Dämmerfeld

Aus Krimpedia – das Kriminologie-Wiki
Zur Navigation springen Zur Suche springen

Begriff

Eigentlich ist die polizeiliches Kriminalstatistik (PKS) nach eigener Aussage „eine Zusammenstellung aller der Polizei bekannt gewordenen strafrechtlichen Sachverhalte“. Diese Aussage stimmt aber nicht, denn es gibt einen Teil der gemeldeten Kriminalität, z.B. durch telefonische Anrufe, der nicht in einer förmlichen Anzeige mündet und damit nicht in der polizeilichen Kriminalstatistik erscheint. Dieser Anteil ist das kriminelle Dämmerfeld. Der Name Dämmerfeld resultiert daraus, dass es nicht zum Hellfeld (PKS), aber auch nicht zum Dunkelfeld (durch Opferbefragungen eruierbar) gehört. Es handelt sich um die Delikte, die der Polizei bekannt geworden sind, die aber nicht förmlich erfasst werden; also um ein Kriminalitätsfeld, welches der Polizei ‘dämmert’.

Der Ausdruck Dämmerfeld ist ohne Alternative, weil der ansonsten noch denkbare Begriff Graufeld in der Kriminologie schon mehrfach besetzt ist. Erstens wird von Kunz als Graufeld die Differenz zwischen PKS und Verurteiltenstatistik (entspricht der Definition d) und e) von Dunkelfeld bezeichnet. Zweitens verstehen einige unter Graufeld die illegitimen bzw. illegalen Verhaltensweisen, die noch nicht voll vom Strafrecht erfasst werden (Ordnungswidrigkeiten etc.). Eisenberg und Schneider verstehen unter Graufeld das Feld der unaufgeklärten Fälle (entspricht der Definition b) von [Dunkelfeld].

Forschungsgeschichte

1972 nehmen Feest/Blankenburg an polizeilichen Einsatzfahrten teil und berichten, dass die Polizei ihre Definitionsmacht vor allem gegen die Unterschicht wahrnehme. In der ersten deutschen Opferbefragung 1973 in Stuttgart wundern sich Stephan u.a. über die Widersprüche zwischen angegebenem Anzeigeverhalten und den tatsächlich in der PKS sich befindlichen Delikten. Sie vermuten, dass Anzeigen zu Eigentumsdelikten anders als solche zu Gewaltdelikten behandelt würden. Stephan u.a. vermuten, dass die Polizei Informationen selektiere. Bei den Bochumer Kriminalitätsbefragungen durch Schwind u.a. 1975/76 und 1986/1987 hätte man aus den differenzierten Fragen über den Anzeigeweg ein Dämmerfeld bestimmen können. Die Grundauswertungszahlen dazu werden aber nicht veröffentlicht.

In den 1980er Jahren gibt es noch einige Opferbefragungen mit ebenfalls differenzierenden Fragen, aber ohne Ergebnisbekanntgabe. Ein Rückschritt findet dann in den 1990er Jahren statt, weil das Modethema Kriminalitätsfurcht die Frage nach der Anzeige der erlittenen Opfertat verdrängt. Der Höhepunkt der Dämmerfeldforschung in den 1970er Jahren erklärt sich durch den zu diesem Zeitpunkt boomenden Labeling Approach, der meint, dass die staatlichen Kontrollorgane ihre Sanktionsinstrumente schichtenspezifisch einsetzten. 1978 erscheint die Hauptarbeit zum kriminellen Dämmerfeld. In seiner Habilitation berichtet Kürzinger von einer mehrmonatigen Hospitation bei der Polizei, bei der 97% der Eigentumsdelikte betreffenden Anzeigen, aber nur 30% der Anzeigen gegen Personen protokolliert werden. Kürzinger findet heraus, dass Unterschichtsanzeigende tendenziell weniger erfolgreich sind. Im Gegensatz zur Annahme des Labelling Approach wird damit die Unterschicht vom Anzeigendruck entlastet. In den 1980er Jahren gibt es von einzelnen Untersuchern Randbemerkungen zum Dämmerfeld, wie z.B. dass die Polizei Anzeigen manchmal nicht 100%ig registriere (Rosellen 1983, Balvig 1988, Killias 1991, Ammer 1990). Über das Dämmerfeld in der DDR gibt es zwei sich diametral widersprechende Aussagen. Heide/Lautsch meinen, dass Anzeigen mit geringer Chance den Täter zu ermitteln oft nicht von der Polizei aufgenommen würden, während Baier/Borning sagen, dass die Polizei alles aufgenommen hätte, weil sie keinen Ermessensspielraum besessen hätte.

