Gefängniskunde

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Die Gefängniskunde war ein vor allem während des 18. und 19. blühendes Wissensgebiet, in dem "Praktiker" wie "Theoretiker" Erfahrungen über verschiedene Haftsysteme austauschten und nach der besten Art des Strafvollzugs suchten. Sie war seit der "Geburt des Gefängnisses" (Michel Foucault) eng verknüpft mit der "Gefängnisreformbewegung". Eine große Rolle spielten in der deutschsprachigen Gefängniskunde der Prediger Heinrich Balthasar Wagnitz (1755-1838) mit seinen Veröffentlichungen über die "moralische Verbesserung der Gefangenen" (1787) und über seine "Ideen und Pläne zur Verbesserung der Polizey- und Kriminalanstalten" (1801-1803). Nach dem Vorbild von John Howard und dessen Bericht über "The State of Prisons in England and Wales... and an Account of Some Foreign Prisons" (1777) publizierte Wagnitz im Jahre 1792 "Historische Nachrichten und Bemerkungen über die merkwürdigsten Zuchthäuser in Deutschland", in denen er Missstände anprangerte und Reformen anmahnte. Als eigentliche Begründer der Gefängniskunde können wohl der Hamburger Arzt Nikolaus Heinrich Julius (1783-1862) und der Heidelberger Strafrechtsprofessor Karl Josef Anton Mittermaier (1787-1867) gelten. Um ihre Zeit stand die Freiheitsstrafe bereits unbestritten im Mittelpunkt des Sanktionensystems. Auch waren höchste Hoffnungen auf die moralische Besserung mit dieser Strafe verbunden. Die Vorbilder für die bestmögliche Organisation der Freiheitsstrafe holte man sich aus den USA. Neben dem Frankfurter Arzt und Mitherausgeber der Jahrbücher für Gefängniskunde, Georg Varrentrapp (1809-1886), war auch Johann Hinrich Wichern (1808-1881) von Bedeutung. Er - der Gründer des "Rauhen Hauses" und "Inneren Mission" sowie angeblich auch der Erfinder des Adventskranzes - übte entscheidenden Einfluss auf Planung und Bau des "Mustergefängnisses" in Berlin-Moabit (1849) aus und diente auch König Friedrich Wilhelm IV. als Beauftragter für die Reform des Gefängniswesens.

Die Gefängniskunde war eine transdisziplinäre Wissenschaft, die aus verschiedenen Gründen nach 1870 an Bedeutung verlor. Zum einen griff die Kriminologie einige ihrer Fragestellungen auf und spaltete sie gewissermaßen fachlich vom Diskurs der Gefängniskunde ab. Dadurch verengte sich deren Spektrum. Die einst offenen und vielperspektivischen Diskussionen reduzierten sich immer mehr auf die engeren Fragestellungen der praktischen Strafvollzugskunde. Hinzu kam, dass die erhofften Besserungserfolge ausblieben. Eine fundamentalere Ursache für den Niedergang der Gefängniskunde bestand wohl in der Bornierung der Perspektiven durch die Einhegung der Diskussion auf die Grenzen der jeweiligen Nationalstaaten. Ähnlich wie die Rechtsvergleichung, so lebte auch die Gefängniskunde von der Offenheit des kosmospolitisch aufgeschlossenen Klimas im Vormärz. Nach 1848 setzten parallel die Nationalisierung und die Positivierung der Wissenschaften ein und begruben diejenigen transnationalen und transdisziplinären Netzwerke, die sich offen mit radikalen und liberalen Ideen befassten unter der Last eines national-positivistischen Autoritarismus: "Dies wiederum macht deutlich, dass die Gefängniskunde ... einer Art supranationaler, politischer Opposition (entsprach), welche mit der Konsolidierung der Nationalstaaten in Mitteleuropa ihre gemeinsame Klammer verlor" (Gerhard Koebler 2006, Internetrezension; s. Links).



Literatur

  • Jahrbücher für Gefängniskunde
  • Das Netzwerk der „Gefängnisfreunde“ (1830-1872). Karl Josef Anton Mittermaiers Briefwechsel mit europäischen Strafvollzugsexperten, hg. und bearb. v. Riemer, Lars Hendrik (= Studien zur europäischen Rechtsgeschichte 192, 1, 2 = Juristische Briefwechsel des 19. Jahrhunderts), 2 Halbbände. Klostermann, Frankfurt am Main 2005. XIV, 1-1070, XXX, 1071-1908 S.
  • Mittermaier, Wolfgang (1954): Gefängniskunde. Ein Lehrbuch für Studium und Praxis. Vahlen, Frankfurt.

Links

http://www.koeblergerhard.de/ZRG123Internetrezensionen2006/DasNetzwerkderGefaengnisfreunde.htm