Zwei Gesetze der Strafentwicklung

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Gesetze der Strafentwicklung

Émile Durkheim publizierte in der von ihm selbst begründeten Zeitschrift L'Année Sociologique im Jahre 1900 den Aufsatz über "Zwei Gesetze der Strafentwicklung" (Deux Lois de l'Évolution Pénale; 1973: Two laws of penal evolution, übersetzt von T.A. Jones und A.T. Scull).

Bei den beiden Gesetzen handelt es sich um ein Gesetz der quantitativen und ein Gesetz der qualitativen Veränderungen.

Originaltext

Im Original heißt das erste Gesetz "la loi des variations quantitatives" und wird vom Autor folgendermaßen ausgedrückt:

  • L'intensité de la peine est d'autant plus grande que les sociétés appartiennent à un type moins élevé — et que le pouvoir central a un caractère plus absolu.

Das zweite Gesetz ist "la loi des variations qualitatives" und heißt:

  • Les peines privatives de la liberté et de la liberté seule, pour des périodes de temps varia

bles selon la gravité des crimes, tendent de plus en plus à détenir le type normal de la répression.

Das erste Gesetz soll laut Durkheim helfen, das zweite Gesetz zu erklären.

Wolfgang Schluchter (2000: 16) nennt das Gesetz der quantitativen Veränderungen das "Gesetz von der Rückbildung", das von den qualitativen Veränderungen das "Gesetz von der Umbildung". Das Gesetz der Rückbildung postuliert ein Schrumpfen des repressiven Kerns und ein Vordringen des restitutiven Rechts auf Kosten des repressiven Rechts. Die der Ähnlichkeit entstammenden Bande verlieren im Vergleich zu den aus ergänzender Unähnlichkeit an Bindungskraft. Dies alles als Folge der Individualisierung, bzw. der Entwicklkung von mechanischer zu organischer Solidarität.

Das Gesetz der Umbildung besagt, dass sich Intensität und Festigkeit des repressiven Kerns ändern, dass die Bindungen, die aus ergänzender Unähnlichkeit stammen, gegenüber denen aus Gleichheit an Bedeutung gewinnen. Die Strafe verändert durch Individualisierung und Psychologisierung ihren Charakter - vor allem treten subjektive Elemente des Vorsatzes, des Irrtums usw. ebenso wie spezialpräventive, auf den Täter gerichtete Sanktionselemente hinzu.


  • quantitatives Gesetz
Die Intensität der Bestrafung ist umso größer, desto mehr eine Gesellschaft einem geringer entwickeltem Stadium zuzuordnen ist - und je mehr die zentrale Macht einen absoluten Charakter aufweist.
  • qualitatives Gesetz
Die Strafen, die die Freiheit entziehen - und nur die Freiheit - und die die Freiheit der Schwere der Taten entsprechend für veränderbare Zeiträume entziehen, tendieren immer mehr dazu, die normale Art der Bestrafung zu werden.

quantitatives Gesetz

Bei der Frage nach dem Entwicklungsgrad einer Gesellschaft fragt Durkheim nach deren Indikatoren der Komplexität und Organisation im konkreten Stadium und stellt dabei fest das die Entwicklung nicht in einem linearen Muster verläuft, sondern vielmehr verästelte zusammenhängende Stadienverläufe, sog. Entwicklungsbäume enstehen.

Nach abstraktem theoretischen Verständnis spricht man von absoluter (von lateinisch absolutus "losgelöst") Macht, wenn es außerhalb der Regierungsmacht in anderen sozialen Institutionen keinen Ausgleich mit, oder eine Limitation dieser besteht.

Durkheim sieht allerdings in der Realität die völlige Abstinenz von limitierenden Faktoren als nicht möglich an, da zumindest Tradition, Religion und soziale Gremien eine Gegenwirkungsfunktion innehaben, sobald sie den Zielsetzungen der absolutistischen Instanz zuwiderlaufen. (jedoch können diese durch Machtkonzentration zunehmend beeinflusst werden) Somit ergeben sich zwei wesentliche Modelle in denen Durkheim von absoluter Macht sprechen würde.

  • Es ist gibt demnach Fälle in denen die regulativen Kräfte untergeordneter Elemente nicht zumindest in geschriebenen Recht oder einem Gewohnheitsrecht festgesetzt sind, so dass Veränderungen der Strukturen meist durch Revolutionen oder anders, generöusen Akten des Machtinhabers, als Verzicht auf - oder Begrenzung der Macht einhergehen.
  • Fälle in denen die gesetzliche Sphäre durch zwei Idealtypen, oder zwei Polen bestimmt wird.
    • unilateraler Typ, einem Teil werden exklusiv Rechte gegeben, Kontrolle und Ausübung treffen zusammen
    • bilateraler (reziproker) Typ, beide Teile vereinbaren ein bestimmtes gegenseitiges Verhältnis (Bsp.analog: matrielle Rechte wie das Eigentumsrecht, der Eigentümer (Regierungsmacht) hat Rechte für sein Eigentum (Individuum), jedoch das Eigentum keine Rechte gegen ihn) in dessen Rahmen Machtpositionen zugestanden werden
  • je mehr die höchste Machtinstanz einen unilateralen Charakter aufweist, desto absoluter wird diese auch ausgeübt, bzw. weniger absolut, je mehr bilaterale Beziehungen zwischen oberster Macht und anderen sozialen Gruppen bestehen

