Zwei Gesetze der Strafentwicklung

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Émile Durkheim befasste sich in der (von ihm selbst im Jahre 1898 gegründeten) Zeitschrift L'Année Sociologique unter anderem mit der Evolution der Strafe. Der Aufsatz "Deux Lois de l'Évolution Pénale" (1901) erschien 1973 auf englisch ("Two laws of penal evolution" von T.A. Jones und A.T. Scull).

In diesem Aufsatz beschreibt Durkheim wesentliche Bedingungen für die Entwicklung des Strafapparats und der Strafe als dessen Instruments. Bekannt wurden vor allem die in diesem Aufsatz behaupteten "zwei Gesetze der Strafentwicklung". Diese sind:


  • quantitatives Gesetz
Die Intensität der Bestrafung ist umso größer, desto mehr eine Gesellschaft einem geringer entwickeltem Stadium zuzuordnen ist - und je mehr die zentrale Macht einen absoluten Charakter aufweist.
  • qualitatives Gesetz
Der Freiheitsentzug, und die Freiheit an sich, haben im Laufe der Zeit in Bezug auf die jeweilige Entwicklung der Kriminalität variiert, mit der Tendenz dazu dass es zunehmend die normale Reaktion der sozialen Kontrolle wurde.


quantitatives Gesetz

Bei der Frage nach dem Entwicklungsgrad einer Gesellschaft fragt Durkheim nach deren Indikatoren der Komplexität und Organisation im konkreten Stadium und stellt dabei fest das die Entwicklung nicht in einem linearen Muster verläuft, sondern vielmehr verästelte zusammenhängende Stadienverläufe, sog. Entwicklungsbäume enstehen.

Nach abstraktem theoretischen Verständnis spricht man von absoluter (von lateinisch absolutus "losgelöst") Macht, wenn es außerhalb der Regierungsmacht in anderen sozialen Institutionen keinen Ausgleich mit, oder eine Limitation dieser besteht.

Durkheim sieht allerdings in der Realität die völlige Abstinenz von limitierenden Faktoren als nicht möglich an, da zumindest Tradition, Religion und soziale Gremien eine Gegenwirkungsfunktion innehaben, sobald sie den Zielsetzungen der absolutistischen Instanz zuwiderlaufen. (jedoch können diese durch Machtkonzentration zunehmend beeinflusst werden) Somit ergeben sich zwei wesentliche Modelle in denen Durkheim von absoluter Macht sprechen würde.

  • Es ist gibt demnach Fälle in denen die regulativen Kräfte untergeordneter Elemente nicht zumindest in geschriebenen Recht oder einem Gewohnheitsrecht festgesetzt sind, so dass Veränderungen der Strukturen meist durch Revolutionen oder anders, generöusen Akten des Machtinhabers, als Verzicht auf - oder Begrenzung der Macht einhergehen.
  • Fälle in denen die gesetzliche Sphäre durch zwei Idealtypen, oder zwei Polen bestimmt wird.
    • unilateraler Typ, einem Teil werden exklusiv Rechte gegeben, Kontrolle und Ausübung treffen zusammen
    • bilateraler (reziproker) Typ, beide Teile vereinbaren ein bestimmtes gegenseitiges Verhältnis (Bsp.analog: matrielle Rechte wie das Eigentumsrecht, der Eigentümer (Regierungsmacht) hat Rechte für sein Eigentum (Individuum), jedoch das Eigentum keine Rechte gegen ihn) in dessen Rahmen Machtpositionen zugestanden werden
  • je mehr die höchste Machtinstanz einen unilateralen Charakter aufweist, desto absoluter wird diese auch ausgeübt, bzw. weniger absolut, je mehr bilaterale Beziehungen zwischen oberster Macht und anderen sozialen Gruppen bestehen

Darüber hinaus sieht Durkheim keinen konkreten Zusammenhang zwischen dem speziellen sozialen Typus einer Gesellschaft und dem Grad des absolutistischen Charakters und betont das bei einer Betrachtung, diese beiden Faktoren streng voneinander zu trennen sind, bzw. oft keine logischer Zusammenhang zwischen beiden bestehen muss, unabhängig voneinander.

Daraus folgt das es auch Fälle gibt in dem eine Gesellschaft sich "weiterentwickelt", aber die staatliche Macht diesen Entwicklungseffekten entgegenwirkt und es somit gerade nicht zu einem Intensitätsrückgang bei der Bestrafung kommt.

Als Beispiele in seiner historischen Variationsdiagnose stellt er zum Beispiel das Ägypten in der Pharaonenzeit dem hebräischen Volk (Israel) gegenüber. Die monarchische geprägten Dynastien in Ägypten weisen für viele Verbrechen sehr brutale Bestrafungen auf, z.B. Verstümmelungen für Fälscher und Diebe (Hände), Spione (Zunge) oder Vergewaltiger (Kastration). Dagegen stehen eher moderate Strafen auf Seiten der Hebräer, die zwar auch physische Strafen anwendeten, jedoch auffallend weniger intensiv und häufig, obwohl beide Völker nach Durkheim auf einem ungefähr gleichen sozialen Entwicklungsstadium einzuordnen sind. Nur steht hier einem absolutistisch geprägtem ein mit viel mehr demokratischen Strukturen durchsetzter Staat gegenüber.

