Welt ohne Gefängnisse: Unterschied zwischen den Versionen

keine Bearbeitungszusammenfassung
Zeile 1: Zeile 1:
Die Vorstellung einer Gesellschaft ohne Gefängnisse ist den meisten Menschen suspekt. Der Grund dafür liegt auf der Hand: was soll man denn sonst machen, wenn man Verbrecher weder umbringen noch frei herumlaufen lassen will? Das Gefängnis ist kein Wert an sich, aber so lange die Menschen keine Engel werden, so lange ist und bleibt es ein notwendiges Übel. Das ist die Meinung der Herrschenden, aber auch die Meinung der Beherrschten. Es ist sogar die Meinung der Gefangenen. Der Glaube an die Notwendigkeit des Gefängnisses ist heute weiter verbreitet als der Glaube an Gott. Und dennoch handelt es sich um einen Mythos. Einen Alltagsmythos. Denn eine Welt ohne Gefängnisse ist möglich. Das belegt Alejandro Gómez Jaramillo in diesem Buch. Er zeigt uns die herrschende Meinung und die enorme Kraft, mit der sich das Glaubenssystem von der Notwendigkeit der Gefängnisse allen Kritiken entgegenstemmt. Zu den wichtigsten Teilen seiner Ausführungen gehört die Auseinandersetzung mit den wichtigsten Gegenargumenten, die immer dann vorgebracht werden, wenn die Perspektive einer Welt ohne Gefängnisse als weltfern, idealistisch und unrealistisch gebrandmarkt werden soll. Es sind dies insbesondere drei Einwände.
Die Welt ohne Gefängnisse war während der längsten Zeit der Menschheitsgeschichte der Normalfall. Heute fällt es aber schwer, sich eine solche Welt vorzustellen. Könnte eine moderne Gesellschaft überhaupt ohne Gefängnisse auskommen oder würde dann nicht letztlich jede Ordnung zusammenbrechen?
 
== Geschichte ==
Menschenartige Wesen gibt es seit zwei bis drei Millionen, den heutigen "homo sapiens" hingegen erst seit rund 250 000 Jahren. Mit dem Bau fester Siedlungen begann der homo sapiens vor rund 10 000 Jahren, als er sesshaft wurde, Ackerbau und Viehzucht betrieb. Das Gefängnis aber gibt es erst seit  weniger als 1 000 Jahren. Gotthold Bohne datiert die Entstehung der Gefängnisse auf den Zeitraum vom 12. bis 16. Jahrhundert und definiert als ihren Geburtsort die norditalienischen Städte. Andere verweisen auf das Bridewell und die Amsterdamer Zucht- und Arbeitshäuser im späten 16. Jahrhundert. Foucault wiederum geht sogar bis zur Zeit der "Großen Transformation" von 1760 bis 1840, um die Geburt des Gefängnisses zu datieren (Bohne 1925; Foucault 2004).
 
Vorstellung einer Gesellschaft ohne Gefängnisse ist den meisten Menschen suspekt. Der Grund dafür liegt auf der Hand: was soll man denn sonst machen, wenn man Verbrecher weder umbringen noch frei herumlaufen lassen will? Das Gefängnis ist kein Wert an sich, aber so lange die Menschen keine Engel werden, so lange ist und bleibt es ein notwendiges Übel. Das ist die Meinung der Herrschenden, aber auch die Meinung der Beherrschten. Es ist sogar die Meinung der Gefangenen. Der Glaube an die Notwendigkeit des Gefängnisses ist heute weiter verbreitet als der Glaube an Gott. Und dennoch handelt es sich um einen Mythos. Einen Alltagsmythos. Denn eine Welt ohne Gefängnisse ist möglich. Das belegt Alejandro Gómez Jaramillo in diesem Buch. Er zeigt uns die herrschende Meinung und die enorme Kraft, mit der sich das Glaubenssystem von der Notwendigkeit der Gefängnisse allen Kritiken entgegenstemmt. Zu den wichtigsten Teilen seiner Ausführungen gehört die Auseinandersetzung mit den wichtigsten Gegenargumenten, die immer dann vorgebracht werden, wenn die Perspektive einer Welt ohne Gefängnisse als weltfern, idealistisch und unrealistisch gebrandmarkt werden soll.
 
== Einwände ==
 
Es sind dies insbesondere drei Einwände.


Erstens heißt es, die Abschaffung der Gefängnisse sei utopisch; sie übersteige die menschliche Vorstellungskraft - und was man sich nicht vorstellen könne, das könne man auch nicht realisieren. Die wenigen, die auf eine besondere Vorstellungskraft vertrauten und sich eine Welt ohne Gefängnisse ausmalten, seien keine Visionäre, sondern (harmlose oder weniger harmlose) Geisteskranke: eher mit Don Quixote in seinem Kampf gegen die Windmühlen zu vergleichen als mit aufgeklärten Reformern.  
Erstens heißt es, die Abschaffung der Gefängnisse sei utopisch; sie übersteige die menschliche Vorstellungskraft - und was man sich nicht vorstellen könne, das könne man auch nicht realisieren. Die wenigen, die auf eine besondere Vorstellungskraft vertrauten und sich eine Welt ohne Gefängnisse ausmalten, seien keine Visionäre, sondern (harmlose oder weniger harmlose) Geisteskranke: eher mit Don Quixote in seinem Kampf gegen die Windmühlen zu vergleichen als mit aufgeklärten Reformern.  


