Erinnerungspolitik

Erinnerungspolitik ist die Gesamtheit der Handlungen, die auf eine bestimmte (Neu- oder Um-)Gestaltung des Bildes von der Vergangenheit abzielen. Es geht um die - meist nicht ganz ohne Konflikte ablaufende - Auswahl dessen, was der Erinnerung für würdig befunden wird und um die Auswahl der Formen und Bewertungen, der Mechanismen und Bedingungen, welche diese Inhalte transportieren (sollen), in denen also das Alte den kommenden Generationen überliefert wird, bzw. überliefert werden soll.


Kriminologische Relevanz

Erinnerungspolitik gibt es auch in Bezug auf Täter und Opfer von Straftaten. Dabei steht die Geschichte (nach Nietzsche) im Dienste der Bewahrenden und Verehrenden, aber auch der Unterdrückten und der Befreiung Bedürftigen - und nicht zuletzt der Tätigen und Strebenden. Was für die einen wahr und nützlich erscheint, kann anderen allerdings wie Unwahrheit oder Verleumdung erscheinen. Daher rühren viele erinnerungspolitische Konflikte. Unterschiedliche Beispiele für erinnerungspolitische Konflikte betreffen etwa das Gedenken an die Rolle der KPdSU in Russland oder an die indische Erinnerung an die Gründung von Pakistan; weitere Beispiele sind etwa das Massaker von Katyn, das Thema Auschwitzlüge oder um die Umbenennung der Meiserstraße in München.

Erinnerungspolitik in Bezug auf das in den Kategorien von "Tätern" und "Opfern" betrifft auch den Wandel moralischer Bewertungen in der Form von Festschreibungen durch Ritualisierungen oder gesetzliche Bestimmungen sowie das Gedenken an die Opfer von Straftaten. Am Beispiel des individuellen Konflikts zwischen Erkenntnis und Interesse brachte Friedrich Nietzsche den Zielkonflikt und die Risiken der Erinnerungspolitik in dem Aphorismus auf den Begriff: "'Das habe ich getan', sagt mein Gedächtnis. 'Das kann ich nicht getan haben', sagt mein Stolz und bleibt unerbittlich. Endlich - gibt das Gedächtnis nach."

Methoden

Weglassen

  • Als 1999 der dritte Band der Briefe Gershom Scholems erschien, fehlten Scholems Briefe an Ernst Jünger - und es fehlte auch jeder Hinweis auf ihre Existenz. Lorenz Jäger (2009) schrieb dazu: "Bis heute konnte die Vermutung nicht ausgeräumt werden, dass für diese Entscheidung nicht sachliche, sondern politische Überlegungen die Hauptrolle spielten: Jünger galt vielen als 'Wegbereiter des deutschen Faschismus'." Ähnlich war man bei der ersten Ausgabe der Briefe von Walter Benjamin vorgegangen. Dort ließ man die Schreiben an Carl Schmitt und Ludwig Klages weg, "weil man sie in den sechziger Jahren für politisch verfänglich hielt". Erst Jahrzehnte später wurde die Lücke durch die Veröffentlichung der Briefwechsel in der Zeitschrift Sinn und Form geschlossen.
  • Der 15 Jahre alte Auke Siebe Dirk de Leeuw hatte 2012 den jährlichen Gedichtwettbewerb zum niederländischen Befreiungstag (5.5.1945) gewonnen und sollte seine Verse mit dem Titel 'Falsche Wahl' am 4.5.2012 vortragen: "Die 'falsche Wahl' war die seines Großonkels, der sich nicht dem Widerstand anschloss, sondern offenbar als Angehöriger der Waffen-SS an der Ostfront fiel. Der Schüler schrieb von der 'falschen Armee mit falschen Idealen', in der sich sein Großonkel ein besseres Leben erhofft habe. 'Mein Name ist Auke Siebe Dirk, ich wurde benannt nach Dirk Siebe, weil auch Dirk Siebe nicht vergessen werden darf.'. Erst schlug das 'Informations- und Dokumentationszentrum Israel' Alarm, dann drohte das Auschwitz-Komitee mit Boykott. Also strich das Nationalkomitee das Gedicht aus dem Programm. Doch das Land stritt weiter. Beim Gedenken und Feiern seien Gefühle und Tabus im Spiel, sagt Jan van Kooten", der Direktor des Befreiungstags-Nationalkomitees (FAZ 3.5.2012).

