Doppelstaat

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Von einem Doppelstaat kann man nach Ernst Fraenkel (1974: 206) dann sprechen, wenn in der Verfassungswirklichkeit "die Staatsgewalt strukturell einheitlich organisiert ist, ihre Handhabe jedoch funktionell nach verschiedenen Methoden in Erscheinung tritt".

Fraenkel (2012: 49, 281) definierte den Doppelstaat durch zwei Komponenten, den Maßnahmenstaat und den Normenstaat, die beide in einem Staatswesen gleichzeitig und komplementär nebeneinander existierten:

"Unter 'Maßnahmenstaat' verstehe ich das Herrschaftssystem der unbeschränkten Willkür und Gewalt, das durch keinerlei rechtliche Garantien iengeschränkt ist; unter 'Normenstaat' verstehe ich das Regierungssystem, das mit weitgehenden Herrschaftsbefugnissen zwecks Aufrechterhaltung der Rechtsordnung ausgestattet ist, wie sie in Gesetzen, Gerichtsentscheidungen und Verwaltungsakten der Exekutive zum Ausdruck gelangen."

Die Handhabung der Staatsgewalt tritt im Doppelstaat im komplementären Nebeneinander von "Normenstaat" (Normative State) und "Maßnahmenstaat" (Prerogative State) in Erscheinung. Diese sind zwei strukturell grundverschiedene, aber symbiotisch aufeinander bezogene Teilsysteme der Verfassungswirklichkeit. Während der "Normenstaat" das Weiterfunktionieren von Wirtschaft und Gesellschaft für den nicht verfolgten Teil der Bevölkerung gewährleistet, richtet sich der "Maßnahmenstaat" nach Opportunitätsgesichtspunkten mit Hilfe von Sondergesetzen ebenso wie blanker Willkür gegen die als "Feinde" definierten Individuen und Kollektive. Er besteht aus unberechenbarer und nicht gesetzesgebundener Politik (= Willkürherrschaft), die sich gegen die »Feinde« des Regimes richtet.

Fraenkel hatte den Begriff zur Charakterisierung des NS-Staates geprägt, dessen Verfassungswirklichkeit er von 1933 bis 1938 selbst erlebt und erlitten hatte. Der Begriff ist jedoch als analytischer angelegt, d.h. er könnte auch zur Untersuchung anderer Verfassungswirklichkeiten benutzt werden und wird heutzutage auch gelegentlich dazu verwendet.

Ähnlich wie Carl Schmitt begriff Fraenkel den NS-Staat vom Ausnahmezustand her und begann nicht zufällig seine Analyse mit den Worten: „Die Verfassung des dritten Reiches ist der Belagerungszustand. Die Verfassungsurkunde des dritten Reiches ist die Notverordnung vom 28.2.1933” (Fraenkel 1938: 273). Die Notverordnung diente als Brückenkopf zum gesetzlichen Unrecht, ließ sich von diesem Ausgangspunkt aus doch ein ständig sich ausdehnender Sektor außerhalb der allgemeinen Rechtsordnung schaffen, in dem "nicht mehr nach den Maßstäben des Rechts, sondern ausschließlich politisch ‚nach Lage der Dinge' entschieden wurde" (Wildt 2011). Damit stand aber letztlich die gesamte Rechtsordnung zur Disposition - die staatlichen Organe handelten nach dem „Prinzip der politischen Zweckmässigkeit“ (= Maßnahmenstaat). Nur solange wie die politischen Instanzen von ihren Machtbefugnissen keinen Gebrauch machten, existierte innerhalb des Maßnahmestaats ein Bereich, innerhalb dessen sich der Staat an sein eigenes Recht hielt (= Normenstaat).

Auslegung im Maßnahmenstaat

Obwohl die Präambel der Notverordnung sich ausschließlich auf Kommunisten bezog, dehnte man ihre Regelungsmacht auf andere Lebensbereiche aus:

  • das Kammergericht nahm „kommunistische Umtriebe“ bereits dann an, wenn allgemeiner Unzufriedenheit – etwa durch Systemkritik – Vorschub geleistet wurde, weil damit letztlich diejenigen begünstigt würden, die dem System Schaden wünschten (S. 72)
  • das OLG Braunschweig erklärte das Verbot von nicht-kommunistischen Vereinigungen für zulässig, da es sein könne, dass auch ohne Wissen des Vorstands sich dort Kommunisten einnisteten (S. 77)
  • das OLG München postulierte einen Anspruch der Allgemeinheit, „gegen eine Beeinflussung durch Feinde der Volksgemeinschaft geschützt zu werden“ (S. 99).

Grenzen der Gerichtsbarkeit

Immer wieder gab es Bestrebungen, Entscheidungen der Polizeibehörden von gerichtlichen Nachprüfungen zu befreien.

