Welt ohne Gefängnisse: Unterschied zwischen den Versionen

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Wenn die positiven und legitimen Zwecke, mit denen diese Institutionen ihre Existenz rechtfertigen, auch anders und besser - d.h. mit der Zufügung von weniger Leid - ebenso gut oder besser erreicht werden könnten, dann stünde aus dieser Perspektive jedenfalls einer Abschaffung der Gefängnisse nichts mehr im Wege. Die entscheidenden Fragen allerdings müßten beantwortet werden: gibt es gute Alternativen zum Gefängnis? Und wie sähe wohl der Weg in eine Welt ohne Gefängnisse aus? Welche Schritte wären zu unternehmen, welche Fehler zu vermeiden?
Wenn die positiven und legitimen Zwecke, mit denen diese Institutionen ihre Existenz rechtfertigen, auch anders und besser - d.h. mit der Zufügung von weniger Leid - ebenso gut oder besser erreicht werden könnten, dann stünde aus dieser Perspektive jedenfalls einer Abschaffung der Gefängnisse nichts mehr im Wege. Die entscheidenden Fragen allerdings müßten beantwortet werden: gibt es gute Alternativen zum Gefängnis? Und wie sähe wohl der Weg in eine Welt ohne Gefängnisse aus? Welche Schritte wären zu unternehmen, welche Fehler zu vermeiden?


== Welcher Weg, bitte, führt ins Paradies? ==
== Strategie-Debatten ==
*Abolitionisten vs. Gradualisten (Reduktionisten, Minimalisten). Über den richtigen Weg ins Paradies der gefängnislosen Gesellschaft streiten sich die Gelehrten und die Aktivisten. Das ist nicht anders als im Kampf um die Abschaffung der Sklaverei. Damals standen sich die Abolitionisten (die eine sofortige und unbedingte Abschaffung der Sklaverei forderten, in der sie eine "Sünde" sahen) und die Gradualisten (die für eine sozialverträgliche Reduktion und ein allmähliches Herunterfahren der Sklavenhaltung eintraten) in erbitterter Gegnerschaft gegenüber. - Dementsprechend kann man (radikale) Abolitionisten, die sich für eine sofortige und umfassende Abschaffung aller Gefängnisse aussprechen, von Reduktionisten, Minimalisten und Gradualisten unterscheiden, die sich vorläufig auch mit einem Baustopp, einem Moratorium, einer allmählichen oder sektoralen Abschaffung (etwa nur der Jugendgefängnisse) begnügen würden.
*Abolitionisten vs. Gradualisten (Reduktionisten, Minimalisten). Über den richtigen Weg ins Paradies der gefängnislosen Gesellschaft streiten sich die Gelehrten und die Aktivisten. Das ist nicht anders als im Kampf um die Abschaffung der Sklaverei. Damals standen sich die Abolitionisten (die eine sofortige und unbedingte Abschaffung der Sklaverei forderten, in der sie eine "Sünde" sahen) und die Gradualisten (die für eine sozialverträgliche Reduktion und ein allmähliches Herunterfahren der Sklavenhaltung eintraten) in erbitterter Gegnerschaft gegenüber. - Dementsprechend kann man (radikale) Abolitionisten, die sich für eine sofortige und umfassende Abschaffung aller Gefängnisse aussprechen, von Reduktionisten, Minimalisten und Gradualisten unterscheiden, die sich vorläufig auch mit einem Baustopp für Gefängnisse (Moratorium) oder mit der Abschaffung eines Segments des Gefängnissystems wie z.B. der Jugendgefängnisse (sektoraler oder segmentärer Abolitionismus) begnügen würden.


