Elektrakomplex

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Der Begriff des Elektrakomplex wurde durch Carl Gustav Jung 1913 in den Schriften „Versuch einer Darstellung der Analytischen Psychologie“ als Synonym für den weiblichen Ödipuskomplex nach "Sigmund Freund" definiert. Er beschreibt das übersteigerte Abhängigkeitsverhältnis des (weiblichen) Kindes zum Vater bei gleichzeitiger Ablehnung bzw. Konkurrenz zur Mutter. Die Vertreter der psychoanalytischen Kriminologie, die die Hauptwurzeln des Verbrechens und der Verwahrlosung vornehmlich in der frühkindlichen Entwicklung sehen, glauben nachweisen zu können, dass der Elektra- bzw. Ödipuskomplex ein entscheidender Hauptfaktor (wenn nicht überhaupt der Hauptfaktor) in der Verbrechensgenese ist. (Herren,Rüdiger 1973: 67). Ein in Beziehung stehender, durch Sigmund Freud benutzter Begriff in diesem Zusammenhang ist der Penisneid. Den Begriff Elektrakomplex lehnte Freud, mit Hinweis auf den schon von ihm beschriebenen "Ödipuskomplex" ab. Daher sind die nachfolgenden Ausführungen zum Begriff Elektrakomplex gleichbedeutend mit den durch Sigmund Freud in der Psychoanalyse definierten und für beide Geschlechter geltenden Begriffs des Ödipuskomplexes.

Etymologie

Der Begriff Elektrakomplex hat seinen Ursprung, ebenso wie der männliche Gegenpart des Ödipus, in der Sagenwelt der griechisch-römischen Mythologie. Bevor Elektras Bruder Orestes nach acht Jahren aus der Verbannung zurückkehrte, schickte dieser einen Boten, um seinen vermeintlichen Tod zu überbringen. Aufgrund der tiefen Trauer und Bestürzung über die Tötung des leiblichen Vaters Agamemnon durch ihre eigene Mutter Klytaimnestra und den Tod ihres Bruders Orestes, versuchte Elektra vergebens ihre jüngere Schwester zum Mord an ihrer Mutter und dem verhassten Stiefvater Aigisthos zu überreden. Nachdem Orestes vom Orakel von Delphi aufgefordert wurde, den Tod seines Vaters zu rächen, trafen er und Elektra am Grabe ihres gemeinsamen Vaters aufeinander und beschlossen den Mord an der Mutter Klytaimnestra und ihrem Liebhaber Aigisthos. Orestes beschließt den Racheakt und bringt beide um.

In der Kunst hielt die Geschichte der Elektra sowohl in der Antike, als auch in der Neuzeit Einzug. Sie reicht von der Dramatisierung von "Sophokles" (um 410 v. Chr.), über die musikalische Umsetzung in der "Richard Strauss’ Oper Elektra" durch Hugo von Hofmannsthal, bis zur Erklärung grausamer Familienkonflikte in der Veröffentlichung der Trilogie „Trauer muss Elektra tragen“ von 1931 des amerikanischen Dramatikers und späteren Nobelpreisträgers für Literatur "Eugene O’Neill".


Der Elektrakomplex in den Phasen der infantilen Sexualität in der klassischen Psychoanalyse

Die Entdeckung der Sexualität in der Wissenschaft zum Ende des 19.Jahrhunderts mündete in der psychoanalytischen Theorie nach Sigmund Freud in die Unterteilung von fünf Phasen von der Geburt eines Menschen an. Freuds Theorien sind bis heute umstritten. Die infantile Sexualität (Freud teilt diese in fünf Phasen) wurden nach der klassischen Psychoanalyse nach bestimmten erogenen Zonen benannt und wie folgt eingeteilt:


  1. Die orale Phase – Der Mund als primäre Quelle (von der Geburt bis zum zweiten Lebensjahr)
  2. Die anale Phase – Befriedigung durch Ausscheidung und Zurückhaltung (vom zweiten bis zum dritten Lebensjahr)
  3. Die phallische oder ödipale Phase – Erforschung des eigenen Körpers, Triebwünsche des gegengeschlechtlichen Elternteils (vom dritten bis zum fünften Lebensjahr)
  4. Die Latenzperiode – Befriedigung durch das Erlangen von Fähigkeiten und der Erkundung der Umwelt (vom fünften bis zum elften Lebensjahr)
  5. Die genitale Phase – Erwachen der Sexualität unter dem Einfluss der Sexualhormone (ab dem zwölften Lebensjahr)


Grundlage des Begriffes in der Psychoanalyse ist der von S. Freud definierte „Penisneid“ als weibliche Variante des "Ödipuskomplexes". Sowohl beim Mann als auch bei der Frau wird die Mutter zum ersten Liebesobjekt infolge des Einflusses von Nahrungszufuhr und Körperpflege. (Freud 1994: 278) Der „Elektrakomplex“ ist der Phase drei der psychosexuellen Entwicklung zuzuordnen. In dieser richtet sich die eigene Aufmerksamkeit des Mädchens auf die Entdeckung des Körpers und somit auch des eigenen weiblichen Geschlechts im Zusammenhang mit dem Anfassen und Stimulieren der Klitoris. Es entdeckt im Alter vom dritten bis zum fünften Lebensjahr den Geschlechtsunterschied zum Jungen. Das Mädchen macht ihre Mutter unbewusst für das „Fehlen“ eines Penis verantwortlich. Sigmund Freud beschreibt diesen Gefühlszustand als „Penisneid“. Anders ausgedrückt, beschäftigt sich das Mädchen mit der unbewussten Annahme, es sei kastriert worden. Mit dem parallel entwickelten Gefühl der Minderwertigkeit einher, geht die innere Ablehnung der ebenso kastrierten Mutter bei gleichzeitigem Begehren für den Vater. Als Folge dieser inneren Auseinandersetzung wird die Mutter zum Konkurrenten gemacht. Aus Angst vor Liebesentzug durch die Mutter, ist die Tochter zur Verdrängung seiner Regungen gezwungen. Gelingt dies nicht, so entwickeln sich nach der freudschen Theorie im Laufe der weiteren Lebensjahre starke Schuldgefühle. Diese wiederum können nur durch erwartete Strafen infolge abweichenden, illegitimen Handelns kompensiert werden.

Kriminologische Zusammenhänge aus Sicht der psychoanalytischen (psychodynamischen) Kriminologie

Freud und die Kriminologie

„Für die moderne Kriminologie kommt der Freudschen Annahme unbewusster, irrationaler seelischer Vorgänge unbestrittenermaßen Bedeutung zu.“(Herren 1973: 65) Durch die gewonnenen Erkenntnisse ist es der Wissenschaft möglich, zu erklären, wieso gewissenhafte, intelligente Täter unerklärliche Fehler in der Tatausführung begehen. In der psychoanalytischen (psychodynamischen) Kriminologie ist Kriminalität kein Geburtsfehler, sondern ein Erziehungs-, ein Domestikationsdefekt. Die Kriminalität ist in ihrer Anlage eine allgemeine menschliche Erscheinung – das Gegenteil und Gegenstück zur kriminalbiologischen Auffassung Lombrosos vom geborenen Verbrecher. (Schneider 2014: 211) Abweichendes Verhalten entsteht als Folge von Fehlentwicklungen in der Persönlichkeit unter anderem durch zu starke Identifikations- oder Unterwerfungsprozesse. Die psychodynamische Kriminologie geht davon aus, dass diese Fehlentwicklungen in der frühen Kindheit des Täters zu suchen sind und somit in der (ursächlich für den Ödipus- und Elektrakomplex) von Freud beschriebenen ödipalen Phase zwischen dem dritten und fünften Lebensjahr.