Bei Opferstudien im Rahmen der Wiedervereinigungsbefragungswelle kann man durch umfangreiche Datentransformation Angaben zur Dämmerfeldgröße herauslesen. Die genauen Zahlenangaben seien später vorgestellt. In den 1990er Jahren gibt es einige Anführungen zu Randthemen des Dämmerfeldes. Gundlach/Menzel stellen fest, dass durch Eingabefehler ein kleiner Teil der Anzeigen nicht in der PKS erfasst werde. Haupt / Weber meinen, dass Anzeigen von körperlich Schwachen eher als von Starken erfasst würden.

Entstehung des Dämmerfeldes

Das Dämmerfeld entsteht auf mehreren Wegen. Das in der Literatur bisher hauptsächlich vermutete Abwimmeln auf der Polizeiwache ist nicht so bedeutend und geschieht oft zu recht (z.B. Anzeigen wegen zu lauter Musik). Nur 1-10% der zur Wache Kommenden gehen ohne Anzeige wieder. Zu einem kleinen Teil sind es zu Betrunkene. In einer ähnlichen Größenordnung von bis zu 10% aller Fälle nehmen Polizeiwagen bei Konflikten vor Ort keine Anzeige auf. Insbesondere bei leichten Auseinandersetzungen ohne gravierende Folgen für die meist untereinander gut bekannten Betroffenen fährt der Peterwagen wieder ohne Anzeige ab. Der größte Teil des Dämmerfeldes entsteht durch Anrufende, die zu ca. 10-50% später nicht zur Wache kommen. Neben diesen nicht schriftlich anzeigenden telefonischen Meldern führt in einigen Bundesländern der Verweis auf einen Schiedsmann in 0-30% je nach Bundesland zu keiner schriftlichen Anzeige. Im Schnitt geht nur jeder 2. dann tatsächlich zum Schiedsmann. Ebenso kommt es in 0-20% je nach Bundesland durch eine Rücknahme einer Anzeige (meist im sozialen Nahraum) zu keiner PKS-Registrierung.

Die oben gelieferten Zahlenangaben sind nur ungefähre Angaben, deren empirische Basis 50 Polizeiwacheninterviews sind.

Größe des Dämmerfeldes

Es gibt sechs Untersuchungen, die eine Angabe zur Größe des Dämmerfeldes herauslesen lassen. Kürzinger findet bei seiner teilnehmenden Beobachtung der Arbeit einer Polizeiwache 1978 heraus, dass von den 93 Anzeigenversuchen 14 nicht protokolliert werden, welches einer Dämmerfeldgröße von 15,1% entspricht. In der Deutsch-Deutschen Opferstudie 1990 von Kury u.a. ergibt sich durch Zusammenfassung der Befragungskategorien „telefonisch gemeldet“ und „von der Polizei abgewimmelt“ ein Dämmerfeld von 8,7% (7026 Befragte). Neben methodischen Mängeln wie einer knapp 5jährigen Referenzperiode wird bei dieser Untersuchung das telefonische Dämmerfeld untererfasst, weil die über 5000 befragten ehemaligen DDR-Bürger 10 Monate nach der Wende noch keinen Telefonanschluss haben. In der 14 Monate später durchgeführten Jena-Kahla Befragung 1991 kann man anhand der Auswertung des Anhangs feststellen, dass das in den gleichen obigen Befragungskategorien (telefonisch, abgewimmelt) angegebene Dämmerfeld bereits 11,4% beträgt (N=2194). Eine Studie vom Kriminologischen Forschungsinstitut Niedersachsen (KFN) ergibt 1992 ein Dämmerfeld von 12,1%. Auch wenn es methodische Einschränkungen gibt, wird dazu die Antwortkategorie „von den Befragten selbst der Polizei/Staatsanwaltschaft mitgeteilt .., ohne daß ein Protokoll unterschrieben wurde“ herangezogen. Antholz kann in einer Studierendenbefragung ein Dämmerfeld von 13,1% feststellen (N=1214), indem er diejenigen, die angeben, ihr Opferdelikt der Polizei gemeldet zu haben, direkt fragt, ob eine schriftliche Anzeige erfolgt. Bei dem methodischen Pendant, nämlich der Befragung von 50 Polizeiwachen nach ihrer Einschätzung über die Größe des Schwundes zwischen ihnen zu Ohren gekommener Kriminalität und tatsächlich schriftlich fixierter ergibt sich ein recht ähnliches Dämmerfeld von 11,7%.