Darüber hinaus sieht Durkheim keinen konkreten Zusammenhang zwischen dem speziellen sozialen Typus einer Gesellschaft und dem Grad des absolutistischen Charakters und betont das bei einer Betrachtung diese beiden Faktoren streng voneinander zu trennen sind, bzw. oft keine logischer Zusammenhang zwischen beiden bestehen muss, sie somit unabhängig voneinander sind.

Daraus folgt das es auch Fälle gibt in dem eine Gesellschaft sich "weiterentwickelt", aber die staatliche Macht diesen Entwicklungseffekten entgegenwirkt und es somit gerade nicht zu einem Intensitätsrückgang bei der Bestrafung kommt.

Als Beispiele in seiner historischen Variationsdiagnose stellt er zum Beispiel das Ägypten in der Pharaonenzeit dem hebräischen Volk (Israel) gegenüber. Die monarchische geprägten Dynastien in Ägypten weisen für viele Verbrechen sehr brutale Bestrafungen auf, z.B. Verstümmelungen für Fälscher und Diebe (Hände), Spione (Zunge) oder Vergewaltiger (Kastration). Dagegen stehen eher moderate Strafen auf Seiten der Hebräer, die zwar auch physische Strafen anwandten, jedoch auffallend weniger intensiv und häufig, obwohl beide Völker nach Durkheim auf einem ungefähr gleichen sozialen Entwicklungsstadium einzuordnen sind. Nur steht hier einem absolutistisch geprägtem, ein mit viel mehr demokratischen Strukturen durchsetzter Staat gegenüber.

Weiteres Beispiel sind die Römische Republik und Athen als frühere Stadtstaaten mit einem sehr hohen sozialen Entwicklungsstadium. Das in seinen Strafen viel mildere Rom unterscheidet sich von Athen dahingehend, dass dieses seine wenigen Todesstrafen nicht mit anderen Strafen verband (Tod durch Strangulation, Schwert oder Giftbecher wie in Athen). Erst mit dem Kaisertum und seiner absolutistischen Ausrichtung nahm auch die Härte der Bestrafung erheblich zu (z.B. Verbrennen am Pfahl, Verstümmelungen reserviert für politische Verbrechen). Gerade zunehmende Verstöße gegen die öffentlichen Sitten oder die Majestätsbeleidigung wurden mit Todesstrafen belegt.

Auch in den christlichen Gesellschaften im Mittelalter hat sich ein ähnlicher Prozess vollzogen. Verglichen mit den vorherigen Gesellschaften und ihrem Entwicklungsgrad weisen die feudalen Gesellschaften ein geringeres Maß der Bestrafung auf. Erst wieder mit zunehmender Machtkonzentration auf den König und dem Höhepunkt der Monarchien im 17.Jahrhundert nahm das Maß der Bestrafung erheblich zu, ebenso gerade in den Bereichen die sich gegen die herrschaftlichen Strukturen richteten. (Folter noch als Mittel der Strafe und nicht nur ausschließlich zur Informationsbeschaffung). Diese Situation änderte sich mit dem Verfall der Monarchie (Aufklärung, franz. Revolution etc.) und den Reformbewegungen in den Strafrechtswissenschaften (u.a. Cesare Beccaria) bzgl. der Verfahrensgarantien und der Abschaffung der peinigenden Strafen oder der Todesstrafe maßgeblich.


qualitatives Gesetz

In früheren Gesellschaften war das Gefängnis oder der Freiheitsentzug als Strafe nicht vorhanden, bzw. das "Einsperren" erfüllte nur die Funktion die Person bis zum Verfahren oder der eigentlichen Strafvollstreckung in Gewahrsam zu haben. Dabei war der Entzug der Freiheit nie eigentlicher Strafsinn, auch wenn er schon früh seinen repressiven Charakter zeigte. Der Freiheitsentzug hätte Durkheim zu Folge auch keinen Sinn gemacht, da für die Strafen damals als Kollektiv (Klan, Familie, Vertrauenspersonen) einzustehen war und somit kein Platz für eine Arrestierung als Form der Wiedergutmachung war.

Im Laufe der Geschichte gab es bis zu den christlichen Gesellschaften im Mittelalter nur wenige Impulse zu einer Institutionalisierung der Freiheitsstrafe. Erst dort gab es mit der zellulären Existenz einiger Straftäter in den Klostern (ähnlich von Mönchen) einen ersten konkreten Ansatz des Freiheitsentzuges, statt lediglich der Überwachung als Zweckgedanken.

