Halt- und Bindungstheorien nach Travis Hirschi

Aus Krimpedia – das Kriminologie-Wiki
Zur Navigation springen Zur Suche springen

Die Halt- und Bindungstheorien nach Travis Hirschi [1] gehören zu den Kriminalitätstheorien und versuchen zu erklären, warum Personen kriminell werden. Sie fragen dabei nicht nach den Ursachen kriminellen Verhaltens, sondern befassen sich mit dem Umstand, dass sich trotz der natürlichen Neigung des Menschen zur Kriminalität die meisten Menschen sozial konform verhalten.

Hirschi [2] beschrieb zunächst in seinem Werk "Causes of Delinquency" [3] (1969) die ursprüngliche Version seiner Kontrolltheorie. Vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Änderungen in Zeiten von "Sex, drugs and civil rights" traten die bisherigen sozialen Institutionen wie Familie, Religion oder Bildungseinrichtungen in den Hintergrund. Der Zusammenbruch der typischen amerikanischen Familie führte zum Verlust sozialer Kontrollmechanismen.

Nach der Theorie der vier Bindungen ist der Grad der Einbindung des Individuums in die Gesellschaft der Maßstab für die Angepasstheit seines Verhaltens. Die Bindungen sieht Hirschi auf folgenden 4 Ebenen:

• attachment to meaningsfull persons - die emotionale Bindung, die ein Individuum zu seinen Bezugspersonen hat, erzeugt eine ständige Verpflichtung, sich mit Rücksicht auf diese Bezugspersonen sozial konform zu verhalten

• commitment to achievement – das Verpflichtungsgefühl gegenüber dem bisher Erreichten und das Vorhandensein eines legalen Besitzstandes, der durch kriminelle Handlungen aufs Spiel gesetzt werden würde, überwiegt als Kostenfaktor bei der Entscheidung gegenüber dem möglichen kriminellen Nutzen.

• involvement in conventional activities – eine berufliche und freizeitliche strukturierte Einbindung in konventionelle Tätigkeiten lässt keine Zeit und keine Gelegenheit für abweichendes Verhalten oder Kriminalität.

• belief in social rules - die innere Akzeptanz des konventionellen Wertesystems hält die eigene Wertorientierung in Übereinstimmung mit den gesellschaftlichen Normen und Werten. Es gibt keine Konflikte und Unverträglichkeiten durch eine subkulturelle Orientierung.

Die Bindungstheorie bezieht sich auf die verhaltensstabilisierende Kraft des Zusammenspiels von Selbst- und Fremdkontrolle: je geringer die Selbstkontrolle durch Verinnerlichung dieser Bindungen ist, desto stärker muss die äußere Kontrolle ausfallen, um kriminelles Verhalten abzuwenden und umgekehrt.

Diesen Ansatz hat Hirschi zusammen mit Michael R. Gottfredson [4] in dem Werk „A general theory of Crime“ [5] zu einer Theorie der Selbstkontrolle erweitert. Hiermit haben sie den Versuch unternommen, eine Theorie zu entwickeln, die Kriminalität in ihrer Gesamtheit erfasst und erklärt. Die Eigenart kriminellen Verhaltens wird von Gottfredson und Hirschi darin gesehen, dass der Delinquent verfügbare Tatgelegenheiten und Tathemmnisse abschätzt und sich dann zu einem strafrechtlich verbotenen Tun entschließt.