Der Elektrakomplex in der psychoanalytischen Kriminologie

Nach der psychoanalytischen Theorie ist der Elektrakomplex (erotischer Wunsch gegenüber dem Vater, Hassgefühle und Todeswünsche gegenüber der Mutter (Schneider 2014: 211)) Hauptursache für weibliche Kriminalität, da es der Erziehung nicht gelungen ist, ein gut funktionierendes „Über-Ich“ (Gewissen) zu formen. Die dadurch bis ins Jugendlichen- bzw. Erwachsenenalters aufgestauten (und zum Großteil im Unterbewusstsein befindlichen) Schuldgefühle werden bei Ausübung krimineller Taten gemindert. Der innere (Schuld-)Druck sinkt. Vertreter dieser Theorie glauben dies als Ursache für Kriminalität nachweisen zu können, da bei den (bisher relativ wenigen) Analysen der weibliche Elektra- als auch der männliche Ödipuskomplex dominierend in den Vordergrund tritt. Kriminalität beruht somit auf frühen Schädigungen der Entwicklung einer Persönlichkeit durch Störungen in den Objektbeziehungen des Kindes. Und weiter: Für die psychoanalytischen Kriminologie besteht kein Zweifel, dass Straftaten der Ausdruck eines Spätstadiums konflikthafter oder defekthafter seelischer Zustände sind. (Moser: 403 - 404)

Kritik

Für die Grundannahme des Penisneides, der bei Nichtbewältigung zum Elektrakomplex führen kann, wurde Freud stark angegriffen. Insbesondere von feministischer Seite führte Freuds Theorie zu der Annahme, dass dieser anhand seiner Theorie vornehmlich versuche, die Minderwertigkeit der Frau wissenschaftlich zu unterlegen. Freud stellt die Weiblichkeit in seinem ‘‘phallozentrischem‘‘ Denken im Vergleich zur Männlichkeit als Mangel oder Defizit dar. Entgegen den Ansätzen der psychoanalytischen (psychodynamischen) Theorie steht die sogenannte Hauptstrom-Kriminologie, die unter anderem die Ansätze zum Elektra- & Ödipuskomplex für nicht valide hält. Hintergrund ist die Tatsache, dass die angeblich darin verursachte und letztendlich resultierende Kriminalität aus einem intrapsychischen Konflikt entsteht, der nur durch Introspektion (Selbstbeobachtung) erkannt werden kann. (Schneider 2014: 211) Erklärungen mögen im Einzelfall begründet sein, sind im Wesentlichen jedoch irrationale und unbewusste Motivationen des Täters und somit schwer bis gar nicht empirisch zu belegen. Dies vor allem, da der Elektra- als auch der Ödipuskonflikt im Alter von fünf bis sechs Jahren verschwindet und damit eine wissenschaftliche Analyse mehr als schwierig macht. ‘‘Das bis jetzt vorliegende empirische Material ist viel zu klein, um gültige Aussagen zu machen und psychoanalytische Hypothesen zu verifizieren.‘‘ (Herren 1973: 70). Mindestens ebenso strittig ist die allgemeine Bedeutung für die Kriminologie durch Sigmund Freud selbst. Ihm wird vorgeworfen, seine Schlussfolgerungen und Analysen anhand von Neurotikern und weniger von Kriminellen aufgebaut zu haben. Direkte wissenschaftliche Intentionen zur Erforschung der Kriminologie gab es seitens Sigmund Freuds nicht. Inwiefern seine Theorien der infantilen Sexualität und damit des Elektrakomplexes für die moderne Kriminologie tatsächlich Verwendung finden können, ist bis heute unter anderem aufgrund der Schwierigkeit der Empirie nicht so leicht zu beantworten und bedarf zukünftiger Forschungen.