Weiteres Beispiel sind die Römische Republik und Athen als frühere Stadtstaaten mit einem sehr hohen sozialen Entwicklungsstadium. Das in seinen Strafen viel mildere Rom unterscheidet sich von Athen dahingehend, dass dieses seine wenigen Todesstrafen nicht mit anderen Strafen verband (Tod durch Strangulation, Schwert oder Giftbecher wie in Athen). Erst mit dem Kaisertum und seiner absolutistischen Ausrichtung nahm auch die Härte der Bestrafung erheblich zu (z.B. Verbrennen am Pfahl, Verstümmelungen reserviert für politische Verbrechen). Gerade zunehmende Verstöße gegen die öffentlichen Sitten oder die Majestätsbeleidigung wurden mit Todesstrafen belegt.

Auch in den christlichen Gesellschaften im Mittelalter hat sich ein ähnlicher Prozess vollzogen. Verglichen mit den vorherigen Gesellschaften und ihrem Entwicklungsgrad weisen die feudalen Gesellschaften ein geringeres Maß der Bestrafung auf. Erst wieder mit zunehmender Machtkonzentration auf den König und dem Höhepunkt der Monarchien im 17.Jahrhundert nahm das Maß der Bestrafung erheblich zu, ebenso gerade in den Bereichen die sich gegen die herrschaftlichen Strukturen richteten. (Folter noch als Mittel der Strafe und nicht nur ausschließlich zur Informationsbeschaffung). Diese Situation änderte sich mit dem Verfall der Monarchie (Aufklärung, franz. Revolution etc.) und den Reformbewegungen in den Strafrechtswissenschaften (u.a. Cesare Beccaria) bzgl. der Verfahrensgarantien und der Abschaffung der peinigenden Strafen oder der Todesstrafe maßgeblich.


qualitatives Gesetz

In früheren Gesellschaften war das Gefängnis oder der Freiheitsentzug als Strafe nicht vorhanden, bzw. das "Einsperren" erfüllte nur die Funktion die Person bis zum Verfahren oder der eigentlichen Strafvollstreckung in Gewahrsam zu haben. Dabei war der Entzug der Freiheit nie eigentlicher Strafsinn, auch wenn er schon früh seinen repressiven Charakter zeigte. Der Freiheitsentzug hätte Durkheim zu Folge auch keinen Sinn gemacht, da für die Strafen damals als Kollektiv (Klan, Familie, Vertrauenspersonen) einzustehen war und somit kein Platz für eine Arrestierung als Form der Wiedergutmachung war.

Im Laufe der Geschichte gab es bis zu den christlichen Gesellschaften im Mittelalter nur wenige Impulse zu einer Institutionalisierung der Freiheitsstrafe. Erst dort gab es mit der zellulären Existenz einiger Straftäter in den Klostern (ähnlich von Mönchen) einen ersten konkreten Ansatz des Freiheitsentzuges, statt lediglich der Überwachung als Zweckgedanken.

Der Freiheitsentzug als Strafe überdauerte das kanonische Recht und wurde z.B. Grundlage des Bestrafungsystems in Frankreich 1791 und später in Europa, meist aber noch mit zusätzlichen Maßnahmen wie "in Ketten gelegt" oder "bei Wasser und Brot".

Gerade als Äquivalent zur Todesstrafe und den peinigen Strafen erlang sie in der Aufklärung zunehmend größere Bedeutung. Die Dauer des Entzugs beinhaltet auch die Möglichkeit viele so unterschiedliche Verbrechensformen Mithilfe eines Strafmaßstabes genauer und gerechter bewerten zu können. Auch erfuhren, mit der größeren Bedeutung des Einzelnen und seiner sozialen Stellung, im Gegenzug Straftaten gegen das Kollektiv und ihrer Bestrafung eine nicht mehr so bedeutende Stellung.


kriminologische Relevanz

Für Durkheim spielte das Strafrecht und die Entwicklung der Strafen eine wesentliche Rolle, wobei er besonders die Beziehungen zwischen Gesetz, Glauben und Moral in den Mittelpunkt stellte. Dem Aufsatz gingen seine Überlegungen über Kriminalität, kollektives Bewußtsein und kollektive Ideale voraus. (Siehe De la division du travail social, 1893) Durkheim stellt mithin fest das zwischen Kriminalität und Bestrafung eine Wechselbeziehung besteht, aber Bestrafung nicht Resultat des Verbrechens ist. Er wendet die Betrachtung um und sagt: Kriminalität ist was soziale Bestrafung erhält, und was bestraft wird übertritt soziale Wertevorstellungen und Gesinnungen