Katyn

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In den Wäldern bei Katyn - einem Ort in der Nähe der westrussischen Stadt Smolensk - entdeckte die Wehrmacht 1943 Massengräber mit den Überresten von mehr als 4000 polnischen Offizieren. Die Wehrmacht lastete die Tat den Sowjets an. Die Sowjetunion hingegen gab den Vorwurf, den sie bis fast an ihr Ende aufrechterhielt, an das faschistische Deutschland zurück.

Stalin und sein engster Zirkel, insbesondere der Geheimdienstchef Berija, hatten die Offiziere durch den NKWD liquidieren lassen, um sich der polnischen Führungsschicht, die seit dem Einmarsch der Roten Armee in Ostpolen im September 1939 interniert war, zu entledigen. Das Massaker von Katyn im April 1940 war nur eines von vielen zwischen dem 03.04. und dem 19.05.1940 mit insgesamt wohl fast 22.000 getöteten polnischen Offizieren, Soldaten, Reservisten, Polizisten, Geistlichen und Intellektuellen.

Der Versuch von Familien der polnischen Stalinopfer, Russland zur Anerkennung der Taten als Völkermord und zur offiziellen Rehabilitierung der Opfer zu bewegen, waren wegen der Einstellung aller Ermittlungen durch die russische Militärstaatsanwaltschaft (2004) und deren Bestätigung durch das Oberste Gericht (2009) zunächst vergeblich. Hoffnung schöpften sie, als im Februar 2010 der russische Regierungschef den polnischen Ministerpräsidenten zu einer gemeinsamen Gedenkfeier zum 70. Jahrestag des Massakers einlud.

Hergang

5. März 1940: Der sowjetische Geheimdienstchef Berija schlägt in einer Notiz an Stalin die Exekution polnischer Offiziere vor. Immerhin hatte die Rote Armee durch die Besetzung Ostpolens 14.7000 Offiziere und Soldaten der polnischen Armee und Polizei gefangen genommen. Am selben Tag unterzeichneten die Mitglieder des Politbüros der KPdSU – Stalin, Molotow, Kaganowitsch, Woroschilow, Mikojan, Beria und Kalinin – den Befehl zur Exekution von „Nationalisten und konterrevolutionären Aktivisten” in den besetzten Gebieten; in der Tötungspraxis fielen darunter neben Offizieren, Soldaten, Reservisten und Polizisten auch circa 10.000 polnische Intellektuelle. In einem Schreiben des KGB-Vorsitzenden Alexander Schelepin an Nikita Chruschtschow vom März 1959 ist von 21.857 Opfern die Rede. Die Exekutionen wurden zwischen dem 3. April und dem 19. Mai 1940 vom NKWD ausgeführt. Zwischen 4400 und 4430 Mann aus einem Kriegsgefangenenlager bei Koselsk (Oblast Kaluga) wurden im Wald von Katyń ermordet. Aus dem Lager bei Starobielsk (Oblast Luhansk, Ukraine) wurden zwischen 3739 und 3896 Offiziere in das NKWD-Gefängnis nach Charkow gebracht, dort erschossen und in einem Wald- und Parkgebiet bei Pjatychatky, einem Dorf in der Nähe, verscharrt. Rund 6300 polnische Armee-, Polizei- und Gendarmerieoffiziere sowie einige Zivilisten aus dem Lager Ostaschkow auf der Insel Stolbny im nordrussischen Seligersee wurden in den Keller des NKWD-Gebäudes in Twer (damals Kalinin) gebracht und dort erschossen. Die Leichen verbrachte man in die Nähe des Dorfes Mednoje und begrub sie in einem Massengrab. 124 Personen, welche sich als Zuträger des NKWD betätigten, überlebten den Massenmord. Ende Juli 2006 wurde vom polnischen Archäologen Andrzej Koła im Wald von Bykiwnja (polnisch Bykownia; heute Ortsteil von Kiew) ein weiteres Massengrab mit polnischen Opfern des NKWD entdeckt, in dem 3435 bislang vermisste Opfer des Massakers vermutet werden ("ukrainische Katyń-Liste"). Dabei handelt es sich wahrscheinlich überwiegend um Zivilisten, die im Kiewer NKWD-Sitz ermordet wurden. Das Massengrab ist eines von vielen - insgesamt wird im Wald von Bykiwnja das größte Gräberfeld von Opfern des Stalinismus in der Ukraine vermutet. Zudem wurden wahrscheinlich im NKWD-Sitz in Minsk zwischen 3700 und 4500 weitere Opfer ermordet und im Waldgelände Kuropaty vergraben. Genauere Forschungen sind bisher aufgrund der Haltung des weißrussischen Regimes nicht möglich. Zu den vielen polnischen Intellektuellen, die das NKWD im Zuge des Massakers liquidiert hatte, gehörten auch die beiden bekannten Mathematiker Józef Marcinkiewicz und Stefan Kaczmarz. Der Vater des polnischen Filmregisseurs Andrzej Wajda wurde nicht - wie lange Zeit angenommen - im Katyn-Massaker ermordet, sondern mit mehreren anderen Häftlingen des Lagers Starobielsk in Charkow hingerichtet. Wajda drehte jedoch aus persönlichen Überzeugungen den Film „Das Massaker von Katyn“, der 2007 uraufgeführt wurde.


