Viktimologie: Unterschied zwischen den Versionen

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==Geschichte der Viktimologie==
==Geschichte der Viktimologie==
Erste Ansätze einer systematischen Betrachtung des Opfers kamen von dem deutschen Kriminologen Hans von Hentig (1887-1974). Hentig stellte die jeweiligen Opfergruppen in den Vordergrund. Auch Benjamin Mendelsohn legte 1947 den Fokus auf die Opferwissenschaft, er berücksichtigt dabei die rechtlichen Gesichtspunkte. Henri Ellenberg machte auf die soziale Isolation aufmerksam, die als Risikofaktor für die Opferwerdung anzusehen ist. 1963 wurde in Neuseeland das erste Gesetz zur Opferentschädigung erlassen, erst 13 Jahre später wurde dieses Gesetz auch in Deutschland implementiert. Im selben Jahr 1976 wurde der Verein "Der Weisse Ring" zur Unterstützung von Opfern gegründet.
 
1979 wurde in Münster die World Society of Victimology ins Leben gerufen und 1983 wurde die Europäische Konvention über die Entschädigung für Opfer von Gewalttaten durch den Ministerrat des Europarates in Straßburg anerkannt (Heller, 2007).
Viktimologie als (Teil-)Disziplin ist eine noch junge Wissenschaft. Erst um Mitte des 20. Jahrhunderts begann man sich systematisch mit den Opfern von Kriminalität auseinanderzusetzten (siehe z.B. Lamnek 2008: 233 oder Görgen 2009: 237). Erschien das Opfer in der kriminologischen Literatur bis dato nur als Randgröße, wurde es zunehmend als aktives Subjekt in Tat-Situationen betrachtet, seine Vernachlässigung somit – die sich gleichsam „im Sog des täterorientierten modernen Strafrechts“ (Jung 1993: 583; dazu auch Lebe 2003: 9) vollzog – schrittweise aufgehoben.
 
Der Urheber des Begriffs „Viktimologie“ wird nicht einheitlich bestimmt. Wird dies von einigen Autoren dem Amerikanischen Psychiater Frederick Wertham zugeschrieben  (z.B. Fattah 2000: 23 oder Kiefl/Lamnek 1986: 23), wird in anderen Publikationen die diesbezüglich entscheidende Rolle anderer Forscher (vor allem Mendelsohn) betont (siehe dazu Schwind 2009: 389f; auch Schneider 1975: 21).
 
Erste Impulse zu einer systematischen wissenschaftlichen Betrachtung des Opfers werden gemeinhin dem deutschen Kriminologen Hans von Hentig (1887-1974) zugeschrieben (vgl. Fattah 2000: 22), der insbesondere mit seinem Werk „The Criminal and his Victim“ (1948) als Pionier der Viktimologie gelten kann. Zwar waren seine Bemühungen nicht völlig voraussetzungslos, die vorige Auseinandersetzung mit viktimologischen Fragestellungen ging indes nicht über die Fokussierung einzelner Aspekte und der nur selektiven Analyse von Opferwerdung hinaus (vgl. von Mayenburg 2009: 123). Von Hentig insistierte nicht nur auf dem interaktionistischem Verhältnis von Täter und Opfer, betonte somit die zentrale Rolle Opfers in der Tatgenese, sondern versuchte ebenso eine Opfertypologie zu erstellen, die verschiedene Opfergruppen nach phänomenologischen Gesichtspunkten zusammenfasste (siehe von Hentig 1948: 404ff).  
Auch Benjamin Mendelsohn – dem das Prädikat des Wegbereiters von einigen Beobachtern ebenfalls zugeschrieben wird – legte 1947 den Fokus auf die Opferwissenschaft, er berücksichtigt dabei indes eher die rechtlichen Aspekte und vertrat – im Gegensatz zu der dynamischen Position von Hentigs – eine eher statische Perspektive (vgl. Schneider 2006: 389). Er wollte im Besonderen die Institutionalisierung einer viktimologischen akademischen Disziplin vorantreiben (vgl. Weis 1982: 9).
Henri Ellenberg – dem ebenso eine wichtige Rolle bei der anfänglichen Entwicklung der Kriminologie zugewiesen wird (siehe z.B. ebe 2003: 10) – machte auf die soziale Isolation aufmerksam, die als Risikofaktor für die Opferwerdung anzusehen ist.
 
Ende der 1970er und Anfang/Mitte der 1980er Jahre markierte eine weitere Welle von viktiomologischen Büchern das „kommende viktimologische Zeitalter“ (Fattah 2000: 22; Übers. d. Verf.). Eine neuere, aber nichtsdestotrotz wichtige Entwicklung stellt die zunehmende Verschiebung des Fokus von theoretischen zu angewandten viktimologischen Überlegungen: Wurde die Viktimologie zuvor noch von Einigen als „the art of blaming the victim“ (Clark/Lewis 1977, zit. n. Fattah 2000: 25) verspottet, stellte sich die Viktimologie zunehmend in den Dienst der Opfer und unterstützte einschlägige Bemühungen der Opferhilfe (vgl. Fattah 2000: 25).   
 
