Die Vorstellung einer Gesellschaft ohne Gefängnisse ist den meisten Menschen suspekt - entweder, weil sie glauben, dass man dann automatisch wieder auf die grausamen Körperstrafen des Mittelalters zurückgreifen müßte (das finden sie barbarisch), oder aber, weil sie glauben, dass man dann die Schwerverbrecher frei herumlaufen lassen müßte (das finden sie absurd). Das Gefängnis, glauben sie, ist vielleicht ein Übel, aber es ist - wie das Strafrecht und die Kriminalstrafe - ein notwendiges Übel und damit basta. Sicherlich kann man die Gefängnisse zivilisieren. Unnötige Härten vermeiden und Leute nicht wegen jeder Kleinigkeit hinter Schloss und Riegel bringen. Aber das ändert nichts am Prinzip, dass es in der heutigen Zeit nun einmal ohne Gefängnisse einfach nicht geht. Eine Welt ohne Gefängnisse? Das hat es noch nie gegeben - und das wird es auch nie geben.

Für eine Epoche, die sich gerne selbst als "wissenschaftlich-technische Zivilisation" bezeichnet, ist die Festigkeit dieser öffentlichen Meinung (die nicht nur in Europa, sondern auch in Afrika, in Asien, in Australien und in den Amerikas die "absolut herrschende Meinung" darstellen dürfte) eine bemerkenswerte soziale Tatsache. Denn während in fast allen anderen Bereichen, also im Gesundheits- und im Bildungswesen, in der Ökonomie und vor allem im Bereich der Ökologie und des Umweltschutzes eine Konvergenz von Alltagswissen und wissenschaftlichem Wissen zu konstatieren ist, stehen wir im Bereich der Strafjustiz vor dem rätselhaften Phänomen, dass die Wissenschaft sich immer weiter vom hergebrachten Alltagswissen entfernt - und die alten Vorurteile in der Bevölkerung trotz allen Fortschritts unseres wissenschaftlichen Wissens über Kriminalität und Kontrolle noch genau dieselben sind wie vor drei oder vier Generationen. In mancher Hinsicht scheint es sogar, als bewege sich die Wissenschaft vorwärts, die öffentliche Meinung aber völlig unbeeindruckt von empirischer Forschung und ethischen Diskussionen seit einiger Zeit sogar wieder rückwärts.

Gesellschaften ohne Gefängnisse in der Geschichte

Selbst glühende Befürworter des Gefängnisses müssen zugeben, dass es eine Welt ohne Gefängnisse schon einmal gegeben hat - und dass die Nichtexistenz von Gefängnissen diese Gesellschaften jedenfalls nicht daran hindern konnte, über Jahrhunderte und sogar Jahrtausende zu existieren. Denn das Gefängnis ist unzweifelhaft nicht genau so alt wie die Menschheit. Auch wenn man über Einzelheiten streiten mag: absolute Einigkeit besteht unter allen Wissenschaftlern, dass die Menschheit während der längsten Zeit ihrer Existenz ohne Gefängnisse auszukommen wusste. Das Gefängnis ist eine ausgesprochen junge Erscheinung in der Gesellschaftsgeschichte.

Die ersten Menschen - also die ersten Wesen, die wie der heutige "homo sapiens" von der Biologie unter der Bezeichnung "homo" geführt werden - lebten vor zwei bis drei Millionen Jahren. Diese Menschen lebten in kleinen Gemeinschaften und kannten mit Sicherheit abweichendes Verhalten und Sanktionen, aber eines ist sicher: sie verfügten weder über feste Häuser noch über Gefängnisse.

Die ersten Menschen unserer Art tauchten erst vor rund 250 000 Jahren auf. Im Gegensatz zu dem noch jüngeren homo floreniensis, der erst vor 100 000 Jahren auftauchte und vor rund 12 000 Jahren ausstarb, hat homo sapiens es mit viel Glück und Verstand vermocht, bis heute zu überleben. Wie lange er noch existieren wird, ist angesichts seines Verhaltens gegenüber den Grundlagen seiner Existenz fraglich. Eines aber ist sicher: mehr als 90 Prozent seiner Geschichte lebte der homo sapiens in einer Welt ohne Gefängnisse. Niemand, der sich jemals mit der Frühgeschichte der Menschen befasst hat, hat je behauptet, dass es in der Frühzeit der Menschen irgendwann auch nur einmal ein Gefängnis gegeben hätte. Bis 10.000 vor Christus war die Welt eine Welt ohne Gefängnisse. Und nach vielen Kriterien, die auch heute noch gelten, waren es keine schlechten Gesellschaften: in vielen Gegenden hatten die Menschen genug zu essen, lebten in stabilen sozialen Netzwerken und wären nicht einmal im Traum darauf gekommen zu glauben, nun könnten sie ohne Gefängnisse nicht weiterleben. Dann, um 10 000 vor Christus, erfand der Mensch den Ackerbau, die Seßhaftigkeit, feste Häuser und eine ganz andere Lebensweise - das war die neolithische Revolution (vielleicht die radikalste Revolution in der gesamten bisherigen Geschichte).