Entdeckung

Im Februar 1943 entdeckten Wehrmachtssoldaten, namentlich Rudolph-Christoph Freiherr von Gersdorff als I c in der Stabsabteilung der Heeresgruppe Mitte, im Wald von Kosji Gory bei Katyn Massengräber mit den Leichen tausender polnischer Offiziere, die nach Aussagen der einheimischen Bevölkerung im Frühjahr 1940 ermordet worden waren. Die reichsdeutschen Rundfunkmeldungen vom 13. April 1943 über die Funde veranlassten die Polnische Exilregierung in London, eine internationale Untersuchung durch das Internationale Komitee vom Roten Kreuz in Genf zu beantragen. Gegen dieses Vorhaben wehrte sich die sowjetische Regierung heftig und brach unter dem Vorwurf der Komplizenschaft mit Hitler den Kontakt zur polnischen Exilregierung ab, wodurch es auch zu einer Belastung der Anti-Hitler-Koalition kam. Bis dahin hatte die polnische Exilregierung keine Antwort auf circa 50 offizielle Anfragen zum Verbleib ihrer Militärgefangenen erhalten. Die Ausgrabungsarbeiten in Katyn wurden von dem deutschen Gerichtsmediziner Gerhard Buhtz geleitet. Den Fall Katyn nutzte die deutsche Regierung für ihre Propaganda gegen die Sowjetunion. Deutschland veranstaltete direkt nach dem Fund eine öffentliche Exhumierung durch eine kompetente internationale Untersuchungskommission von zwölf namhaften Gerichtsmedizinern, sowie Vertretern der polnischen Exilanten und des polnischen Roten Kreuzes. Die Kommission aus Gerichtsmedizinern aus zwölf europäischen Staaten (Belgien, Bulgarien, Dänemark, Finnland, Italien, Kroatien, Niederlande, Rumänien, Schweiz (François Naville), Slowakei, Ungarn (Ferenc Orsós), sowie dem Protektorat Böhmen und Mähren) begutachtete zwischen dem 28. und 30. April 1943 die bereits aufgedeckten Massengräber und grub exemplarisch weitere Leichen aus dem Boden, auch um das Todesdatum zweifelsfrei festzustellen. Die Kommission übergab am 4. Mai 1943 den Bericht in Berlin an Reichsgesundheitsführer Leonardo Conti. Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz hatte aufgrund der Proteste der Sowjetunion seine Mitarbeit verweigert. In einem gemeinsamen Beschluss veröffentlichte die Kommission ihre Expertise zum Todesdatum, in der sie unter anderem zu dem übereinstimmenden und unwidersprochenen Schluss kam, dass das Todesdatum aufgrund der Feststellungen der Gerichtsmediziner und der bei den Leichen gefundenen Papiere und Briefe, die alle zum selben Zeitpunkt abbrachen, im Frühjahr 1940 gelegen haben muss. Der Deutsche Verlag publizierte 1943 die Ergebnisse als amtliches Gutachten. Darin heißt es: „Die Leichen wiesen als Todesursache ausschließlich Genickschüsse auf. Aus den Zeugenaussagen, den bei den Leichen gefundenen Briefschaften, Tagebüchern, Zeitungen usw. ergibt sich, dass die Erschießungen in den Monaten März und April 1940 stattgefunden haben.” Weil die Massengräber sich auf einem Gebiet befanden, das von Frühjahr 1940 bis Juni 1941 von der Sowjetunion besetzt war, war die Täterschaft für alle an der Untersuchung Beteiligten klar.