  • Werner Best – damaliger Referent für Rechtsfragen und stellvertretender Leiter der Gestapo – erklärte: „Im Ausnahmefall suspendiert der Staat das Recht, kraft seines Selbsterhaltungsrechtes, wie man sagt.“
  • Ein Gesetz regelte, dass „in Angelegenheiten der Gestapo“ keine Nachprüfung durch die Verwaltungsgerichte mehr zu erfolgen habe - und "politische" Angelegenheiten (also solche der Gestapo) konnten alle sein: das war eine Frage der Definition, bzw. der Intensität. Carl Schmitt hatte ja erklärt: „Jeder religiöse, moralische, ökonomische, ethnische oder andere Gegensatz verwandelt sich in einen politischen Gegensatz, wenn er stark genug ist, die Menschen nach Freund und Feind zu gruppieren.“ Oder auch: „Das Politische kann seine Kraft aus verschiedenen Bereichen ziehen, aus religiösen, ökonomischen, moralischen und anderen Gegensätzen; es bezeichnet kein eigenes Sachgebiet, sondern nur den Intensitätsgrad [...]“.

Behörden des Maßnahmenstaates

Während sich einerseits die Gerichte weigerten, Parteiorgane generell von jeder Gerichtsbarkeit freizustellen, andererseits aber Träger von Parteiämtern als staatliche Hoheitsträger anerkannt wurden, gab es jedenfalls gegenüber ihren „politischen“ Handlungen keine gerichtliche Nachprüfung. Dieses „Nebeneinander von gesetzesgebundenen und gesetzesentbundenen Behörden“ (S. 94) führt zu einer neuen Art der Zweistufigkeit: kam der Normenstaat im Zuge gerichtlicher Verfahren und polizeilicher Verfügungen zu unerwünschten Ergebnissen, dann korrigierte der Maßnahmenstaat das Ergebnis in der ihm genehmen Weise (S. 95).

Mit der Möglichkeit des einfachen Widerrufs von Urteilen ist der Unterschied zwischen Rechtssatz und Maßnahme praktisch aufgehoben: „Was im englischen Staatsrecht seit mehr als 300 Jahren als Alptraum angesehen wird, ist im heutigen Deutschland the law of the land.“ (S. 108).

Souveränität und Totaler Staat

Im totalen Staat ist jeder Verzicht des Staates auf Letztentscheidung freiwillig (S. 117). Fraenkel fragt nun, welche Bereiche der „qualitativ totale Staat“ nur scheinbar freiwillig in freier Selbstregulierung belässt - er wertet Rechtsprechung und Wissenschaft aus und findet den Normenstaat im Wirtschaftsleben. Allerdings endet er auch hier bei der Rassenfrage. Im Mietrecht werden Juden aus dem Mieterschutz des Bürgerlichen Rechts 1938 ausgeschlossen. Dies erfolgt durch eine Definition der Hausgemeinschaft als Unterbegriff der Volksgemeinschaft (S. 146). Kurze Zeit später bedurfte es gar keiner Verbrämung mehr: Das Berliner Landgericht führte einen Monat später aus: „Auch die Ansicht, dass jede einzelne Maßnahme gegen die Juden nur von der Regierung angeordnet werden könne, ist nicht zutreffend. Wollte man dem beitreten, so würde eine Auslegung der Gesetze zuungunsten der Juden nicht stattfinden dürfen und die Juden hierdurch besonders [sic!] geschützt sein. Es liegt auf der Hand, dass das nicht im Sinn der Sache ist“ (S. 146 f.). - Hauke Schüler (2005): "Ein jüdischer Filmregisseur hatte 1933 einen Vertrag mit einer Filmgesellschaft geschlossen. In dem Vertrag war ein Rücktrittsrecht für den Fall aufgenommen worden, dass der Regisseur „durch Krankheit, Tod oder einen ähnlichen Grund nicht zur Durchführung seiner Regietätigkeit im Stande sein sollte“ (S. 148). Das Reichsgericht hatte zu entscheiden, ob jüdische Abstammung ein solcher „ähnlicher Grund“ sein könne. Nach kurzer Darstellung des liberalen Verständnisses der Rechtspersönlichkeit des Menschen bejaht das Gericht die Analogiefähigkeit als „unbedenklich“ unter Hinweis auf das alte Fremdenrecht. Die völlige Rechtlosigkeit sei dem leiblichen Tod als „Bürgerlicher Tod“ gleichzustellen (ebd.). - Hier fällt der Wissenschaftler (...) aus der Rolle. Fraenkel zitiert Goethe und beendet das Kapitel. Mit den beiden Größen des deutschen Idealismus, jener Zeit, deren Philosophie das Denken des Menschen als Person auf bis heute gültige Höhen getrieben hat, versucht Fraenkel das Beobachtete zu fassen. Es wirkt kindlich, wie er die Idole seiner Kindheit und Jugend, deren Verse im Angesicht der Diktatur wie Nippes wirken, gegen die Wirklichkeit hält. Die existentielle Dimension des Verlustes an Sicherheit und letzten Werten tritt hier mit Macht zu Tage und lässt Fraenkels wissenschaftliche Anstrengung zusammenfallen."