Damit kommen alle sechs Untersuchungen zu einem recht ähnlichen Ergebnis. Wenn man von dem kleinen Ausreißer der Deutsch-Deutschen Opferstudie 1990 absieht, die das telefonische Dämmerfeld im Oktober 1990 für die DDR-Bürger notwendigerweise unterfasst, liegen alle Angaben zwischen 11-15%. Der ungefähre Mittelwert sind 13%. Damit ist das Ergebnis empirischer Untersuchungen zur Größe des Dämmerfeldes recht eindeutig. Überträgt man es einmal auf die seit den 1990er Jahren sich konstant bei rund 6,5 Mio Straftaten pro Jahr in der Bundesrepublik einpendelnde Kriminalstatistik dann wird klar: Anders als in der Einführung zur PKS behauptet, werden der Polizei neben den 6,5 Mio registrierten Delikten noch weitere 1,0 Mio Delikte bekannt (bzw. von den 7,5 Mio gemeldeten Opferdelikten gelangen 13%, also 1,0 Mio, nicht zu einer förmlichen Anzeige, bilden somit das Dämmerfeld.


Verteilung des Dämmerfeldes

Zur Verteilung des Dämmerfeldes bezogen auf den Raum ergibt sich folgendes Ergebnis: ermittelt durch die 50 in Ost und West durchgeführten Polizeiwacheninterviews stellt man fest, dass das Dämmerfeld in Ostdeutschland kleiner als in Westdeutschland ist. Die zahlenmäßig überhöht vertretene Polizei registriert in Ostdeutschland fast jede Polizeianzeige, um die Existenz der jeweiligen Wache zu sichern. Berücksicht man das Dämmerfeld, dann kehrt sich ein langjähriger Befund der polizeilichen Kriminalstatistik um: das bekannte Ost-West-Kriminalitätsgefälle, dass für Ostdeutschland seit der Wiedervereinigung immer erheblich höhere Häufigkeitszahlen (Straftaten pro 100 000 Einwohner) ausweist, ist ein Artefakt der höheren Registrierungsintensität der Ostpolizisten. Wäre das Dämmerfeld im Osten ähnlich hoch wie im Westen und würde man geographisch korrekt die Südländer Bayern und Baden-Württemberg ausklammern, ergäbe sich für Westdeutschland eine Häufigkeitszahl von 10175 und Ostdeutschland von 9729 Delikten pro 100 000 Einwohner. Ostdeutschland ist also nicht krimineller, sondern die Dämmerfeldunterschiede bzw. die unterschiedliche Polizeipraxis erklären den jahrelang die Kriminologen beschäftigenden Diskurs.

Bezogen auf die Verteilung des Dämmerfeldes bei den einzelnen Delikten lassen sich folgende Aspekte finden. Das Dämmerfeld ist bei Körperverletzungsdelikten am größten. Das liegt erstens daran, dass die Polizei bei Streitereien zwischen meist Angetrunkenen meist nur schlichtend eingreift und keiner der Beteiligten Anzeige erstattet. Gleichwohl hat die Polizei diese Auseinandersetzungen mitbekommen. Zweitens, dies ist allerdings eine Spezialerscheinung von Studierendenbefragungen, sind die bei Körperverletzungen angegebene größte Tätergruppe die Polizeibeamten selber. Eine zweite Dämmerfeldkategorie sind Autoaufbrüche. Man kann vermuten, dass diese der Polizei bei Routineverkehrskontrollen gemeldet werden. Der dann von der Polizei gegebene Hinweis, man solle zu einer Wache fahren, um die Anzeige aufzugeben, wird dann meist nicht befolgt. Weitere kleinere Dämmerfelder entstehen beim Fahrraddiebstahl (denkbar wäre eine Nichtanzeigenaufnahme, wenn das Fahrrad nicht angeschlossen war), beim einfachen Diebstahl (der oft auch ein Verlieren ist) und bei Sachbeschädigungen, die oft unabsichtlich erfolgten. Sexuelle Delikte und gravierende Eigentumsdelikte, Brandstiftungen oder Betrug scheinen fast kein Dämmerfeld zu haben.