Die vermehrte wissenschaftliche Beschäftigung mit viktimologischen Themen ging einher mit einer wachsenden gesellschaftlichen Sensibilisierung für Opferbelange (vgl. Görgen 2009: 238). 1963 wurde in Neuseeland das erste Gesetz zur Opferentschädigung erlassen, erst 13 Jahre später wurde dieses Gesetz auch in Deutschland implementiert. Im selben Jahr 1976 wurde der Verein "Der Weisse Ring" zur Unterstützung von Opfern gegründet. 1979 wurde in Münster die World Society of Victimology ins Leben gerufen und 1983 wurde die Europäische Konvention über die Entschädigung für Opfer von Gewalttaten durch den Ministerrat des Europarates in Straßburg anerkannt (Heller, 2007).  
 


==Viktimisierungstheorien==
==Viktimisierungstheorien==
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==Literatur==
==Literatur==
Fattah, Ezzat (2000): Victimology: Past, Present and Future. In: Criminologie 33 (2000), 1, S. 17-46.


Fattah Ezzat / Sacco Vincent (1989): Crime and victimization of the elderly. New York.
Fattah Ezzat / Sacco Vincent (1989): Crime and victimization of the elderly. New York.


Gottfredson, Michael (1984): Victims of crime. The dimensions of risk. London.
Gottfredson, Michael (1984): Victims of crime. The dimensions of risk. London.
Görgen, Thomas (2009): Viktimologie. In: Kröber, Hans-Ludwig u.a. (Hrsg.): Handbuch der forensischen Psychiatrie. Band 4: Kriminologie und forensische Psychiatrie. Berlin: Steinkopff, S. 236-265.
Hentig, Hans von (1948): The Criminal and his Victim. New Haven: Yale University Press.


Hillenkamp, Thomas (1983): Der Einfluß des Opferverhaltens auf die dogmatische Beurteilung der Tat. Gieseking, Bielefeld.
Hillenkamp, Thomas (1983): Der Einfluß des Opferverhaltens auf die dogmatische Beurteilung der Tat. Gieseking, Bielefeld.
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Hough, Mike (1985): The impact of victimisation. Findings of the British Crime Survey. In: Victimology 10. 488-497.
Hough, Mike (1985): The impact of victimisation. Findings of the British Crime Survey. In: Victimology 10. 488-497.


Kiefl, Walter (1986): Soziologie des Opfers. Fink, München.
Jung, Heike (1993): Vktimologie. In: Kaiser, Günther u.a. (Hrsg.): Kleines Kriminologisches Wörterbuch. 3., völlig neubearb. und erw. Aufl. Heidelberg: Müller, S. 582-588. 
 
Kiefl, Walter; Lamnek, Siegfried (1986): Soziologie des Opfers. Fink, München.


Kirchhoff, Gerd Ferdinand (Hg.) (1979): Das Verbrechensopfer. Ein Reader zur Viktimologie. Studienverlag Brockmeyer, Bochum.
Kirchhoff, Gerd Ferdinand (Hg.) (1979): Das Verbrechensopfer. Ein Reader zur Viktimologie. Studienverlag Brockmeyer, Bochum.


Lebe, Wolfgang (2003): Viktimologie-Die Lehre vom Opfer. Phänomenologische Entwicklung des Opferbegriffs. In Berliner Forum Gewaltprävention, S. 8-19.
Lamnek, Siegfried (2008): Theorien abweichenden Verhaltens II. 3., überarb. u. erw. Aufl. Paderborn: Fink.
 
Lebe, Wolfgang (2003): Viktimologie-Die Lehre vom Opfer. Phänomenologische Entwicklung des Opferbegriffs. In: Berliner Forum Gewaltprävention, S. 8-19.
 
Mayenburg, David von (2009): "Geborene Opfer". In: Rechtsgeschichte 14 (2009), S. 122-147.  


Mitsch, Wolfgang (2004): Rechtfertigung und Opferverhalten. Kovac, Hamburg.
Mitsch, Wolfgang (2004): Rechtfertigung und Opferverhalten. Kovac, Hamburg.
Schneider, Hans Joachim (1975): Viktimologie. Tübingen: Mohr.
Schneider, Hans Joachim (2006): Verbrechensfoschung, -politik und -hilfe: Fortschritte und Defizite in einem halben Jahrhundert. In: Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform 89 (2006), 5, S. 389-404.
Schwind, Hans-Dieter (2009): Kriminologie. 19., neubarb. u. erw. Aufl. Heidelberg: Kriminalistik Verl.


Stadler, Lena (2006): Viktimologie des Stalking. Shaker, Aachen.
Stadler, Lena (2006): Viktimologie des Stalking. Shaker, Aachen.
Weis, Kurt (1982): Die Vergewaltigung und ihre Opfer. Stuttgart: Enke.


===Zeitschriften===
===Zeitschriften===
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===Links===
===Links===
http://www.weisser-ring.de/internet/index.html (offizielle Homepage Weisser Ring)


http://www.tokiwa.ac.jp/~tivi/index_e.html (Tokiwa International Victimology Institute)
http://www.tokiwa.ac.jp/~tivi/index_e.html (Tokiwa International Victimology Institute)
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