*Negative vs. konstruktive Kritik. Andere Unterschiede betreffen die Frage nach der Formulierung und nach der Funktion von Alternativen zum Gefängnis. Die radikalen Abolitionisten verweigern oft die Antwort auf die Frage danach, was denn an die Stelle der Gefängnisse treten solle, wenn diese erst einmal abgeschafft wären. Sie können sich auf Gustav Radbruchs Forderung nach einer "negativen Kriminalpolitik" berufen, die sich zunächst einmal auf die Abschaffung überflüssiger Repression konzentriert, ohne sich in der Gestaltung neuer und angeblich besserer Kriminalpolitik zu verlieren. Sie können sich aber auch auf die Tradition der Kritischen Theorie und auf die Devise ihres berühmten Philosophen Theodor W. Adorno berufen, dass der Gegenstand der Wissenschaft niemals das Gute sein sollte, sondern nur das Schlechte. Was schlecht sei, das ließe sich benennen und bekämpfen, so Adorno, aber wenn Intellektuelle damit begännen, sich Blaupausen für die positive Gestaltung einer besseren Gesellschaft auszudenken, dann überschritten sie ihre Fähigkeiten und ihre Kompetenzen. Dahinter steht natürlich der jüdisch-christliche Gedanke des deus absconditus, der Verborgenheit Gottes: von Gott kann und soll man sich kein Bild machen, das absolut Gute entzieht sich jeder menschlichen Vorstellung und Gestaltung. Was der Mensch kann, ist allenfalls, sich dem Schlechten zu verweigern: was eine Sünde ist, kann man wissen, dagegen kann und soll man sich wehren. - Andere erinnern daran, dass viele Abolitionisten den Kampf für die Abschaffung der Sklaverei auch mit konstruktiven Argumenten geführt hatten. Sie hatten für alle, die um die ökonomischen Auswirkungen einer Sklavenbefreiung besorgt waren, Vorschläge für eine positive alternative (sklavenlose) Wirtschaftspolitik bereit. In diesem Sinne glauben heute viele Kritiker des Gefängnisses, dass es eine Schwäche der Kritik darstelle, nicht genügend über konstruktive Alternativen zu wissen: "The point is that too few have comeforward with real alternatives to serious crimes" (Bianchi, in: Feest & Paul 2008b: 11).
*Negative vs. konstruktive Kritik. Andere Unterschiede betreffen die Frage nach der Formulierung und nach der Funktion von Alternativen zum Gefängnis. Die radikalen Abolitionisten verweigern oft die Antwort auf die Frage danach, was denn an die Stelle der Gefängnisse treten solle, wenn diese erst einmal abgeschafft wären. Sie können sich auf Gustav Radbruchs Forderung nach einer "negativen Kriminalpolitik" berufen, die sich zunächst einmal auf die Abschaffung überflüssiger Repression konzentriert, ohne sich in der Gestaltung neuer und angeblich besserer Kriminalpolitik zu verlieren. Sie können sich aber auch auf die Tradition der Kritischen Theorie und auf die Devise ihres berühmten Philosophen Theodor W. Adorno berufen, dass der Gegenstand der Wissenschaft niemals das Gute sein sollte, sondern nur das Schlechte. Was schlecht sei, das ließe sich benennen und bekämpfen, so Adorno, aber wenn Intellektuelle damit begännen, sich Blaupausen für die positive Gestaltung einer besseren Gesellschaft auszudenken, dann überschritten sie ihre Fähigkeiten und ihre Kompetenzen. Dahinter steht natürlich der jüdisch-christliche Gedanke des deus absconditus, der Verborgenheit Gottes: von Gott kann und soll man sich kein Bild machen, das absolut Gute entzieht sich jeder menschlichen Vorstellung und Gestaltung. Was der Mensch kann, ist allenfalls, sich dem Schlechten zu verweigern: was eine Sünde ist, kann man wissen, dagegen kann und soll man sich wehren. - Andere erinnern daran, dass viele Abolitionisten den Kampf für die Abschaffung der Sklaverei auch mit konstruktiven Argumenten geführt hatten. Sie hatten für alle, die um die ökonomischen Auswirkungen einer Sklavenbefreiung besorgt waren, Vorschläge für eine positive alternative (sklavenlose) Wirtschaftspolitik bereit. In diesem Sinne glauben heute viele Kritiker des Gefängnisses, dass es eine Schwäche der Kritik darstelle, nicht genügend über konstruktive Alternativen zu wissen: "The point is that too few have comeforward with real alternatives to serious crimes" (Bianchi, in: Feest & Paul 2008b: 11).


== Interessante Ansätze ==
Ansätze, über die nachzudenken sich lohnt, gibt es in größerer Zahl als man allgemein zu glauben geneigt ist. In wenigen Fällen gibt es Beispiele von plötzlichen und radikalen Abschaffungen. Viel häufiger gibt es Beispiele von vorsichtigen, geplanten, partiellen Reduktionen oder teilweisen Abschaffungen. Auf beide Arten lohnt sich ein näherer Blick.


