Dissozialität

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Dissozialität

Unter Dissozialität versteht man die andauernde Missachtung von sozialen Normen, Regeln und Verpflichtungen. Bei einer starken Diskrepanz zwischen dem Verhalten einer Person und geltenden sozialen Normen, spricht man von einer dissozialen Persönlichkeitsstörung (vgl. Steden 2003: 108)

Inhaltsverzeichnis

Etymologie

Der Begriff Dissozialität setzt sich aus dem lateinischen Wort „dis“ und dem deutschen Adjektiv „sozial“ zusammen. Das Wort „dis“ kann hierbei mit den Adjektiven „entzwei“ oder auch „auseinander“ übersetzt werden. Als „sozial“ wird das Verhalten zwischen einer Person und einer Gruppe bzw. auch innerhalb einer Gruppe verstanden. Der Schwerpunkt liegt hierbei auf dem Miteinander und der Interaktion der einzelnen Akteure. Das Adjektiv „sozial“ steht für Kompetenz auf andere Personen zuzugehen, sich ihnen zuzuwenden und ihnen gegebenenfalls helfend und unterstützend zur Seite zu stehen (vgl. definition-online.de).

Definition

Der Begriff Dissozialität steht im engen Zusammenhang mit abweichenden Verhalten, genauer gesagt mit der Abweichung von vorgegebenen/vorgelebten sozialen Normen (vgl. krimlex.de). Von Dissozialität wird gesprochen, wenn Menschen aus unterschiedlichsten Gründen relevante soziale Regeln nicht einhalten, sich dagegen auflehnen und eine Tendenz zu abweichenden Verhaltensreaktionen erkennbar ist (vgl. Fiedler 2007: 163). In den häufigsten Fällen stehen die antisozialen Verhaltensmuster jedoch im Zusammenhang mit einer dissozialen Persönlichkeitsstörung. Persönlichkeitsstörungen sind tief verankerte Verhaltensmuster die sich in starren Reaktionen auf unterschiedliche persönliche oder soziale Lebenslagen zeigen. Sie können in der Kindheit und Adoleszenz beginnen und bis ins Erwachsenenalter andauern. Sie beruhen nicht auf einer anderen psychischen Störung oder Hirnerkrankung, können aber anderen Störungen voraus- bzw. mit ihnen einhergehen (vgl. Steden 2003: 105).

Die Dissoziale Persönlichkeitsstörung ist im ICD-10, im Kapitel V unter F 60.2 verankert. Als Kriterien für diese Persönlichkeitsstörung werden folgende sechs Eigenschaften benannt, wobei mind. drei davon zutreffen müssen:

  • herzloses Unbeteiligtsein gegenüber den Gefühlen anderer und Mangel an Empathie,
  • deutliche und andauernde Verantwortungslosigkeit und Missachtung sozialer Normen, Regeln und Verpflichtungen,
  • Unvermögen zur Beibehaltung längerfristiger Beziehungen,
  • sehr geringe Frustrationstoleranz und niedrige Schwelle für aggressives, auch gewalttätiges Verhalten,
  • Unfähigkeit zum Erleben von Schuldbewusstsein und zum Lernen aus Erfahrung, besonders aus Bestrafung,
  • Neigung, andere zu beschuldigen oder vordergründige Rationalisierungen für das eigene Verhalten anzubieten, durch das die Person in einen Konflikt mit der Gesellschaft gerät,
  • andauernde Reizbarkeit (zit. aus Staud 2012: 49)

Entwicklung des Begriffs

Jeremy Bentham (1748 – 1832) und Cesare Beccaria (1738 – 1794), die die klassische kriminologische Schule sowohl in England als auch in Italien im 18. und 19. Jahrhundert repräsentierten, sind davon ausgegangen, dass jeder Mensch die Fähigkeit besitzt eigenständig zu denken, Handlungsmöglichkeiten untereinander abzuwägen und sich dementsprechend eigenverantwortlich zu verhalten. Personen die abweichendes Verhalten zeigen, handeln nach dieser Auffassung willentlich und stellen damit die Befriedigung ihrer eigenen Bedürfnisse über die Rechte anderer Gesellschaftsmitglieder. Als logische Konsequenz folgte daraufhin die Bestrafung dieser Personen. Nach Hintergründen oder Motiven für das abweichende bzw. dissoziale Verhalten wurde zu diesem Zeitpunkt nicht gefragt. Erst im 19. Jahrhundert setzte sich die Kriminologie in Europa damit auseinander. Um einen weitgefächerten Einblick zu erhalten, wurden Nachbardisziplinen hinzugezogen. Gemeinsam suchte man nach möglichen Erklärungsansätzen für das dissoziale Verhalten und damit verbundenen dissozialen Persönlichkeiten. Ausschlaggebend hierfür, war die Auffassung, dass Kriminalität in einzelnen Teilen oder auch Zügen ein soziales Phänomen sei (vgl. Rauchfleisch 1981: 21).

