Welt ohne Gefängnisse: Unterschied zwischen den Versionen

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Die Reputation des heutigen Gefängnissystems ist nicht besonders gut. Genauer: das Gefängnis ist heute sehr viel schlechter angesehen als zur Zeit seiner Entstehung. Das erste Bridewell war ein veritables Schloss des Königs. Er wurde für seine gute Tat gelobt und man lobte auch das Schloss und seine Ausstattung, seine Wirkungsweise, seine Funktion. Das Land war stolz auf die Bridewells. Als die holländischen Zucht- und Arbeitshäuser gegründet wurden, kamen Delegationen aus aller Herren Länder, um diese wunderbaren Werke der Mildtätigkeit und Effizienz zu bestaunen und umgehend zu kopieren. Die zivilisierte Welt war begeistert von diesen Monumenten des Fortschritts und der Humanität. Noch größer war die Begeisterung der Welt für die Gefängnisse der Quäker in Philadelphia und das Gefängnis in Auburn, im Staate New York, das diesem eine andere Philosphie entgegensetzte. Aber Philosophien hatte beide - und Bewunderer auch. Die europäischen Parlamente, aber auch die Zeitschriften für die gebildeten Stände glühten in ihren teils idealistisch, teils ökonomisch und pragmatisch fundierten Auseinandersetzungen darüber, welches das bessere System sei. Herrscher schickten ihre besten Köpfe, um vor Ort zu recherchieren. Ihre Berichte erregten Aufsehen und erzeugten leidenschaftliche Debatten. Da konnte man sicher sein: eine Institution, um deren Optimierung so leidenschaftlich gefochten wird, hat ihre Zukunft wahrlich noch vor sich.  
Die Reputation des heutigen Gefängnissystems ist nicht besonders gut. Genauer: das Gefängnis ist heute sehr viel schlechter angesehen als zur Zeit seiner Entstehung. Das erste Bridewell war ein veritables Schloss des Königs. Er wurde für seine gute Tat gelobt und man lobte auch das Schloss und seine Ausstattung, seine Wirkungsweise, seine Funktion. Das Land war stolz auf die Bridewells. Als die holländischen Zucht- und Arbeitshäuser gegründet wurden, kamen Delegationen aus aller Herren Länder, um diese wunderbaren Werke der Mildtätigkeit und Effizienz zu bestaunen und umgehend zu kopieren. Die zivilisierte Welt war begeistert von diesen Monumenten des Fortschritts und der Humanität. Noch größer war die Begeisterung der Welt für die Gefängnisse der Quäker in Philadelphia und das Gefängnis in Auburn, im Staate New York, das diesem eine andere Philosphie entgegensetzte. Aber Philosophien hatte beide - und Bewunderer auch. Die europäischen Parlamente, aber auch die Zeitschriften für die gebildeten Stände glühten in ihren teils idealistisch, teils ökonomisch und pragmatisch fundierten Auseinandersetzungen darüber, welches das bessere System sei. Herrscher schickten ihre besten Köpfe, um vor Ort zu recherchieren. Ihre Berichte erregten Aufsehen und erzeugten leidenschaftliche Debatten. Da konnte man sicher sein: eine Institution, um deren Optimierung so leidenschaftlich gefochten wird, hat ihre Zukunft wahrlich noch vor sich.  


Welch ein Kontrast bietet die heutige Diskussion um das Gefängnis. Früher war man stolz auf möglichst viele Gefängnisse. Heute ist den USA die Erwähnung ihrer Einsperrungsraten peinlich. Niemand reist in die USA, um die dortigen Gefängnisse als Modell für das eigene Land zu studieren. Das Gefängnis wird als notwendiges Übel akzeptiert, aber nicht gelobt und nicht geliebt. Niemand verzehrt sich vor Leidenschaft für ein bestimmtes Modell. Gefängnisse erwecken keine positiven Kollektivgefühl mehr, nur noch negative.
Welch ein Kontrast bietet die heutige Diskussion um das Gefängnis. Früher war man stolz auf möglichst viele Gefängnisse. Heute ist den USA die Erwähnung ihrer Einsperrungsraten peinlich. Niemand reist in die USA, um die dortigen Gefängnisse als Modell für das eigene Land zu studieren. Das Gefängnis wird als notwendiges Übel akzeptiert, aber nicht gelobt und nicht geliebt. Niemand verzehrt sich vor Leidenschaft für ein bestimmtes Modell. Gefängnisse erwecken keine positiven Kollektivgefühl mehr, sondern nur noch negative.


Das wirft einen Schatten auf die Zukunft dieser Institution. Einen Schatten, dessen Kraft man sich um  so mehr bewußt wird, je mehr man auf die historischen Parallelen achtet.


Eine Parallele könnte die Abschaffung der Sklaverei sein. Auch damals, in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, gab es eine Kombination von quantitativer Expansion und qualitativem Reputationsverlust. Die Sklaverei war unter quantitativen Gesichtspunkten eine Institution mit Zukunft. Niemals zuvor gab es so viele Sklaven auf der Welt und so viele Sklaventransporte von Afrika nach Amerika wie in den Jahrzehnten, die der Abschaffung von Sklavenhandel und Sklavenhaltung unmittelbar vorausgingen. Die Sklaverei ging nicht langsam und graduell, sondern ruckartig und katastrophal zu Ende. Von den ersten politischen Kampagnen gegen den Sklavenhandel bis zur Abschaffung der Sklaverei in den USA vergingen nicht einmal 100 Jahre. Im historischen Prozess ist das blitzschnell - und es bedeutet nichts anderes, als dass die Institution des Gefängnisses, die heute erst unter einem gewissen Reputationsverlust, aber noch nicht unter einer Bedrohung seiner Existenz leidet, in 100 Jahren eine Sache der Vergangenheit geworden sein könnte. Vielleicht ein wenig früher oder später. Aber immerhin. Vielleicht gibt es in zehn Jahren die erste Gesellschaft ohne Gefängnisse in unserer Zeit, in zwanzig Jahren eine kleine Welle an Abschaffungen und in fünfzig Jahren nur noch die USA und einige ander Länder wie China und Zimbabwe, die am Gefängnis als Institution der Kriminalstrafe festhalten. Vielleicht geht es der Gefängnisstrafe so wie heute schon der Todesstrafe: immer mehr Argumente türmen sich gegen die Institution auf, immer mehr Gesellschaften verzichten stolz auf diese Strafe und immer weniger Staaten wehren sich mit immer schlechteren Argumenten und schlechterem Gewissen gegen ihre Abschaffung ...




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