In den frühen Hochkulturen sperrte man Menschen in fest ummauerte Räume ein. Man hielt sie als Geiseln fest, um sie auszutauschen. Oder als künftige Opfer, die man in sakralen Zeremonien töten wollte. Oder man sperrte sie ein, damit sie zum Zeitpunkt ihrer Hinrichtung noch da waren. Aber eine Einsperrung als Strafe für ein begangenes Verbrechen (oder zur Besserung eines Verbrechers) gab es damals noch lange nicht. Ein Gefängnis im Sinne einer Institution zur Abbüßung einer Kriminalstrafe war noch in weiter Ferne. Dies aber nicht - wie es ein heute weit verbreitetes Vorurteil will - weil man noch nicht zivilisiert genug war, sondern weil die Sanktionen im Allgemeinen viel milder waren und man eine Gefängnisstrafe für viel zu hart gehalten hätte. Im frühen europäischen Mittelalter, also zum Beispiel im Recht der Franken, stand sogar auf schwere Verbrechen wie etwa eine vorsätzliche Tötung nicht etwa eine Kapitalstrafe, sondern im Regelfall eher ein finanzieller Ausgleich. Die Devise war Kompensation statt Strafe. Wo es heute Kriminalstrafen gibt, gab es damals Bußen nach einem Bußgeldkatalog, so wie man sie heute im Straßenverkehrsrecht kennt.

Die berühmt-berüchtigte Härte des mittelalterlichen Strafrechts war eine Erscheinung nicht des sechsten, siebten, achten oder neunten Jahrhunderts, sondern der terroristischen Territorialgewalten im zwölften, dreizehnten, vierzehnten, fünfzehnten und sechszehnten Jahrhundert. Das war die Zeit der barbarischen Härte, im Vergleich zu welcher die Gefängnisstrafe in der Tat wie eine Wohltat aussah. (Ein relatives Kompliment an das Gefängnis, von dem diese Institution noch heute profitiert.)

Die Freiheitsstrafe entstand erst zwischen den Jahren 1000 und 2000 nach Christus.


kam der Mensch ohne Gefängnisse aus. und haben es immerhin geschafft (anders als Dass eine Welt ohne Gefängnisse im Prinzip möglich ist, weil es sie in der Geschichte schon tatsächlich gegeben hat, Die Gefängnisstrafe erscheint den meisten Menschen eine Art historischer Konstante zu sein. Sie übergehen dabei die Tatsache, dass die Menschen während der bei weitem überwiegenden Zeit ihrer Existenz in nicht-staatlichen Verbänden organisiert lebten und keinerlei Gefängnisse oder gefängnisartige Institutionen kannten. Selbst mit dem Beginn der Sesshaftigkeit waren Abweichungen und Sanktionen ganz und gar anders organisiert und die Freiheitsstrafe, wie wir sie heute kennen, war noch jenseits aller Vorstellungskraft. Während Gotthold Bohne die Entstehung der Freiheitsstrafe in den norditalienischen Städten des ausgehenden Mittelalters sah, verortete Michel Foucault die "Geburt des Gefängnisses" erst in der Epoche der Französischen Revolution, als die Freiheit des Individuums zu einem allgemeinen Wert (und einem allgemein verbreiteten Gut) wurde, das für einegenerelle Sanktion in Frage kam. Foucault datiert damit den Beginn der "Welt mit Gefängnissen" erst auf die Zeit zwischen 1760 und 1840. Mit anderen Worten: was vorher war, war eine "Welt ohne Gefängnisse".

Während der langen Zeit "ohne Gefängnisse" herrschten keineswegse brutalere Körperstrafen vor. Die Zeit der besonders brutalen Strafen war begrenzt auf das Hochmittelalter und die frühe Neuzeit. Davor gab es über Jahrhunderte nach heutigen Vorstellungen unglaublich "milde" Sanktionen - etwa das Bußensystem des fränkischen Rechts, nach dem selbst Tötungsdelikte nur Kompensationszahlungen nach sich zogen. Mit anderen Worten: das Gefängnis ist eine historisch entstandene Institution, die es nicht schon immer gab - und die es folglich auch nicht immer geben wird. Die Frage ist nur, ob wir heute (schon) in einer Gesellschaftsform leben, die es ermöglichen würde, ohne Gefängnisse auszukommen.


(2) Aktuelle Erfolgsgeschichte

In gewisser Weise ist das Gefängnis eine Erfolg. Es werden immer mehr Gefängnisse gebaut, immer mehr Menschen werden in Gefängnisse eingewiesen, die Gefangenenraten gehen in die Höhe. Nach einer Krise in den 1970er Jahren geht es seit den 1980er Jahren vor allem in den USA, aber auch anderswo (nicht nur) in der westlichen Welt wieder aufwärts mit den Gefangenenzahlen und -raten. Das Gefängnis hindert immer mehr Straftäter daran, zumindest während ihrer Strafzeit weitere Straftaten zu begehen. Es sichert die Gesellschaft und es wird von der Bevölkerung wie von den politischen Parteien unterstützt - von den Interessen der Privatwirtschaft an einer florierenden Gefängnisindustrie ganz zu schweigen.

Der Anschein einer Erfolgsgeschichte kann jedoch trügen. So ist es nicht ungewöhnlich, dass bestimmte Institituonen ihre größte Blütezeit unmittelbar vor ihrer Abschaffung oder Überwindung erleben. Ein solcher Fall war z.B. die Sklaverei. Die Zahl der über den Atlantik transportierten Sklaven als Afrika erreichte ihren Höhepunkt ausgerechnet in den Jahrzehnten, die der Abschaffung der Sklaverei unmittelbar vorausgingen.

Insofern kann auch der Höchststand der Gefangenenzahlen (und die höchste Rate von Gefängnisinsassen in der Geschichte der Weltmacht USA) nicht unbedingt ein Indiz für die Zukunftsfähigkeit der Institution sein. Man könnte auch die These untersuchen, dass es sich bei dieser Zunahme von Inhaftierungen um eine Divergenz von Faktizität und Legitimation handelt, ähnlich wie im Falle des transatlantischen Sklavenhandels. Dazu wäre mehr herauszufinden über die Stärke oder Schwäche der Legitimation des Gefängnisstrafe vor allem in den westlichen Gesellschaften.







(2) Die aktuelle Erfolgsgeschichte des Gefängnisses

Literatur

Links