Erklärungsansätze

Bezugnehmend auf die Erklärung von Dissozialität wurden unterschiedliche Ansätze und Untersuchungen zu Rate gezogen. Cesare Lombroso sprach von einem „geborenen Verbrecher“ und war der Ansicht, dass genetische Faktoren dafür ausschlaggebend sind, ob jemand dissozial handle oder nicht. Andere Experten beschäftigten sich mit Auswirkungen von Umwelteinflüssen und familiären Gegebenheiten, die ausschlaggebend sein könnten, für das Verhalten von Personen. Untersuchungen, die sie mit adoptierten Kindern delinquenter Eltern beschäftigten, zeigten auf, dass der genetische Faktor hierbei keine unerhebliche Bedeutung in Bezug auf spätere Verhaltensweisen haben. Es wurde festgestellt, dass adoptierte Kinder delinquenter Eltern trotz guter Integration in Adoptivfamilien, vermehrt dazu neigten delinquentes Verhalten zu zeigen. Kritisch zu berücksichtigen ist hierbei, dass diese Kinder bereits in ihrer frühkindlichen Entwicklung ungünstigeren Faktoren ausgesetzt waren (z.B. häufiger Wechsel an Pflegefamilien, Heimaufenthalte, etc.) (vgl. Rauchfleisch 1981: 23).

Soziologische Theorien, die sich mit dissozialem Verhalten beschäftigten, sind anhand fünf verschiedener Ansätzen zu unterscheiden.

Der sozialisationstheoretische Ansatz geht davon aus, dass die Erklärung für dissoziales Verhalten in den schichtspezifischen Sozialisationsprozessen liegt. Je nach Schichtzugehörigkeit gestalten sich auch jeweils die Sozialisationspraktiken in ihrer Ausführung und Zugänglichkeit unterschiedlich. Hierdurch kommt es zu individuellen Charakterstrukturen, die in Konfliktsituationen je nach Persönlichkeit verschieden agieren. Personen die über wenig Konfliktlösungsstrategien verfügen, agieren eher ungehalten, impulsiv und aggressiv (vgl. Rauchfleisch 1981: 26).

Aus Sicht des sozialstrukturellen Ansatzes, lassen sich die Ursachen anhand des Anomiekonzeptes von Durkheim und Merton erklären. Anomie ist als ein Zustand der Norm- und Regellosigkeit zu betrachten. Menschen, auf die dieser Zustand zutrifft, stehen kulturell definierten Zielen gegenüber bzw. werden mit diesen konfrontiert. Sie verfügen jedoch nicht über die notwendigen legitimen sowie institutionellen Mittel um diese Ziele zu erreichen. Die Übernahme von antisozialen Normen und die Zugehörigkeit in einer Clique die dieser Situation auch ausgesetzt ist und sich dagegen auflehnen möchte, kann für den in Anomie lebenden Menschen eine Lösungsmöglichkeit bzw. Kompensation der Frustration darstellen (Rauchfleisch 1981: 26,27).

Zu Beginn der 70er Jahre brachte der interaktionistische Ansatz den Begriff des Labeling Approach hervor. Nach diesem Ansatz ist Dissozialität als ein Interaktionsprozess zwischen Individuum und Gesellschaft zu verstehen. Ein Prozess gegenseitiger Bedingtheit und wachsenden eskalierenden Verhaltensweisen zwischen auffälligen Einzelpersonen und Instanzen sozialer Kontrolle. Sowohl das Verhalten der Instanzen als auch das weiterer Institutionen wird dabei nicht nur als Reaktion auf kriminelles Handeln angesehen sondern auch als ein deviantes Verhalten, was zum Kriminalisierungsprozess beiträgt (vgl. Rauchfleisch 1981: 28).

Die marxistische Sichtweise resultiert aus der Zeit des Kapitalismus. Die Erklärungsansätze beziehen sich hierbei auf die Schwerpunkte Armut und die Entfremdung des produktiven Daseins des Menschen (vgl. Rauchfleisch 1981: 29).

Die sozialpsychologischen Ansätze sehen die Strafjustiz als ein Mittel an, dessen sich die Vertreter der staatlichen Autorität bedienen. Ziel dieser Vertreter ist es, Personen ausfindig zu machen, die nonkonform handeln um diese zu verurteilen und zu bestrafen. Die Bestrafung eines Rechtsbrechers stellt eine Befriedigung dar, entschädigt für das eigene Versagen und ermöglicht, dass sich die Aggression gegen den Delinquenten richtet. Neben dem Elternhaus haben auch die Schullaufbahn, Massenmedien, gesellschaftliche Umwälzungen und kulturspezifische Konflikte einen Einfluss auf dissoziales Verhalten (vgl. Rauchfleisch 1981: 29-31).

Das Konzept der psychopathischen Persönlichkeiten zeigt auf, dass Dissozialität in einem engen Zusammenhang mit Psychopathie und Soziopathie steht. Es wird jedoch betont, dass Psychopathie nicht von vornherein dissoziales Verhalten impliziert. Deutlich wird jedoch, dass einzelne Charakterzüge und Eigenschaften (impulsives Verhalten, aggressives Verhalten, fehlende Frustrationstoleranz, Schwierigkeiten in mitmenschlichen Kontakten usw.) dieser Persönlichkeiten übereinstimmen (vgl. Rauchfleisch 1981: 32,42).

