Die evangelische Gemeinde und die Judenfrage

Der Aufsatz Die evangelische Gemeinde und die Judenfrage aus dem Jahre 1926 war eine vom evangelischen "Gemeindeblatt" in Nürnberg erbetene Reaktion des evangelischen bayerischen Landesbischofs Hans Meiser (1881-1956) auf nationalsozialistische Angriffe gegen getaufte Juden. Er war 50 Jahre nach dem Tode des Bischofs Anlass für die 2010 wirksam gewordene Umbenennung der Meiserstraße in München in "Katharina-von-Bora-Straße".

Kontext

Seit dem 20.04.1923 erschien Julis Streichers antisemitische Wochenzeitschrift "Der Stürmer" in Nürnberg. 1924 begann "Der Stürmer" eine Kampagne gegen die "500 getauften Hebräer" im Pfarramt, die als geheime "Diktatoren" die evangelische Kirche in ihre Gewalt gebracht hätten. Die Nürnberger Kirchenoberen sahen die Notwendigkeit einer klärenden Stellungnahme seitens der Kirchenleitung. Geeignet dafür schien offenbar Hans Meiser, der Leiter des Predigerseminars und ein einflussreicher Mann in der evangelischen Kirche Bayerns dazu.

Als es zudem auf der Provinzialtagung des Evangelisch-Sozialen Kongresses am 05.10.1925 in Nürnberg anlässlich eines Vortrags von Professor Ernst Cahn (Magistratssyndikus der Stadt Frankfurt am Main und getaufter Jude) zu einer tumultuarischen Szene gekommen war, als ein Diskussionsredner sich verbat, "dass ein Jude dem detuschen Volke etwas von christlicher Berufsethik erzähle und dabei die Ausbeuter des Volkes, die jüdischen Börsenmänner, unerwähnt lasse" (Bahners 2010), sah das "Gemeindeblatt" die Zeit für ein klärendes Wort gekommen und bat Meiser um einen Aufsatz zu der Frage, wie sich ein evangelischer Christenmensch zu den Juden zu verhalten habe.

Meiser nahm die übelsten Klischees über Juden auf, die damals im Umlauf waren, und ging dann auf der Basis der christlichen Lehre Schritt für Schritt vor, um schließlich zu fünf Geboten für den Umgang mit Juden zu gelangen, die über das Lutherische Jahrbuch 1935 schließlich auch zur Kenntnis der SS und des Reichssicherheitshauptamtes kamen: "Als Christen sollen wir die Juden erstens mit Freundlichkeit grüßen, zweitens mit Selbstverleugnung tragen, drittens durch hoffende Geduld stärken, viertens mit wahrer Liebe erquicken, fünftens durch anhaltende Fürbitte retten.“

Inhalt

Meisers Argumentation begann mit der Akzeptanz all dessen, was man gegen die Juden vorgebracht hatte. Er nannte "die Rassenfrage als den Kernpunkt der Judenfrage“, akzeptierte das „Zurückdrängen des jüdischen Geistes im öffentlichen Leben“, die „Reinhaltung des deutschen Blutes“ und konstatiert eine „unselige Kluft zwischen Deutschtum und Judentum“.

Er erklärt sodann, schon leicht konzilianter: „Die kulturellen und wissenschaftlichen Leistungen, die wir den Juden zu verdanken haben, sollen voll anerkannt werden … Aber das ändert nichts an der Tatsache, daß der jüdische Geist für uns etwas Wesensfremdes hat und daß sein Umsichgreifen zum allergrößten Schaden für unser Volk wäre.“ Er forderte eine „sittliche Selbstschutzbewegung“: „Mag die Moral vieler Juden nichts anderes sein als stinkende Unmoral, wer zwingt uns denn, ihre Grundsätze zu befolgen und es ihnen gleichzutun oder gar sie zu übertreffen? Selbsthilfe ist oft die beste Hilfe. Darum scheint mir diese sittliche Selbstschutzbewegung das Allernotwendigste zu sein, was wir in bezug auf die Judenfrage zu tun haben."

Dann rief Meiser auch die fanatischen Antisemiten auf, sich jeder Ausschreitung zu enthalten: "Gerade wer von der Minderwertigkeit der jüdischen Rasse überzeugt ist, dürfte, wenn er nicht ein blinder Fanatiker ist, mit dem nicht zu rechten ist, nicht das Judenpogrom predigen (...)"

Unvertretbar fand es Meiser, dass Juden „bloß um ihrer Rasse willen von vorneherein und ohne Ausnahme als minderwertige Menschen angesehen werden“.

Er erklärte: „Gott hat uns nicht zur gegenseitigen Vernichtung, sondern zum gegenseitigen Dienst und zur gegenseitigen Förderung geschaffen … Der Kampf gegen das Judentum hat unter uns solche Formen angenommen, daß alle ernsten Christen förmlich genötigt sind, sich schützend vor die Juden zu stellen.“

Daraus folgerte Meiser als ethischen Imperativ für alle Christen gegenüber "dem Juden": „Wir wollen ihm so begegnen, daß er, wenn Gott dereinst seinen Fluch von ihm nimmt und er zu Ruhe eingehen darf, seine Heimat da sucht, wo er die findet, die ihn in seinen Erdentagen mit Freundlichkeit gegrüßt, mit Selbstverleugnung getragen, durch hoffende Geduld, mit wahrer Liebe erquickt, durch anhaltende Fürbitte gerettet haben.“

Literatur

  • Bahners, Patrick (2010) Ein Unglück, das uns alle betrifft. Heute wird in München über das Recht der Stadt verhandelt, die Meiserstraße umzubenennen. Die Landeskirche lässt ihrem ersten Bischof nicht einmal historische Gerechtigkeit zuteil werden. FAZ 23.02.10: 35.


Weblinks

  • Die evangelische Gemeinde und die Judenfrage; in: Evangelisches Gemeindeblatt Nürnberg 33, 1926, S. 394–397, 406–407, 418–419. [[1]]