
  • oft fehlende Bewältigungs- / Problemlösestrategien und Impulssteuerung
  • die Geburt setzt überraschend ein und wird ohne fremde Hilfe vollzogen
  • die Tötung des Neugeborenen wird vor der Geburt nicht bewusst als Lösung in Betracht gezogen
  • überwiegend unter 30 Jahre alt, mit schwierigem Verhältnis zur eigenen Mutter
  • es handelt sich nicht überwiegend um sehr junge Mütter
  • meist ohne Ausbildung und überwiegend ohne eigenes Einkommen (6)

Rohde (2003) verweist auf junge, unreife Frauen mit erheblicher Persönlichkeitsproblematik im Sinne fehlender Reife und mangelnden Bewältigungsstrategien. Das Vorhandensein einer Suchterkrankung wird als begünstigender Faktor benannt, ggf. liegt eine psychische Störung vor. Meistens befinden sich die in der Außenwirkung selbstbewusst und kontaktfreudig wahrgenommenen Frauen in Ausbildung oder sind arbeitslos. Sie leben vorwiegend in einer festen Partnerschaft mit dem Kindsvater (7).

Wille und Beier (1994) tätigten entsprechend ihrer Studien folgende Aussagen:

  • das Durchschnittsalter liegt bei 21,8 Jahren
  • 75% sind ledig und 25% verheiratet
  • 27% leben zusammen mit dem Vater des Kindes; 56% leben im Haushalt ihrer Eltern
  • bei 30 bis 50% bestand die Partnerschaft mit dem Erzeuger
  • 40% befinden sich in Ausbildung, 25% sind Arbeiterinnen ohne Qualifikation, 25% sind qualifizierte Angestellte
  • ca. 50% besitzen einen geringen Bildungshintergrund
  • 82% unterzogen sich keiner ärtzlichen Betreuung
  • bei 50% sind psychopathologische Auffälligkeiten vorhanden (8)

Der Bezugsrahmen der jeweiligen Studie und die dabei einfließenden Datenmöglichkeiten sind mit Blick auf gesellschaftliche Prozesse zu beachten und zu gewichten.


Tat / Motive

Bereits Gerschow führte 1957 aus, dass ein "komplexes Motivbündel aus biografischen, konstellativen und konstitutionellen Faktoren, ... Verdrängung" als "das gemeinsame motivische Hauptmoment" vorliege. Er benennt als Gründe die Furcht vor sozialer Ausgrenzung, Armut und die Ablehnung durch den Partner bzw. das Elternhaus (9). Aus den Erörterungen im globalen und historischen Kontext wird deutlich, dass die Motivation zur Tötung eines Neugeborenen eine komplexe Variable darstellt. Die gegenwartsbezogene Literatur isoliert Motive der Armut und der sozialen Ausgrenzung ( in der Begrifflichkeit von Gerschow ) dahingehend, dass aktuelle Bezüge auf die Unerwünschtheit des Kindes, insbesondere durch den Partner / Kindsvater, sowie auf Überforderung und fehlende, adäquate Bewältigungsstrategien bei der Gebärenden verweisen. Auffälligkeiten seitens der Opfer sind nicht feststellbar. Die Neugeborenen mit gleichen Anteilen an Jungen und Mädchen sind zur Tatzeit gesund und ausgetragen.

Harbort fügt bisherige Erkenntnisse zu drei Kategorien zusammen: 1. Frauen, welche den Tot des Kindes bereits vor der Geburt planen 2. Frauen, welche die Schwangerschaft verheimlichen und passiv darauf hoffen, dass sich das Problem löst; bleibt dies aus, erfolgt die Tötung 3. Frauen, welche die Schwangerschaft negieren und / oder verdrängen und in der Geburtssituation panisch mittels Tötung reagieren (10).