Ende 1943, nach der Zurückdrängung der Wehrmacht, ließ die Sowjetunion das Massaker durch eigene Fachleute, den Schriftsteller Tolstoi und Militärs untersuchen. Die „Sonderkommission zur Feststellung und Untersuchung des Tatbestandes der Erschießung kriegsgefangener polnischer Offiziere im Wald von Katyn“ unter Vorsitz des Chefchirurgen der Roten Armee, Burdienko, entstand. Der Sonderkomission gehörten neben Alexei Tolstoi auch der Metropolit von Kiew und Galizien Nikolai, der Vorsitzende des Allslawischen Komitees Gundorow, der Vorsitzende des Exekutivkomitees des Verbandes der Organisationen des Roten Kreuzes und des Roten Halbmonds Kolesnikow und der Volkskommissar für Bildungswesen der RSFSR Potjomkin an. Diese behaupteten, dass die Genickschüsse im Herbst 1941 (somit unter reichsdeutscher Verantwortung) stattgefunden hätten. Bei den exhumierten Ermordeten hätten die „sowjetischen Experten“ verschiedene Gegenstände mit Zeitangaben wie November 1940, März 1941 oder Juni 1941 gefunden, was beweise, dass die Exekutionen von den „Deutschfaschisten“ durchgeführt wurden.


Erinnerungspolitik nach 1945

Katyn war auch nach 1945 noch Gegenstand einer konflikthaften internationalen Erinnerungspolitik. Anfang 1946 berichtete die Zeitung „Nordwest-Nachrichten” (Herausgeber war die britische Militärbehörde) und die sowjetische Agentur TASS am 30. Dezember 1945, dass zehn deutsche Kriegsgefangene von der sowjetischen Justiz für die Massaker bei Katyn verurteilt wurden. Sieben wurden mit dem Tode bestraft und drei zu 20 Jahren Zwangsarbeit verurteilt. Die sowjetischen Ankläger vor dem Nürnberger Prozess warfen die Verbrechen den reichsdeutschen Angeklagten vor. Der US-amerikanische Richter Francis A. Biddle bezeichnete die Eingabe der Sowjetunion als „maßlos” und gab seinem Mitarbeiter Wechsler den Auftrag, Klarheit in die Angelegenheit zu bringen. Da die westlichen Alliierten kein Interesse daran hatten, den Prozess durch sowjetische Propaganda in seiner Wirkung beeinträchtigen zu lassen, überstimmten sie den sowjetischen Richter Nikittschenko und drohten mit dem Verlesen von Wechslers Erklärung sowie der Verhaftung des sowjetischen Anklägers Rudenko, wenn er weiterhin durch entsprechende Anträge das Gericht missachten sollte. Katyn blieb daher beim Urteilsspruch unbeachtet.

Bis zur Wende 1989 war das sowjetische Bestreben, dieses Kriegsverbrechen den Nationalsozialisten anzulasten, teilweise erfolgreich. Dies wurde zudem von linksgerichteten Politikern und Medien auch in Deutschland unterstützt, wobei, wie in der Sowjetunion üblich, jede Wahrheitsklärung als Neonazismus und Revisionismus hingestellt wurde. In der Bundesrepublik Deutschland wurde beispielsweise von der stalinistischen KPD/ML noch 1979 die deutsche Täterschaft behauptet.

Im Geschichtsunterricht der DDR und der Volksrepublik Polen wurde das Massaker der Wehrmacht angelastet. Einwände wurden als „faschistische Hetze“ verfolgt.

Am 13. April 1990 gestand Gorbatschow die sowjetische Alleinschuld am Massenmord in Katyn offiziell ein. Noch 1990/1991 veröffentlichte die russische militärhistorische Zeitschrift Wojenno-Istoritscheski Schurnal eine Artikelserie, die die Version verbreitete, die Deutschen seien verantwortlich gewesen. Was Gorbatschow noch unterlassen hatte, holte der russische Präsident Jelzin im Oktober 1992 nach. Er überließ Polen die Akte von 1940, mit der Kaganowitsch, Stalin, Beria und andere die Exekutionen von Katyn angeordnet hatten. Nach sowjetischen Dokumenten fanden 21.857 Menschen den Tod, nach Angaben Polens waren es circa 30.000 Personen. Für das Verbrechen verantwortlich war die ganze damalige Staats- und Parteiführung der Sowjetunion. Bisher weigert sich die russische Regierung jedoch, die Opfer des Massakers von Katyn offiziell als Opfer des stalinistischen Terrors anzuerkennen. Langjährige Ermittlungen der obersten russischen Militärstaatsanwaltschaft wurden 2004 mit der Begründung der Verjährung und damit, dass viele Dokumente geheim und die Täter bereits tot seien, eingestellt. Das oberste Gericht Russlands bestätigte diese Entscheidung im Januar 2009.