Kriminologie

Erinnerungspolitik in der Kriminologie betrifft die Gestaltung des Bildes von den Ursprüngen und von der Entwicklung sowie von der wissenschaftlichen Bedeutung und sozio-politischen Funktion der Kriminologie. Es gibt bestimmte schematisierte "accounts" oder "narratives" über die "Urväter" der Kriminologie (Beccaria, Lombroso ...) und über den "Fortschritt" der Wissenschaft zwischen dem Zeitalter der Aufklärung und der heutigen Zeit.

Kriminalpolitik

Erinnerungspolitik in der Kriminalpolitik betrifft die Gestaltung des Bildes von den Ursprüngen, der Entwicklung und der Nützlichkeit der Institutionen und der von ihnen verfolgten Strategien.

Strafgesetzgebung

  • Drei Abgeordnete der Partei Israel-Beitenu fordern ein neues Gesetz, das denjenigen bis zu drei Jahren Haft androht, "die darüber trauern, was sie nach dem 15. Mai 1948 verloren haben" (Nakba; Katastrophe; Flucht und Vertreibung durch die Gründung des Staates Israel). Gegen diesen Gesetzentwurf wird eingewandt, dass es Gleichheitsprinzipien verletze, wenn Israel, das einerseits alles dafür tut, die Erinnerung an den Holocaust wach zu halten, andererseits von arabischen Israelis (20% der Bevölkerung) verlange zu verleugnen oder totzuschweigen oder zu verdrängen, was ihr geschehen sei. Auch wird kritisiert, dass ein entsprechendes Gesetz die Redefreiheit (weiter) einschränke und ein Menschenrecht - nämlich Trauer über eine Katastrophe zum Ausdruck zu bringen - verletze (Rößler 2009).

Polizei

Auch bei der Polizei betrifft Erinnerungspolitik die beiden zentralen Fragen, wer oder was als des Gedenkens für würdig ausgewählt wird und in welcher Form dieses Gedenken organisiert wird.

  • Gedenkwürdigkeit

(1) Getötete Polizisten

In den USA gibt es Gedenkstätten für im Dienst getötete PolizistInnen (sog. National Law Enforcement Officers Memorials). Das Georgia Public Safety Memorial in Forsyth, Georgia, USA, ist eine Säulen-Rotunde mit den in Stein gemeißelten Worten "WITH HONOR THEY SERVED". Es ist im Internet zu sehen unter der Adresse: http://georgiacops.com/GA%20Fallen%20Heros.htm

In Deutschland fragte der Bund Deutscher Kriminalbeamter (Verband Bund) unter Hinweis auf "die Morde an unseren Kollegen u.a. vom BKA und der Bundespolizei in Afghanistan (...), die einem hinterhältigen Sprengstoffanschlag zum Opfer fielen", ob "Bundesinnenminister Dr. Wolfgang Schäuble das Gedenken an getötete Polizisten egal" sei und forderte aufgrund seiner "Auffassung, dass unsere Kolleginnen und Kollegen, die im Dienst ihr Leben gelassen haben, ein ehrendes Andenken verdienen und in unserer schnellebigen Welt nicht dem Vergessen anheim fallen dürfen!", "eine Gedenktafel, eine Säule oder eine andere würdige Form angemessenen Gedenkens" (der kriminalist 07-08.2008, S. 327).

Auf Landesebene finden sich Gedenkstätten, so im Polizeipräsidium Berlin/Platz der Luftbrücke.

(2) Getötete Polizeiopfer

In den USA gibt es keine Gedenkstätten für die Opfer von Polizeilichem Machtmissbrauch (Victims of Police Brutality). Grund dafür ist wohl weniger ein Mangel an Opfern von polizeilichem Machtmissbrauch als vielmehr die Nichtexistenz einer genügend starken Interessenvertretung, die das Interesse an einem würdigen Mahnmal auch gegen widerstreitende Interessen (z.B. der Polizei) durchsetzen könnte.

Dass es keinen Mangel an Anlässen gäbe, zeigen Einzelfälle und Statistiken. Zu den Einzelfällen gehören

  • die auf Video aufgenommene Misshandlung von Rodney King
  • der Tod einer 92jährigen Frau am 21. 11. 2006 in ihrem Haus in Atlante, Georgia. Sie wurde von Polizisten getötet, die gegenüber dem FBI, das den Fall untersucht, angaben, eine Drogenrazzia durchgeführt zu haben
  • der Tod des arg- und wehrlosen 23jährigen Sean Bell am Abend seines Junggesellenabschieds durch mindestens 50 Kugeln, die fünf Undercover-Polizisten aus geringer Entfernung auf ihn abfeuerten.