Normenstaat und Maßnahmenstaat

Definitionsversuche

„Im politischen Sektor des dritten Reiches gibt es kein objektives und daher auch kein subjektives Recht, keinen Rechtsschutz und keine mit Rechtsgarantien versehenen Kompetenzen. In diesem politischen Sektor fehlen die Normen und herrschen die Maßnahmen. Wir sprechen daher insoweit von einem ‚Maßnahmenstaat'.” (Fraenkel 1938: 273).

"Der 'Normenstaat', also jener Sektor, in dem nach wie vor Gesetze, Gerichtsentscheidungen und Verwaltungsakte Gültigkeit besaßen, wurde von den Instanzen des Maßnahmenstaates, allen voran der Gestapo, ständig zurückgedrängt. Gegen alle theoretischen Konzepte des Totalitarismus insistierte Fraenkel jedoch darauf, dass zum Beispiel im Bereich der Wirtschaft Rechtsnormen wie das Vertragsrecht und der Schutz des Eigentums weitergegolten hätten. Juden indes waren gänzlich der Willkür des Maßnahmenstaates ausgeliefert. Ihnen gegenüber konnte jedes Recht gebrochen, jedes Gesetz verletzt werden. Politisch war das, was die politischen Instanzen selbst für politisch erklärten" (Wildt 2011).

Analytische Verwendung

  • Untersuchung der Entwicklung (gegen Ende der 1950er Jahre) eines sowjetischen Normenstaates aus dem stalinistischen Maßnahmestaat (Plaggenborg 2006). Richard Sakwa (2010) analysierte die russische Gegenwart unter dem Gesichtspunkt des Doppelstaats.


  • Ist Guantánamo irgend etwas "anderes als der Versuch, außerhalb der verfassungsmäßigen Ordnung einen rechtsfreien Sektor zu schaffen, in dem 'allein die Maßnahmen herrschen'? Vor der Gefahr des 'Doppelstaats' sind offenbar auch demokratische Rechtsstaaten wie die USA in Momenten existentiell erlebter Bedrohung nicht gefeit, in denen das Argument der politischen Handlungsfreiheit augenscheinlich eine stärkere Überzeugungskraft besitzt als die Unverbrüchlichkeit des Rechts. Im Gegensatz zum NS-Regime ist der demokratisch legitimierte Normenstaat jedoch in der Lage, die Sektoren des Maßnahmenstaats nach und nach wieder der Herrschaft des Rechts zu unterwerfen. Wo Fraenkel in seiner Analyse des NS-Regimes nur eine unilineare Entwicklung vom Normen- zum Maßnahmenstaat erkennen konnte, eröffnet der analytische Umgang mit dem 'Doppelstaat' heute vielfältigere, rück- wie gegenläufige Bewegungsrichtungen" (Wildt 2011).

Exkurs: Das "Doppelstrafrecht" des NS-Staates

Ohne Bezugnahme auf den "Doppelstaat" erkannte der Kriminologie Edmund Mezger in dem Entwurf zu einem Gemeinschaftsfremdengesetz die Tendenz zur Begründung einer Art von Doppelstrafrecht.

In dem Brief, mit dem er sich am 13.02.1943 gegenüber dem Reichsjustizministerium (Ministerialrat Dr. Rietzsch) dazu bereit erklärte, den Gesetzentwurf aus seiner Sicht zu kommentieren, schrieb er:

„Es gibt künftig nach dem Entwurf in Wahrheit zwei (oder: mehrere) ‘Strafrechte’: ein Strafrecht für die Allgemeinheit (für das im wesentlichen die bisherigen Grundsätze gelten), und ein (ganz anderes!) Strafrecht für Sondergruppen bestimmter Persönlichkeiten [...]. Das Entscheidende liegt in der Zuweisung zur Sondergruppe. […] Ist die Zuweisung einmal erfolgt, dann gilt uneingeschränktes ‘Sonderrecht’ (d. h. also unbestimmte Zuchthausstrafe). Alle sonst vorhandenen juristischen Schwierigkeiten der Strafbemessung scheiden hier aus – die unbestimmte Zuchthausstrafe usw. ‘verschlingt’ alle sonstigen Differenzierungen. Auch die Frage Einzelstrafe, Gesamtstrafe usw. spielt dann von vornherein keine Rolle mehr – auch nicht der Vergleich mit Mitverurteilten, denn sie sind ja ‘andere’. Diese Trennung nach Personengruppen scheint mir das eigentlich Wesentliche der Neuordnung zu sein; in ihr liegt ein ‘neuer Anfang’“ (zit. n. Muñoz-Conde 2007: 38).

Literatur

Weblinks