In den bisherigen Auswertungen der KFN - Studie wird dargelegt, dass das Bemerken der Schwangerschaft sich mehr als ein Vermuten dieser darstellt. Die Verheimlichung und die Negierung der Schwangerschaft können fließend zur Verdrängung führen, welche vor allem durch die Fähigkeit zur starken Kontrolle von Emotionen nach außen (Fassade), sowie eine distanzierte Beziehung zu den Eltern und / oder Partner begünstigt wird. Insgesamt stelle die Tat einen problemorientierten Bewältigungsversuch dar, welcher das "defensive Bewältigungsbemühen in Form der Verdrängung" auch im Nachtatverhalten verdeutlicht.

Gerschow (1957) und Wille / Beier (1994) benennen übereinstimmend, dass sich psychische Abläufe der Verheimlichung und Verdrängung auf die physischen Schwangerschaftsanzeichen auswirken können. Gerschow konstatiert die Vermeidung intimer Situationen bei verheimlichten Schwangerschaften. Die Studie von Wille und Beier legt dar, dass sich verdrängende Schwangere unbefangen in Situationen in denen die Schwangerschaft bemerkt werden könnte, verhalten. Dies äußere sich z.B. in einem unveränderten Sexualverhalten.


Prävention und offene Fragen

In der Gesamtschau wird deutlich, dass Neonatizide im langfristigen Vergleich rückläufig sind und aktuell ein seltenes Phänomen darstellen. Zwischenstationen, welche hierfür in den letzten ca. 40 Jahren nicht unbeachtet bleiben sollen, sind die Anti-Baby-Pille, die Initiierung von Beratungsstellen, die gesetzlich eingeräumten Möglichkeiten zum Umgang mit ungewollten Schwangerschaften und Kindern... Gleichfalls erfolgte ein Wandel in der gesellschaftlichen Betrachtung lediger Mütter und in den allgemeinen wirtschaftlichen Verhältnissen. In die Betrachtung sollte auch der Aspekt der Anzahl der Schwangerschaftsabbrüche einfließen. Das Statistische Bundesamt in Wiesbaden benenne laut Durchblick e.V. / Embryonenoffensive seit 1996 jährlich zwischen rund 110.000 bis 135.000 Abtreibungen (11). Fragen zur ethischen Komponente des Umgangs mit behinderten Kindern in der vor- und nachgeburtlichen Phase bilden wiederkehrend bedeutende interdisziplinäre Herausforderungen. Das Angebot der Babyklappe wird kontrovers diskutiert. Seit Einführung dieser sei kein Rückgang der Neugebörenentötungen zu verzeichnen. Swientek verweist in diesem Bezug auf die panische, daher unüberlegte Reaktion der Mütter mit Einsetzen der unverhofften Geburt (12). Auffällig ist, dass ein Teil der Täterinnen in Gemeinschaft mit dem Partner bzw. ihren Eltern leben. Die Geburt erfolge, gleichfalls wie die Schwangerschaft, unbemerkt, teilweise während der Anwesenheit dieser Person(en) in einem anderen Zimmer der Wohnung. Der Aspekt der Mitschuld des Partners und / oder der Personen des sozialen Nahraumes ist prekär. Unbeantwortete Fragestellungen bleiben u.a. auch zu Aspekten der Auswirkung der Verringerung des Einstiegsalters hinsichtlich sexueller Kontakte, der Frage nach den Hintergründen und dem Stellenwert des Ausbleibens negativer Konsequenz als Verstärker von Serientaten, der Gründe der bewussten Wahl der Tötungshandlung als Problemlösestrategie, der aktuellen globalen Lage und der Vergleiche z.B.innerhalb der EU - Staaten.

In der Auswertung der benannten KFN - Studie werden Handlungsempfehlungen mit Blickrichtung auf die Bevölkerung und professionelle Hilfesysteme erteilt. Ziel ist die Verbreitung von Informationen zu Risikofaktoren und Verläufen auf allgemeiner und spezieller Ebene, die Optimierung der Vernetzung von Institutionen, sowie die Schaffung von Problemsensibilität.