Gerichte, Staatsanwaltschaften

Strafvollzug

Aufarbeitung der Vergangenheit des Auswärtigen Amts

  • Daniel Koerfer (2013) Diplomatenjagd. Joschka Fischer, seine Unabhängige Historikerkommission und 'Das Amt`. Potsdam: Strauss.


Internationales

Indiens Erinnerung an die Gründung von Pakistan

Nach landläufiger nationalistischer Lehrmeinung lag die Schuld für die blutige Teilung von Britisch-Indien im Jahre 1947 bei Mohammed Ali Jinnah, dem späteren Gründer des Staates Pakistan. In der wissenschaftlichen Literatur hingegen wird die Auffassung vertreten, dass Jinnah von den zentralistisch gesonnenen hinduistischen Politikern Nehru und Patel gleichsam hinausgedrängt worden war, indem man der muslimischen Bevölkerung eine größere Autonomie innerhalb Indiens verwehrte. Als ausgerechnet ein prominentes Mitglied der nationalistischen Hindupartei BJP im Jahre 2009 in einem 600 Seiten dicken Buch über "Jinnah: India-Partition-Independence" erklärte, Jinnahs Rolle werde in Indien "dämonisiert", wurde der verdiente Ex-Minister per Telefonanruf aus der Partei geworfen und Indien hatte seinen erinnerungspolitischen Skandal, der durch das Verbot des Buches durch den radikal-hinduistischen und anti-muslimischen Ministerpräsidenten des Bundesstaats Gujarat (Modi) noch angeheizt wurde (Buchsteiner 2009).

Russlands Erinnerung an die KPdSU

Geschichtspolitische Weichenstellungen waren

  • der Verzicht auf eine reflexive Aufarbeitung der Sowjetzeit während der Jelzin-Ära (Bedeutung: Erschwerung des Systemswandels in Richtung auf Rechtsstaat und Demokratie durch Verzicht auf Abgrenzung gegenüber dem totalitären sowjetischen Erbe; Fein 2007)
  • Bildung einer Kommission gegen "Bestrebungen zur Verfälschung der Geschichte zum Nachteil der Interessen der Russländischen Föderation" durch Präsident Medwedjew im Mai 2009
  • Vorschlag des russischen Katastrophenschutzministers, General Sergej Schojgu, für einen Straftatbestand der Leugnung des Siegs der Sowjetunmion im Jahre 1945 ("Gesetz gegen das Infragestellen der entscheidenden Rolle der Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg"). Wer auch immer das Vorgehen der Roten Armee und der sowjetischen Geheimdienste als verbrecherisch bezeichnet, soll danach mit bis zu fünf Jahren Gefängnis und Geldstrafe bis zu einer halben Million Rubeln zu rechnen haben. Das gilt auch und inbesondere für die Regierungen benachbarter Republiken; wer nur für sich selbst spricht und kein Staatsamt innehat, würde mit drei Jahren Gefängnis bestraft werden (Ludwig 2009).

Quellen

  • Buchsteiner, Jochen (2009) Widerstand gegen den 'Paten'. FAZ 26.08.09.
  • Fein, Elke (2007) Rußlands langsamer Abschied von der Vergangenheit. Der KPdSU-Prozeß vor dem russischen Verfassungsgericht (1992) als geschichtspolitische Weichenstellung. Ein diskursanalytischer Beitrag zur politischen Soziologie der Transformation. Würzburg: Ergon.
  • Initiative des BDK Verbandes Bund für eine Gedenkstätte der Polizei - Ist Bundesinnenminister Dr. Wolfgang Schäuble das Gedenken an getötete Polizisten egal? in: der kriminalist 07-08/2008: 327.
  • Jäger, Lorenz (2009) Nachdenken über die Unvollkommenheit der Welt: Zur Vorgeschichte der Briefedition. FAZ 15.05.09: 33.
  • Ludwig, Michael (2009) Eine alleingültige Geschichtssicht. Das russische Parlament berät über ein Gesetz, das die Behauptung unter Strafe stellt, die Sowjetarmee ahbe Verbrtechen begangen. Es soll auch für ausländische Politiker gelten - ihnen werden Haftstrafen angedroht. FAZ 20.05.09: 6.
  • Rößler, Hans-Christian (2009) Gedenk-Anstöße aus Liebermans partei. Abgeordnete fordern Strafe für das Erinnern an die 'Nakba'. FAZ 27.05.09: 6.