Radikale und plötzliche Abschaffungen führen zwar meist zu Krisen, aber interessanterweise nicht zu Katastrophen. Dies gilt für die Abschaffung der Jugendgefängnisse im US-Bundesstaat Massachusetts ebenso wie für ungeplante Massenentlassungen von Menschen aus psychiatrischen Anstalten, die als die gefährlichsten psychisch kranken Straftäter eines ganzen Bundesstaates galten. Vielleicht wäre es sinnvoll, diese wenigen Beispiele noch viel genauer zu untersuchen, als es bisher geschehen ist. Vielleicht könnte man noch mehr Mut schöpfen und noch viel mehr über unsere Tendenzen zur Überschätzung der Risiken durch andere Menschen lernen ...
== Gefängniskritik und praktische Ansätze ==
Vivien Stern, langjährige Leiterin einer Straffälligenhilfsorganisation und Gründerin von Penal Reform International, ist sich nicht sicher, ob man alle Gefängnisse abschaffen kann. Aber sie hält Gefängnisse für ungerecht, gefährlich und ungesund und vertritt in ihrem Buch "Creating Criminals" (2006) die empirisch gut gestützten Thesen, dass es erstens keine guten Argumente für Gefängnisse mehr gibt, dass es aber zweitens immer mehr gute Argumente für die Reduzierung der Gefangenenzahlen gibt; drittens plädiert sie für den Verzicht auf die (zu mehr Gefängnissen führende) Vermarktung/Privatisierung von Gefängnissen; viertens wäre eine Reform der Drogenpolitik und des Umgangs mit Migrationsphänomenen ein Beitrag zur Verminderung der Gefangenenzahlen; fünftens und sechstens könnten die Ersetzung von kriminalisierenden Interventionen durch soziale Interventionen und die Verbesserung der Haftbedingungen und der Abbau von Haftplätzen Hand in Hand gehen.  


Die meisten Ansätze zur Überwindung von Gefängnissen betreffen vorsichtigere und schrittweise ("gradualistische") Strategien, die sich auf eines der folgenden vier Ziele (oder auf eine Kombination davon) richten:
Die meisten Ansätze zur Überwindung von Gefängnissen betreffen vorsichtigere und schrittweise ("gradualistische") Strategien, die sich auf eines der folgenden vier Ziele (oder auf eine Kombination davon) richten:


*Abschaffung eines Teils des Gefängnissystems (wie z.B. der Jugendstrafanstalten oder der Arbeitshäuser; sog. segmentärer Abolitionismus)
*Abschaffung eines Teils des Gefängnissystems. Den Weg zur Abschaffung z.B. der Jugendstrafanstalten könnten Diversionsmaßnahmen, Family Group Conferences oder auch die Unterbringung von schwer delinquenten Jugendlichen in Pflegefamilien ebnen (Chamberlain & Reid 1991).  


*Verminderung der Gefangenenzahlen und -raten in einem Staat, Bundesland oder einer Region (Abbau der Größe und Ausdehnung des Gefängnissystems; Baustopp; Schließung von Anstalten, Verminderung der Zahl der Haftplätze, Verminderung der Zahl der Inhaftierten --- Vermeidung von Inhaftierung durch Diversion, alternative Strafen, Alternativen zur Strafe; Restorative Justice; Transformative Justice; Sozialtherapie außerhalb des Strafvollzugs; Community Treatment)
*Verminderung der Gefangenenzahlen und -raten. Verzicht auf Gefängnisbauten. Schließung von Gefängnissen. Verminderung des Zugangs neuer Gefangener, Verkürzung der Verweildauer im Vollzug durch frühere und intensivere Entlassungsvorbereitung und deutlich verbesserte Nachsorge.


*Verkürzung der Freiheitsstrafen (Reduzierung der Länge der Strafen durch den Gesetzgeber oder durch die Strafvollzugsbehörden durch extensive Gewährung von vorzeitigen Entlassungen zur Bewährung - z.B. unter Auflagen)
*Verringerung der Länge der Strafen durch Gesetzgeber, Justiz und vollzugliche Regelungen.