Kriminologische Zusammenhänge aus Sicht der strukturell-funktionalen Theorie von Talcott Parson (Sozialisation des Kindes)

Der Elektrakomplex als entscheidender Faktor für das Leben

Nach der strukturell-funktionalen Theorie von Talcott Parson, welcher die ödipale Phase des Kindes als ebenso wichtig betrachtet wie Sigmund Freud, ist für die Entwicklung der Persönlichkeit des Kindes (des „Über-Ichs“) von fundamentaler Bedeutung diese Phase gemeinsam mit den Eltern vollständig zu durchleben, zu verarbeiten und zu überwinden. Dieser Schritt bedeutet die Schaffung einer stabilen Funktion des Individuums innerhalb einer Gesellschaft. Kommt es in dieser (oder einer der vorgenannten anderen) Phase zu Störungen des Individuums von innen oder außen, führt dies zu Nichtbewältigung oder Manifestierung des Elektrakomplexes und wirkt sich auf das ganze Leben aus. Nach Parson entwickeln sich Beeinträchtigungen und schlussendlich Fehlentwicklungen, die sich unter anderem in abweichendem Verhalten (Neurosen, Perversionen, psychosomatischen Krankheitsbildern, Psychosen, Verwahrlosungen, Sucht, Kriminalität, u.a.) äußern. Der Elektrakomplex führt zu Exklusion aus der Gesellschaft mit weitreichenden Folgen für das abweichende Individuum und seiner Funktion.

Kritik

Ebenso wird die Sozialisation des Kindes nach der strukturell-funktionalen Theorie von Talcott Parson aus Gründen der Tautologie kritisiert. Dieser wird vorgeworfen, allumfassend, jederzeit und übergesellschaftlich zu sein. Parsons Theorie soll für Psychopathen, Neurotiker, Kriminelle und Mörder genauso gelten, wie für Revolutionäre, Propheten, Utopisten oder Sektierer. Talcott Parson resümiert alle Folgen abweichenden Verhaltens ohne Unterschied auf die frühkindlichen Erfahrungen. Für ihn ist einzig wichtig, dass das gesellschaftliche System in einem stabilen Gleichgewicht sei. Die Bedürfnisse und Interessen des Individuums sind dem unterzuordnen, so dass nach Parson kriminelles Verhalten in einer funktionierenden Gesellschaft unwahrscheinlich sei. Theodor W. Adorno prangert an, dass Parson die Psychologie über die Soziologie stülpe und diese passend mache, um seine Erkenntnisse zu bestätigen. (Kania 1995).

Quellen

C. G. Jung: Versuch einer Darstellung der Analytischen Psychologie (1913). In: Ders.: Gesammelte Werke, Bd. 4. Freud und die Psychoanalyse. Rascher, Zürich, und Walter, Olten 1969

Rüdiger Herren: Freud und die Kriminologie (1973)

S. Freud: Über die weibliche Sexualität (1931). In: Ders.: Studienausgabe, Bd. V. Sexualleben. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2000

Hans Joachim Schneider: Kriminologie. Ein internationales Handbuch Band 1: Grundlagen

Elke Kania: Das Über-Ich und die Theorie der sozialen Systeme. Eine Einführung in die Theorie Talcott Parsons, 1995

Weblinks

https://de.wikipedia.org/wiki/Elektrakomplex (Abrufdatum: 07. Februar 2017)

https://de.wikipedia.org/wiki/Infantile_Sexualit%C3%A4t (Abrufdatum: 07. Februar 2017)

https://de.wikipedia.org/wiki/Penisneid (Abrufdatum: 07. Februar 2017)

https://de.wikipedia.org/wiki/Ödipuskonflikt (Abrufdatum: 07. Februar 2017)

http://www.textlog.de/freud-psychoanalyse-weibliche-sexualitaet.html (Abrufdatum: 22. Februar 2017)

Jens Hoffmann & Cornelia Musolff BKA (2000): Fallanalyse und Täterprofil (Abrufdatum: 22. Februar 2017)