Ausgangspunkt ihrer Überlegungen war eine Analyse des Verbrechens aus der Sicht der täglichen Polizei – und Gerichtspraxis. Kriminalität ist danach überwiegend eine spontane, strukturlose und in ihrer Ausführung triviale Tat, Straffälligkeit im Wesentlichen die Folge einer geringen Selbstkontrolle. Nach Hirschi kennzeichnen Impulsivität, Gefühlskälte und Risikofreudigkeit Personen mit geringer Selbstkontrolle. Treten kurzfristige Interessen mit langfristigen in Konflikt zueinander, orientieren sich Menschen mit geringer Selbstkontrolle in ihren Handlungen an den kurzfristigen Bedürfnissen. Menschen mit größerer Selbstkontrolle berücksichtigen bei ihrer Entscheidung die langfristig zu befürchtenden Sanktionen. Mangelnde Selbstkontrolle ist von einer starken Orientierung auf den Augenblick und der Unfähigkeit geprägt, die Zukunft angemessen in die Kosten – Nutzen – Kalkulation des Handelns einzubeziehen. Die Entstehung der Selbstkontrolle sehen die beiden Autoren in einem Zusammenspiel von angeborenen Neigungen eines Kindes und dessen Erziehung. Wenn Ansätze zu mangelnder Selbstkontrolle im Verhalten eines Kindes auftreten, kann dem durch die richtige Erziehung entgegengewirkt werden. Die Hauptursache für das Wirksamwerden der mangelnden Selbstkontrolle in kriminellen Handlungen liegt somit in der Sozialisation.

Die wichtigsten Sozialisationsinstanzen Familie, Peer group, Schule und Beruf bieten die Möglichkeit, ein höheres Maß an Selbstkontrolle entstehen zu lassen. Darüber hinaus gibt es eine Reihe weiterer Indikatoren, die Einfluss auf das Auftreten von abweichendem Verhalten haben. Hierzu zählen Alter, Geschlecht und ethnische Zugehörigkeit.

Hirschis Überlegungen münden in kriminalpolitische Vorschläge, die darauf abzielen, die Kriminalitätskontrolle in stärkerer Gewichtung auf die Gesellschaft und den einzelnen Bürger zu übertragen. So sollen den Ursachen für das Entstehen der geringen Selbstkontrolle entgegengewirkt werden.

Kritik

Die Wirkungsweise der inneren und äußeren Kontrolle und ihre Bedeutung für die Kriminalität wurden bislang nicht eindeutig empirisch nachgewiesen. Durch die theoretische Relation von Sozialisation und Verbesserung der Selbstkontrolle besteht die Gefahr einer Schuldzuweisung an die Sozialisationsinstanzen. Die Theorie von Gottfredson und Hirschi stellt insgesamt einen Ansatz dar, der die Perspektive der sozialen Kontrolle aufnimmt, soziale und individuelle Bedingungen berücksichtigt, dabei aber traditionell verhaften bleibt. Er stellt eine Verknüpfung der Rational-Choice-Theorie [6] mit der Sozialisationstheorie dar und erklärt kriminelles Handeln vor allem durch die fehlende soziale Kontrolle in der Kindheit, die zu einem Defizit bei der Ausbildung der Selbstkontrolle und damit zu Einschränkungen bei rationalen Entscheidungsfindungen führt.

Literatur

Travis Hirschi: Causes of Delinquency (1969)

Travis Hirschi/Michael Gottfredson: A General Theory of Crime (1990)


Kurzdarstellungen findet sich in folgenden deutschsprachigen Büchern:

Göppinger, Hans: Kriminologie, 6. Auflage, München 2008, S. 130 - 132

Kunz, Karl-Ludwig: Kriminologie, 4. Auflage Bern/Stuttgart/Wien 2004, S. 163 - 166

Lamnek, Siegfried: Neue Theorien abweichenden Verhaltens, 2. Auflage, München 1997, S. 120 - 167

Schwind, Hans-Dieter: Kriminologie, 20. Auflage, Heidelberg 2010, S. 120 f.

Weblinks

http://www.criminology.fsu.edu/crimtheory/hirschi.htm

http://www.amazon.com/s?ie=UTF8&rh=n%3A283155%2Cp_27%3ATravis%20Hirschi&field-author=Travis%20Hirschi&page=1

http://socialecology.uci.edu/faculty/gottfred

http://www.cfkeep.org/html/snapshot.php?id=1065903344253