Versicherheitlichung: Unterschied zwischen den Versionen

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Als '''Versicherheitlichung''' (englisch '''Securitization''') wird in den Sozialwissenschaften der Mechanismus zur Erschaffung eines Sicherheitsthemas verstanden. Der Begriff ist eine Chiffre für den Verlauf eines „Deutungsprozesses“ (Masala 2012: 58), der zur Entstehung von Sicherheitskennzeichnungen und -maßnahmen führt. Er setzt eine Klammer um diejenigen Entwicklungsschritte und -bedingungen, die ein Problem als Sicherheitsbedrohung etikettieren und die in weiteren Schritten das neu geschaffene Sicherheitsproblem zum Ausgangspunkt und zur Legitimation für weitreichende Sicherheitsakte machen.
Als '''Versicherheitlichung''' wird in den Sozialwissenschaften der Mechanismus zur Erschaffung eines Sicherheitsthemas verstanden. Der Begriff ist eine Chiffre für den Verlauf eines „Deutungsprozesses“ (Masala 2012: 58), der zur Entstehung von Sicherheitskennzeichnungen und -maßnahmen führt. Er setzt eine Klammer um diejenigen Entwicklungsschritte und -bedingungen, die ein Problem als Sicherheitsbedrohung etikettieren und die in weiteren Schritten das neu geschaffene Sicherheitsproblem zum Ausgangspunkt und zur Legitimation für weitreichende Sicherheitsakte machen.
==Etymologie==
==Etymologie==
Es handelt sich um die in der sozialwissenschaftlichen Literatur (z. B. Diez 2008: 192) etablierte Übersetzung des englischen Begriffs „securitization“ [sıˌkʊɘrɪtaɪˈzeɪʃɘn]. Soweit das Schrifttum (etwa Daase 2012a: 403) den deutschen Ausdruck verwendet, wird zumeist auf die englische Ursprungsbezeichnung und auf die Referenzwerke (Wæver 1995, Buzan et al. 1998) der so genannten Copenhagen School verwiesen. Deren Untersuchungen und die darin geprägte Kennzeichnung „Securitization“ stehen dafür, die Schaffung eines Sicherheitsthemas nicht nur inhaltlich als Zentrum eines Erklärungsmodells (Wæver 2011: 468), sondern auch sprachlich als zusammenhängende Einheit zu sehen. Die deutschsprachige Fachliteratur verwendet häufig die englische Bezeichnung (etwa Conze 2012: 453) oder spricht von „Sekuritisation“ (Frevel/Schulze 2012: 211). Mit Blick auf die unterschiedlichen Begrifflichkeiten wird zuweilen kritisiert, die deutsche Übersetzung „Versicherheitlichung“ spiegle den prozesshaften Charakter des Sekuritisationskonzepts nicht ausreichend wider (Pepe 2010: 19).
Es handelt sich um die in der sozialwissenschaftlichen Literatur (z. B. Diez 2008: 192) etablierte Übersetzung des englischen Begriffs „securitization“ [sıˌkʊɘrɪtaɪˈzeɪʃɘn]. Soweit das Schrifttum (etwa Daase 2012a: 403) den deutschen Ausdruck verwendet, wird zumeist auf die englische Ursprungsbezeichnung und auf die Referenzwerke (Wæver 1995, Buzan et al. 1998) der so genannten Copenhagen School verwiesen. Deren Untersuchungen und die darin geprägte Kennzeichnung „Securitization“ stehen dafür, die Schaffung eines Sicherheitsthemas nicht nur inhaltlich als Zentrum eines Erklärungsmodells (Wæver 2011: 468), sondern auch sprachlich als zusammenhängende Einheit zu sehen. Die deutschsprachige Fachliteratur verwendet häufig die englische Bezeichnung (etwa Conze 2012: 453) oder spricht von „Sekuritisation“ (Frevel/Schulze 2012: 211). Mit Blick auf die unterschiedlichen Begrifflichkeiten wird zuweilen kritisiert, die deutsche Übersetzung „Versicherheitlichung“ spiegle den prozesshaften Charakter des Sekuritisationskonzepts nicht ausreichend wider (Pepe 2010: 19).
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Der sprachtheoretisch eingeordnete Gesamtprozess beginnt mit der Benennung eines Themas als existenzielle Bedrohung durch einen verantwortlichen Sicherheitsakteur (Buzan et al. 1998: 25). Die Rolle als „security actor“ (Buzan et al. 1998: 40) schreibt der klassische Ansatz zu allererst den politischen Eliten zu (Bürokratie, Regierungen, Lobbygruppen). Notwendiger Teil des Konzepts ist es, dass eine bedeutsame Zielgruppe das kommunizierte Sicherheitsproblem als elementare Bedrohung für das Referenzobjekt akzeptiert. Zu der erfolgreichen und von der Zielgruppe angenommenen Themensetzung gehört die Kennzeichnung der gefahrvermeidenden Notfallmaßnahmen. Gemeinsam stehen am Ende des Versicherheitlichungsprozesses die Durchführung und die Legitimation außerordentlicher Bewältigungshandlungen, die jenseits der üblicherweise geltenden politischen (Verfahrens-)Grenzen liegen (Buzan et al. 1998: 26).
Der sprachtheoretisch eingeordnete Gesamtprozess beginnt mit der Benennung eines Themas als existenzielle Bedrohung durch einen verantwortlichen Sicherheitsakteur (Buzan et al. 1998: 25). Die Rolle als „security actor“ (Buzan et al. 1998: 40) schreibt der klassische Ansatz zu allererst den politischen Eliten zu (Bürokratie, Regierungen, Lobbygruppen). Notwendiger Teil des Konzepts ist es, dass eine bedeutsame Zielgruppe das kommunizierte Sicherheitsproblem als elementare Bedrohung für das Referenzobjekt akzeptiert. Zu der erfolgreichen und von der Zielgruppe angenommenen Themensetzung gehört die Kennzeichnung der gefahrvermeidenden Notfallmaßnahmen. Gemeinsam stehen am Ende des Versicherheitlichungsprozesses die Durchführung und die Legitimation außerordentlicher Bewältigungshandlungen, die jenseits der üblicherweise geltenden politischen (Verfahrens-)Grenzen liegen (Buzan et al. 1998: 26).