Kriminologische Bewertung

In der kriminologischen Forschung sind viele Befunde unsicher. Die Dunkelfeldforschung ermittelt z.B. bei der Frage nach der Opferwerdung (typischerweise) im letzten Jahr Viktimisierungsquoten von 8,5% (Killian 1978) bis 78,4% (Legge 1994). Umso erstaunlicher ist, dass die Größe des Dämmerfeldes in den bisher vorliegenden sechs Untersuchungen in sehr ähnlicher Größenordnung festgestellt wird. Unisono kommen die Forscher zu einer Dämmerfeldgröße von 13% (13% der der Polizei gemeldeten Delikte münden nicht in der PKS).

Dieser deskriptive Befund darf aber nicht zu einem normativen Fehlschluss verleiten. Das Ziel darf es keineswegs sein, dass Dämmerfeld aufzuheben. Vielmehr muss das Dämmerfeld in einer ähnlichen Größenordnung erhalten bleiben. Die Polizei hat oft die Funktion, Konflikte im sozialen Nahraum zu regeln. Meist handelt es sich dabei um familiäre Konflikte oder um Auseinandersetzungen unter Bekannten / Freunden. Würde die Polizei nun bei jedem Einsatz eine Anzeige protokollieren, würde sie in vielen Fällen zu einer Streitverschärfung beitragen, statt deeskalierend tätig zu werden. Wenn der Angezeigte mit schlimmen Folgen durch das Auftreten der Polizei rechnen muss, wird der Polizeirufende desavouiert. Konsequenz wäre, dass er beim nächsten Mal nicht mehr die Polizei ruft. Dies träfe vor allem die Frauen als Opfer.

Eine 100%ige Durchsetzung des Sanktionensystems würde auch die staatlichen Verfolgungsorgane überfordern. Eine Normendurchsetzung bei jeder Verhaltensabweichung gefährdet die Funktionsfähigkeit des polizeilichen Kontrollsystems. Eine übereifrige Polizei würde auch Ängste vor einem Orwellschen Überwachungsstaat in der Bevölkerung schüren. Ein drittes gewichtiges Argument gegen die Auflösung des Dämmerfeldes sind die dann entstehenden Kosten. Auch wenn es darüber nur ungefähre Angaben gibt. Von den rund 220 000 Polizisten (andere Quellen sprechen unter Einbeziehung von weiteren vergleichbaren Personen von 260 000) werden bei einem ungefähren Personalkostenaufwand von ca. 11 Mrd Euro rund 6,5 Mio PKS-Anzeigen registriert. Das entspricht rund 1700 Euro pro PKS-Anzeige. Würde man nun die 1,0 Mio Delikte im Dämmerfeld ebenfalls registrieren, müsste der Staat dafür zusätzlich knapp 2 Mrd Euro (1700 x 1,0 Mio) zahlen.

Abschließend sei als Argument, dass das Dämmerfeld mindestens in der bisherigen 13%igen Größenordnung erhalten bleiben muss, angeführt, dass die Polizei vor allem die Anzeigen von und gegen Unterschichtsangehörige, bei denen es - oft unter Alkoholeinfluss - viel häufiger zu Auseinandersetzungen kommt, nicht registiere. Im Gegensatz zur Annahme des Labelling Approach entkriminalisiert die Polizei damit durch das Dämmerfeld die unteren Schichten.

Literaturhinweise

Kürzinger, Josef: Private Strafanzeige und polizeiliche Reaktion, Berlin, 1978

Antholz, Birger: Dämmerfeld. Empirische Untersuchung zur Größe der der Polizei gemeldeten, aber nicht in der polizeilichen Kriminalstatistik registrierten Kriminalität, Hamburg, 2006