Literatur

  • Dölling, D. (2009) Die Kindstötung unter strafrechtlichen Aspekten. http://www.springerlink.com/content/1862-7072/3/1/ Forensische Psychiatrie, Psychologie, Kriminologie (4)
  • Durchblick e.V. - Embryonenoffensive. www.embryonenoffensive.de/index.php/wir-ueber-uns (11)
  • Fischer, Matthias Die Tötung im sozialen Nahraum aus handlungstheoretischer Perspektive. aus B. Bojack/ H. Akli Die Tötung eines Menschen - Perspektiven, Erkenntnisse, Hintergründe. 2005 Verlag für Polizeiwissenschaft
  • Forens Psychiatr Psychol Kriminol (2009). 3:1–2 DOI 10.1007/s11757-009-0117-9. Forens Psychiatr Psychol Kriminol 1 2009 Kindstötung und erweiterter Suizid. Editorial
  • Gebel, Hanna (2006) Der Neonatizid - Wenn Mütter ihr Neugeborenes töten. Studienarbeit. Grin - Verlag
  • Harbort, S. (2008)Wenn Frauen morden. Eichborn (10)
  • Häßler, F. / Schepker, R. / Schläfke, D. (2008) Kindstot und Kindstötung. Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft, Berlin
  • Hornstein, C. / Trautmann - Villalba, P. (2007) Tötung des eigenen Kindes in der Postpartalzeit. Nervenarzt 78: 1290-1295 (3)
  • Hornstein, C. / Trautmann - Villalba, P. / Hohm, E. (2009) Die postpartale Bindungsstörung: Eine Risikokonstellation für den Infantizid? Forens Psychiatr Psychol Kriminol 3: 1-2.
  • Höynck, T. (2010) Tötungsdelikte an Kindern - erste Ergebnisse einer bundesweiten Studie, insbesondere zu Neonatiziden. KFN (6)
  • Höynck, T. (2010)Tötungsdelikte an Kindern - erste Eindrücke aus einem kriminologischen Forschungsprojekt. Hannover. KFN (6)
  • Kroetsch, Marlis (2011) Tötungsdelikte an Kindern unter 6 Jahren. KFN Forschungsbericht Nr.111. Hannover (6)
  • Kunz, K.-L. (2011) Kriminologie. Haupt Verlag
  • Lammel, M. (2008) Die Kindstötung in oder gleich nach der Geburt.Forensische Psychiatrie, Psychologie, Kriminologie. 2008;2(2):96
  • Marneros, Andreas (2003) Schlaf gut, mein Schatz. 1.Auflage. Bern.
  • Marneros, Andreas (1999)Kindstötung: Zur Frage der Schuldfähigkeit nach negierter Schwangerschaft.http://zdb-opac.de/SET=6/TTL=1/CMD?ACT=SRCHA&IKT=8506&TRM=1431469-1&PRS=HOL&HOLDINGS_YEAR=1999
  • Mergen, A. (1995) Die Kriminologie. 3. Auflage. München. Verlag Vahlen. (2)
  • Resnick, P (1970) Murder of the Newborn. A Psychiatric Review of Neonaticide. Amer. J. Psychiat. 126: 58-64.(1)
  • Rohde, A. (2003) Welche Mütter töten ihre Kinder?. Manuskript zum Vortrag auf der Veranstaltung von terres des hommes Deutschland e.V. 27./28.5.03. Bonn (5)(7)
  • Rohde,A. / Marneros, A. (2006)Geschlechtsspezifische Psychiatrie und Psychotherapie: ein Handbuch. Kohlhammer (9)
  • Steck, Peter Tötung als Konfliktreaktion: eine empirische Studie. aus B. Bojack/ H. Akli Die Tötung eines Menschen - Perspektiven, Erkenntnisse, Hintergründe. 2005 Verlag für Polizeiwissenschaft
  • terres des hommes. Veröffentlichungen zur Babyklappe
  • Swientek, C.(2001) Die Wiederentdeckung der Schande - Babyklappen und anonyme Geburt. Auflage: 1. Lambertus-Verlag (12)
  • Wiese, Annegret (1993) Mütter, die töten: psychoanalytische Erkenntnis und forensische Wahrheit. Wilhelm Fink Verlag, München (5)
  • Wille, R. / Beier,K. M. (1994) Verdrängte Schwangerschaft und Kindstötung: Theorie - Forensik - Klinik.(8)

Weblinks