Was dieses Argument angeht, so habe ich der Widerlegung, die sich in diesem Buch findet, nichts hinzuzufügen (zumal der Autor das, was ich dazu zu sagen habe, freundlicherweise schon zitiert hat). Höchstens dieses: das Verhältnis von Vorstellung und Realität ist sehr viel mysteriöser, als die meisten Menschen glauben. Die meisten Menschen sagen: was man sich "nicht einmal vorstellen" kann, das muss logischerweise eine noch geringere Chance auf eine Daseinsform in der Realität haben. Was man sich "gerade noch" vorstellen kann, das hat vielleicht eine minimale Chance auf Realisierung; was man sich "nicht einmal vorstellen" kann, das hat absolut gar keine Chance, jemals Realität zu werden. Doch so ist es gerade nicht. Die reale Geschichte der Welt ist voller Ereignisse, die zur allgemeinen Verblüffung der Zeitgenossen passierten. Wer hat denn 1958 vorhergesehen, dass ein Jahr später eine 50jährige Castro-Herrschaft auf der Insel Cuba beginnen könnte? Wer hat 1916 die Oktoberrevolution in Russland und die Herrschaft Stalins vorhergesehen? Wer hat 1988 den Fall der Berliner Mauer und den Untergang der Sowjetunion vorhergesehen? Und wie wäre das allgemeine Urteil der Mehrheit über die drei oder vier Personen ausgefallen, die solche Vorhersagen gewagt hätten? Hätte man sie nicht für Phantasten, für Spinner und Sonderlinge gehalten? Und war es nicht genau das, was man in den USA über die Vorkämpfer der Sklavenbefreiung dachte, bis es dann plötzlich doch so weit war? Eine Welt ohne Sklaverei - das war für die Südstaatler bis zum Ende des amerikanischen Bürgerkriegs unvorstellbar. Mit anderen Worten: es sind immer nur wenige Individuen, deren Vorstellungskraft ausreicht, um sich ein Bild von einer möglichen Zukunft zu machen, die mehr ist als nur die Extrapolation eines bekannten Trends.  
Was dieses Argument angeht, so habe ich der Widerlegung, die sich in diesem Buch findet, nichts hinzuzufügen (zumal der Autor das, was ich dazu zu sagen habe, freundlicherweise schon zitiert hat). Höchstens dieses: das Verhältnis von Vorstellung und Realität ist sehr viel mysteriöser, als die meisten Menschen glauben. Die meisten Menschen sagen: was man sich "nicht einmal vorstellen" kann, das muss logischerweise eine noch geringere Chance auf eine Daseinsform in der Realität haben. Was man sich "gerade noch" vorstellen kann, das hat vielleicht eine minimale Chance auf Realisierung; was man sich "nicht einmal vorstellen" kann, das hat absolut gar keine Chance, jemals Realität zu werden. Doch so ist es gerade nicht. Die reale Geschichte der Welt ist voller Ereignisse, die zur allgemeinen Verblüffung der Zeitgenossen passierten. Wer hat denn 1958 vorhergesehen, dass ein Jahr später eine 50jährige Castro-Herrschaft auf der Insel Cuba beginnen könnte? Wer hat 1916 die Oktoberrevolution in Russland und die Herrschaft Stalins vorhergesehen? Wer hat 1988 den Fall der Berliner Mauer und den Untergang der Sowjetunion vorhergesehen? Und wie wäre das allgemeine Urteil der Mehrheit über die drei oder vier Personen ausgefallen, die solche Vorhersagen gewagt hätten? Hätte man sie nicht für Phantasten, für Spinner und Sonderlinge gehalten? Und war es nicht genau das, was man in den USA über die Vorkämpfer der Sklavenbefreiung dachte, bis es dann plötzlich doch so weit war? Eine Welt ohne Sklaverei - das war für die Südstaatler bis zum Ende des amerikanischen Bürgerkriegs unvorstellbar. Mit anderen Worten: es sind immer nur wenige Individuen, deren Vorstellungskraft ausreicht, um sich ein Bild von einer möglichen Zukunft zu machen, die mehr ist als nur die Extrapolation eines bekannten Trends.  
Um der Vorstellungskraft auf die Sprünge zu helfen, kann es manchmal auch nützlich sein, einen Blick in die Geschichte zu werfen. Was die Gefängnisse angeht, so schrumpft ihr Ewigkeits-Nimbus ganz gehörig, wenn wir einen distanzierten Blick auf die Geschichte des homo sapiens sapiens werfen. Menschenartige Wesen mit dem Gattungsnamen "homo" begannen ihre Existenz auf der Erde vor etwa zwei bis drei Millionen Jahren. Den "homo sapiens" gibt es seit rund 250 000 Jahren. Vor 10 000 Jahren wurden die ersten Menschen sesshaft: sie lernten Ackerbau und Viehzucht und gründeten feste Siedlungen. Bis dahin und noch viele Jahrtausende länger war die Welt unzweifelhaft eine Welt ohne Gefängnisse. Es gab Konflikte und Sanktionen, aber es gab weder "Kriminalität" noch "Gefängnisse". Und dies nicht nur dem Namen nach, sondern die Konfliktregelung war eher einem zukunftsorientierten Heilungs- und Wiedergutmachungsprozess vergleichbar als einer heutigen Strafe. Das Gefängnis folgte erst auf die Geburt der modernen Kriminalstrafe. In Europa, belehrte uns Gotthold Bohne, entstanden die Gefängnisse erst zwischen dem 12. und 16. Jahrhundert in Norditalien. Andere verweisen, wie in diesem Buch sehr schön nachzulesen ist, auf das Bridewell und die Amsterdamer Institutionen im späten 16. Jahrhundert. Foucault wiederum geht sogar bis zur Zeit der "Großen Transformation" von 1760 bis 1840, um die Geburt des Gefängnisses zu datieren (Bohne 1925; Foucault 2004).
Um der Vorstellungskraft auf die Sprünge zu helfen, kann es manchmal auch nützlich sein, einen Blick in die Geschichte zu werfen. Was die Gefängnisse angeht, so schrumpft ihr Ewigkeits-Nimbus ganz gehörig, wenn wir einen distanzierten Blick auf die Geschichte des homo sapiens sapiens werfen.  