Geschichtliche Einordnung

Das geheime Zusatzprotokoll des Hitler-Stalin-Paktes, das unter anderem die Aufteilung des polnischen Gebietes und damit letztlich die Vernichtung des polnischen Staates vorsah, schuf nach Auffassung von Historikern die Grundlage für das Massaker von Katyn und weiterer Verbrechen auf polnischem Boden. Auch westliche Historiker stellten trotz erdrückender Indizien für die sowjetische Täterschaft bis in die 1980er-Jahre hinein die Moskauer Version gleichberechtigt neben der tatsächlichen dar.

Mediale Rezeption

  • 1943 entstand die deutsche Kurzdokumentation Im Wald von Katyn.
  • 1992 erschien der Dokumentarfilm Katyn – Der Massenmord und die Propagandalüge von Barbara Dyrschka und Marek Grzona, eine deutsch-polnisch-russische Koproduktion, die 1994 mit dem Filmpreis St. Petersburg ausgezeichnet wurde.
  • Der Film Enigma – Das Geheimnis mit Dougray Scott und Kate Winslet behandelt die Ereignisse von Katyn und deren damalige Geheimhaltung durch die Westalliierten.
  • Der Film Das Massaker von Katyn des polnischen Regisseurs Andrzej Wajda hatte am 17. September 2007 Premiere und wurde im Januar 2008 für den Oscar als bester nicht-englischsprachiger Film nominiert.
  • Das Massaker von Katyn ist auch der Titel eine Dokumentarfilms aus Dänemark über den beteiligten dänischen Pathologen von der Regisseurin Lisbeth Jessen, 2006. 58 Min (bei ARTE und NDR ausgestrahlt)

Literatur

  • Josef Mackiewicz: Katyn – ungesühntes Verbrechen. Thomas-Verlag Zürich 1949.
  • John P. Fox: Der Fall Katyn und die Propaganda des NS-Regimes. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte (30) 1982, S. 462–499.
  • Czeslaw Madajczyk: Die Okkupationspolitik Nazideutschlands in Polen 1939–1945. Köln 1988.
  • Czeslaw Madajczyk: Das Drama von Katyn. Dietz Verlag 1991, ISBN 3-320-01668-7 (erste wissenschaftliche Arbeit über Katyn durch den bedeutenden polnischen Historiker).
  • Manfred Vasold: Katyn. In Wolfgang Benz: Legenden, Lügen, Vorurteile. dtv München 1995, S. 115 ff.
  • Thymian Bussemer: Das internationale Rote Kreuz und die NS-Kriegspropaganda. Der Fall Katyn. In: Vorgänge Jg. 39, 2000, S. 81–89.
  • Gerd Kaiser: Katyn. Das Staatsverbrechen – das Staatsgeheimnis. Aufbau Taschenbuchverlag, Berlin 2002, ISBN 3-7466-8078-6 (Fortführung der Arbeit Madajczyks unter Einbeziehung weiterer Quellen aus russischen Archiven).
  • Małgorzata Ruchniewicz/Krzysztof Ruchniewicz: Katyn 1940. In Gerd R. Ueberschär (Hrsg.): Orte des Grauens. Verbrechen im Zweiten Weltkrieg. Primus Verlag Darmstadt 2003, ISBN 3-89678-232-0, S. 71–82.
  • George Sanford: The Katyn Massacre and Polish-Soviet Relations, 1941–43. In: Journal of Contemporary History. 41/2006, S. 95–111.
  • Victor Zaslavsky: Klassensäuberung. Das Massaker von Katyn. Wagenbach Verlag, 2007.


Weblinks

Aus: Wikipedia [[1]] 06.02.2010 Der Beitrag wartet auf kriminologische Fokussierung.