Der letzte Ansatz, der sich mit der Erklärung dissozialen Verhaltens beschäftigt, bezieht sich auf die psychoanalytischen Theorien. Die psychoanalytischen Theorien gehen davon aus, dass das Fühlen, Denken und Handeln von erwachsenen Personen im Kontext mit deren jeweiligen individuellen frühkindlichen Entwicklungen gesehen werden muss. Diese Sichtweise führte dazu, dass man sich mehr mit den Hintergründen und ausschlaggebenden Faktoren für dissoziales Verhalten beschäftigte. Aus Sicht der psychoanalytischen Theorie, entsteht delinquentes Verhalten auf Grund eines zugrundeliegenden Konflikts oder einer Mangelerfahrung. Dissoziale Verhaltensweisen werden in diesem Zusammenhang als Ausdrucksform eines Individuums angesehen, dass sich in einer spezifischen sozialen Situation, mit spezifischen Konflikten befindet und eine spezifische Lebensgeschichte mitbringt (vgl. Rauchfleisch 1981: 44).

Kritik und Grenzen der Erklärungskraft

Personen mit dissozialen Verhaltenszügen sollten nicht generell unter den Verdacht einer Persönlichkeitsstörung gestellt werden. Jedes Individuum verfügt über zwanghafte, hysterische und paranoide Wesenszüge. Im Regelfall treten diese, auf Grund des geringen Grades, nach außen hin nicht in Erscheinung. Erst ab einen gewissen Grad prägen sie Persönlichkeiten und greifen störend in das Persönlichkeitsgefüge ein (vgl. Staud 2012: 50) In der Verwendung der Diagnosesysteme kommen immer wieder Zweifel auf, ob die Begriffe dissoziale oder auch antisoziale Persönlichkeitsstörung (verankert im DSM-IV-TR) überhaupt geeignet sind, Persönlichkeitseigenarten angemessen zu kennzeichnen. Sowohl Dissozialität als auch Delinquenz können Faktoren sein, die für das Vorliegen einer Persönlichkeitsstörung sprechen. Zu beachten ist jedoch, dass sie nicht nur bei dissozialen Persönlichkeitsstörungen auftreten, sondern auch bei Personen mit anderen Störungsbildern zu beobachten sind (vgl. Fiedler 2007: 154). Genetische Faktoren können als ein Element in der Kette von möglichen Bedingungen angesehen werden. Sie sind jedoch nicht die Hauptursache für eine dissoziale Fehlentwicklung. Untersuchungsbefunde in diesem Bereich geben lediglich Einsicht in genetische, psychologische und andere somatische Prozesse, reichen aber nicht aus, das Wesen der dissozialen Persönlichkeit zu ergründen (vgl. Rauchfleisch 1981: 25).

Kriminologische Relevanz

Dissoziale Verhaltensmuster spielen nicht nur bei der Einschätzung einer Rückfallgefahr bzw. eines Rückfallrisikos eine wichtige Rolle, sondern auch bei der Frage der Schuldfähigkeit. Anhand sozialwissenschaftlicher Aspekte und kriminologischer Theorien, lassen sich Entwicklungen und Strukturen dissozialer Persönlichkeiten aufzeigen. Sie vermitteln deutlich, dass Dissozialität nicht als etwas Statisches, sondern als ein dynamischer Entwicklungsprozess angesehen werden sollte. Es wird als wichtig erachtet, dass der Fokus nicht alleine auf der dissozialen Persönlichkeit liegt, sondern auch gesellschaftliche Hintergründe, schichtspezifische Unterschiede sowie Sozialisationspraktiken des jeweiligen Individuums berücksichtigt werden. Reaktionen gesellschaftlicher Instanzen sind nicht nur abhängig vom jeweiligen begangenen Delikt, sie werden auch durch den sozialen Hintergrund des Dissozialen beeinflusst (vgl. Rauchfleisch 1981: 31).

Literatur

  • Davidson, Gerald C./Neal, John M./Hautzinger, Martin (2007): "Klinische Psychologie". 7. Auflage. Beltz Verlag. Weinheim/Basel.
  • Fiedler, Peter (2007): "Persönlichkeitsstörungen". 6. Auflage. Beltz Verlag, Weinheim/Basel.
  • Rauchfleisch, Udo (1981): "Dissozial". Kleine Vandenhoeck-Reihe, Göttingen.
  • Staud, Lothar (2012): "Basiswissen der Forensischen Psychiatrie - Eine Anleitung für Juristen, Ärzte, Psychologen, Kriminalbeamte, Medizinstudenten, Krankenschwestern und Sozialarbeiter". 3. Auflage. Richard Boorberg Verlag. Stuttgart.
  • Steden, Hans-Peter (2003): "Die Begleitung psychisch gestörter Menschen - Eine Einführung in die Psychiatrie und Psychopathologie". Lambertus Verlag. Freiburg im Breisgau.
  • Stein, Roland (2008): "Grundwissen Verhaltensstörungen". Schneider Verlag Hohengehren. Baltmannsweiler.

Weblinks