Das Gefängnis ist also eine sehr junge Institution, und es gibt einige Hinweise darauf, dass sie auch nicht viel älter werden, sondern durch andere Formen der Sanktionierung und Konfliktregelung schon bald abgelöst werden wird. Schon Gilles Deleuze (1992) hatte vielleicht nicht unrecht, als er vor einigen Jahren erklärte: Wie viele andere Einschließungsmilieus ist das Gefängnis eine Einrichtung, die schon längst überholt ist und nur noch auf ihre Abschaffung wartet.  
Das Gefängnis ist also eine sehr junge Institution, und es gibt einige Hinweise darauf, dass sie auch nicht viel älter werden, sondern durch andere Formen der Sanktionierung und Konfliktregelung schon bald abgelöst werden wird. Schon Gilles Deleuze (1992) hatte vielleicht nicht unrecht, als er vor einigen Jahren erklärte: Wie viele andere Einschließungsmilieus ist das Gefängnis eine Einrichtung, die schon längst überholt ist und nur noch auf ihre Abschaffung wartet.  
Zeile 30: Zeile 39:
Abgesehen davon, dass man sie immer hat laufen lassen, gibt es natürlich viele gute Gründe, die oberen Etagen der Macht mit mehr Gründlichkeit nach Delikten zu durchforsten. Auch das hat übrigens John Braithwaite (2005) vorgemacht. Wenn es aber stimmt, dass dem Wohl der Gesellschaft am besten gedient ist mit einer Art der Rechtsprechung, die nicht einfach auf Vergeltung, sondern auf "wiederherstellende Gerechtigkeit" abzielt und auf die Maximierung von Freiheit, Würde und Eigentum aller Beteiligten sowie auf das reintegrierende Beschämen der Täter, dann gibt es keinen guten Grund, das neue System der Konfliktregelung nicht auch auf solche Fälle anzuwenden.
Abgesehen davon, dass man sie immer hat laufen lassen, gibt es natürlich viele gute Gründe, die oberen Etagen der Macht mit mehr Gründlichkeit nach Delikten zu durchforsten. Auch das hat übrigens John Braithwaite (2005) vorgemacht. Wenn es aber stimmt, dass dem Wohl der Gesellschaft am besten gedient ist mit einer Art der Rechtsprechung, die nicht einfach auf Vergeltung, sondern auf "wiederherstellende Gerechtigkeit" abzielt und auf die Maximierung von Freiheit, Würde und Eigentum aller Beteiligten sowie auf das reintegrierende Beschämen der Täter, dann gibt es keinen guten Grund, das neue System der Konfliktregelung nicht auch auf solche Fälle anzuwenden.


An diesem Punkt bemerke ich, dass ich dabei bin, entweder nur die Argumente, die ich in diesem Buch gelesen habe, zu wiederholen - oder aber als Ergänzung dazu ein weiteres Buch unter dem Deckmantel des Vorworts zu verfassen. Da ich weder das eine noch das andere beabsichtigte, als ich zu schreiben anfing, mache ich hier Schluss und ergänze das Literaturverzeichnis um einige Publikationen, denen ich für die Zukunft mehr Aufmerksamkeit wünsche. Es gibt zwar noch viel zu sagen. Aber es wird auch noch viel gesagt werden. Nur nicht jetzt. Nicht von mir. Ich bin froh über dieses Buch. Wir alle können es sein.
Hamburg, den 12. März 2008                          Sebastian Scheerer
Anmerkungen
(1) Boh


== Literatur ==
== Literatur ==
31.738

Bearbeitungen