Der Freiheitsentzug als Strafe überdauerte das kanonische Recht und wurde z.B. Grundlage des Bestrafungsystems in Frankreich 1791 und später in Europa, meist aber noch mit zusätzlichen Maßnahmen wie "in Ketten gelegt" oder "bei Wasser und Brot".

Gerade als Äquivalent zur Todesstrafe und den peinigen Strafen erlang der Freiheitsentzug in der Aufklärung zunehmend größere Bedeutung. Die Dauer des Entzugs beinhaltet auch die Möglichkeit viele so unterschiedliche Verbrechensformen Mithilfe eines Strafmaßstabes genauer und gerechter bewerten zu können. Auch erfuhren, mit der größeren Bedeutung des Einzelnen und seiner sozialen Stellung, im Gegenzug Straftaten gegen das Kollektiv und ihrer Bestrafung eine nicht mehr so bedeutende Stellung.


kriminologische Relevanz

Für Durkheim spielte das Strafrecht und die Entwicklung der Strafen eine wesentliche Rolle, wobei er besonders die Beziehungen zwischen Gesetz, Glauben und Moral in den Mittelpunkt stellte. Dem Aufsatz gingen seine Überlegungen über Kriminalität, kollektives Bewußtsein und kollektive Ideale voraus. (Siehe De la division du travail social, 1893)

Es wird festgestellt das der Charakter von Bestrafung über die Zeit hinweg unverändert blieb in punkto: Suchen nach einem Schuldigen; Distanzierung; Verbannung von der Gesellschaft der Anständigen; ggf. Unschädlichmachung. Mit der Zeit nahm aber die Mißbilligung von Strafen die eine positive Einwirkung auf den Täter vermissen lassen und das Bestrafen um des Leidens willen zum Inhalt hatten ab.


Durkheim stellt mithin fest das zwischen Kriminalität und Bestrafung eine Wechselbeziehung besteht, aber Bestrafung nicht Resultat des Verbrechens ist. Er wendet die Betrachtung um und sagt: Kriminalität ist was soziale Bestrafung erhält, und was bestraft wird übertritt soziale Wertevorstellungen und Gesinnungen. Strafen dienen somit auch als eine Art Informationsbote für das kollektive Bewußtsein was als "schlecht/verboten" einzuordnen ist.

"Jede wissenschaftliche Untersuchung bezieht sich auf eine bestimmte Gruppe von Erscheinungen... Wir stellen beispielsweise die Existenz einer bestimmten Anzahl von Handlungen fest, die ... einmal begangen, von seiten der Gesellschaft jene besondere Reaktion auslösen, die man Strafe nennt. Wir bilden daraus eine Gruppe ...: wir nennen Verbrechen jede mit Strafe bedrohte Handlung und machen das so definierte Verbrechen zum Gegenstande einer Spezialwissenschaft, der Kriminologie"
(E. Durkheim (1895); Regeln der soziologischen Methode; König R. (Hg.) 5. Aufl. Darmstadt 1976, S.130-132)



Literaturhinweise

  • E. Durkheim (1900); Deux Lois de l'Evolution Penale; L'Annee Sociologique; Paris; S. 65-95
  • Übersetzung bei T.A. Jones/A. Scull (1973) ; Two laws of penal evolution; ; Economy and Society 2; S. 284-308; neu verlegt in M.Gane (1992); The radical sociology of Durkheim and Mauss; London; S.21-49
  • E. Durkheim (1893); De la division du travail social; Paris
  • E. Durkheim (1925); L'éducation morale; Paris
  • R. Cotterrell (1999); Emile Durkheim, Law in a Moral Domain; Jurists: Profiles in Legal Theory; (Hrsg.) W. Twining/N. McCormick; ; ; Edingburgh; S.65-81
  • E.A. Tiryakian (1964); Durkheim's: Two laws of penal evolution; Journal for the Scientific Study of Religion, Vol.3, Nr.2; Provo, Utah; S.216-266
  • D. Garland (1983); Durkheim's theory of punishment: a critique; Penality and Social Analysis; London, S.37-61
  • D. Garland (1990); Punishment and Modern Society: A Study in Social Theory; Oxford
  • Schluchter, Wolfgang (2000) Rechtssoziologie als empirische Geltungstheorie. In: Horst Dreier, Hg., Rechtssoziologie am Ende des 20. Jahrhunderts. Tübingen: Siebeck; S. 8-30.
  • L. Sheleff (1975); From restitutive law to repressive law: Durkheim's The Division of Labour in Society revisited; European Journal of Sociology; Cambridge; S.16-45
  • S. Spitzer (1975); Punishment and social organisation: a study of Durkheim's theory of penal evolution; Law and Society Review; Oxford; S.613-637
  • Durkheim, E. (1895). Le crime est normal. Dans Les règles de la méthode sociologique, pp.64-75. Paris: Presses Universitaires de France.
  • Lombart, J. (1985). La toute puissance du crime et le préjugé Durkheimien. Cahiers Lillois d’Economie et de Sociologie, 6:33-39.