*Erleichterung der Haftbedingungen, positive Nutzung der Haftzeit (Verminderung der Tiefe der Strafe: Verbesserung der Ausstattung der Zellen, der Arbeitsbedingungen, Verminderung der sozialen Deprivation durch mehr Ausgänge, Urlaub, Besuchsmöglichkeiten, Kommunikationsmöglichkeiten mit Personen außerhalb der Anstalt usw. - Beratung oder Therapie zur Stärkung der Persönlichkeit; Sozialtherapie im Strafvollzug).
*Verringerung der Tiefe der Strafen durch Erleichterung der Haftbedingungen, positive Nutzung der Haftzeit (Verminderung der Tiefe der Strafe: Verbesserung der Ausstattung der Zellen, der Arbeitsbedingungen, Verminderung der sozialen Deprivation durch mehr Ausgänge, Urlaub, Besuchsmöglichkeiten, Kommunikationsmöglichkeiten mit Personen außerhalb der Anstalt usw. - Beratung oder Therapie zur Stärkung der Persönlichkeit; Sozialtherapie im Strafvollzug).


== Empirie gegen Gefängnisse ==
*Radikale und plötzliche Abschaffungen führen zwar meist zu Krisen, aber interessanterweise nicht zu Katastrophen. Dies gilt für die Abschaffung der Jugendgefängnisse im US-Bundesstaat Massachusetts ebenso wie für ungeplante Massenentlassungen von Menschen aus psychiatrischen Anstalten, die als die gefährlichsten psychisch kranken Straftäter eines ganzen Bundesstaates galten - mit der Folge, dass die allermeisten sich in der Freiheit keineswegs als gefährlich erwiesen.


Wo Empirie gründlich betrieben wird, produziert sie gute Gründe für die Annahme, dass gut konzipierte Projekte der sogenannten Restorative Justice (vgl. Braithwaite 2001) die Bedürfnisse von Opfern, Tätern und Gemeinden besser befriedigt als die existierende Strafrechtspflege im allgemeinen und als die Gefängnisstrafe im besonderen. Überraschenderweise lässt sich auch zeigen, dass ein System der Restorative Justice auch in Bezug auf Abschreckung, Unschädlichmachung und Resozialisierung bzw. Rehabilitation bessere Ergebnisse hervorbringt als ein punitives System. Dies insbesondere dann, wenn die Restorative Justice gerahmt wird von einem System der Regulation, das im Sinne einer Eskalationspyramide erst dann zu abschreckenden Reaktionen greift, wenn "Restoration" wiederholt gescheitert ist, und zu Unschädlichmachung erst dann, wenn eskalierende Abschreckung wiederholt ineffektiv geblieben ist. Aktive Abschreckung als Teil einer dynamischen Regulationspyramide im Sinne Braithwaite's ist geradezu ein Markenzeichen der "funkionierenden" Restorative Justice als Alternative zum traditionellen Strafrechtssystem - und sie ist weitaus effektiver als die passive Abschreckung heutiger Art.
*Inzwischen zeichnet sich ab, dass gut konzipierte Projekte der sogenannten Restorative Justice (vgl. Braithwaite 2001) der traditionellen Strafjustiz und der Freiheitsstrafe nicht nur im Hinblick auf spezifische Aspekte, sondern sogar in jeder Hinsicht überlegen sein dürften. In jeder Hinsicht heißt: im Hinblick auf die Bedürfnisse der Opfer von Straftaten, aber auch im Hinblick auf die Einwirkung auf die Täter und im Hinblick auf die Erwartungen des sozialen Umfeldes im Stadtviertel oder in der Gemeinde. Interessanterweise zeitigt Restorative Justice in der Praxis sogar im Hinblick auf die Ziele der Abschreckung, der Sicherung (Unschädlichmachung) und Resozialisierung bzw. Rehabilitation bessere Ergebnisse als das herkömmliche Strafsystem. "Aktive Abschreckung" als Teil einer dynamischen Regulationspyramide im Sinne Braithwaites ist geradezu ein Markenzeichen gut funktionierender Restorative Justice in einem dynamischen Eskalationssystem, das jeweils nur dann zur nächsten Stufe übergeht, wenn Reaktionen auf der darunter liegenden Intensitätsstufe wiederholt wirkungslos bleiben.


== Literatur ==
== Literatur ==
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*Christie, Nils (1982) Limits to Pain. Oslo: Universitetsforlaget.
*Christie, Nils (1982) Limits to Pain. Oslo: Universitetsforlaget.
*Christie, Nils (2000) Crime Control as Industry: Towards Gulags Western Style. 3rd ed. London: Routledge.
*Christie, Nils (2000) Crime Control as Industry: Towards Gulags Western Style. 3rd ed. London: Routledge.


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