Die Kopenhagener Schule versteht securitization in Abgrenzung von einem normalen Zustand als extreme Form der Politisierung („a more extreme form version of politicization“ – Buzan et al. 1998: 23). Das bedeutet keine Verstärkung des Politischen. Der Sekuritisations-Prozess führt zu einer Art Entpolitisierung von Sicherheitsfragen. Die sonst gültigen Regeln des politischen Aushandelns werden ausgesetzt. Indem ein Staatsrepräsentant ein Sicherheitsthema benennt, führt er das mit dem Sicherheitsetikett versehene Problem in einen spezifischen Bereich und beansprucht damit das besonderes Recht, alle notwendigen Mittel uneingeschränkt nutzen zu können, um der Sicherheitsgefahr zu begegnen (Wæver 1995: 55). Das Ausnahmeverständnis von „Sicherheit hebt das so definierte Sachthema aus dem politischen Raum heraus und entzieht es einer fundamentalen politisch-gesellschaftlichen Auseinandersetzung“ (Kink 2013: 143); Versicherheitlichung beschreibt einen erfolgreich herbeigeführten Ausnahmezustand.
Die Kopenhagener Schule versteht securitization in Abgrenzung von einem normalen Zustand als extreme Form der Politisierung („a more extreme version of politicization“ – Buzan et al. 1998: 23). Das bedeutet keine Verstärkung des Politischen. Der Sekuritisations-Prozess führt zu einer Art Entpolitisierung von Sicherheitsfragen. Die sonst gültigen Regeln des politischen Aushandelns werden ausgesetzt. Indem ein Staatsrepräsentant ein Sicherheitsthema benennt, führt er das mit dem Sicherheitsetikett versehene Problem in einen spezifischen Bereich und beansprucht damit das besonderes Recht, alle notwendigen Mittel uneingeschränkt nutzen zu können, um der Sicherheitsgefahr zu begegnen (Wæver 1995: 55). Das Ausnahmeverständnis von „Sicherheit hebt das so definierte Sachthema aus dem politischen Raum heraus und entzieht es einer fundamentalen politisch-gesellschaftlichen Auseinandersetzung“ (Kink 2013: 143); Versicherheitlichung beschreibt einen erfolgreich herbeigeführten Ausnahmezustand.
 
===Kritik des klassischen Versicherheitlichungskonzepts===
===Kritik des klassischen Versicherheitlichungskonzepts===
Der Kopenhagener Versicherheitlichungsbegriff steht in der Kritik. Sehr grundsätzlich ist der Einwand, das Sekuritisationskonzept entgrenze anerkannte demokratische Standards (Hagemann 2012: 176). Im Kern geht es um den Vorbehalt, das Prozessmodell transportiere mit seinem Hinweis auf den politischen Sonderfall „Sicherheit“ ein objektives Sicherheitsverständnis, das einseitig autoritärstaatliche Durchsetzungsmacht stark macht (Diez 2008: 192). Es wird zum einen vermerkt, die klassische Versicherheitlichungsidee enthalte Denkmuster, die bereits in dem theoretischen und historisch belasteten Ausnahmerechts-Konzept Carl Schmitts auftauchen (Williams 2003: 515ff.). Zum anderen wird die Gefahr einer Vereinnahmung für die Ideen eines Sicherheitsstaates gesehen (Debiel/Werthes 2013: 328ff.).
Der Kopenhagener Versicherheitlichungsbegriff steht in der Kritik. Sehr grundsätzlich ist der Einwand, das Sekuritisationskonzept entgrenze anerkannte demokratische Standards (Hagemann 2012: 176). Im Kern geht es um den Vorbehalt, das Prozessmodell transportiere mit seinem Hinweis auf den politischen Sonderfall „Sicherheit“ ein objektives Sicherheitsverständnis, das einseitig autoritärstaatliche Durchsetzungsmacht stark macht (Diez 2008: 192). Es wird zum einen vermerkt, die klassische Versicherheitlichungsidee enthalte Denkmuster, die bereits in dem theoretischen und historisch belasteten Ausnahmerechts-Konzept Carl Schmitts auftauchen (Williams 2003: 515ff.). Zum anderen wird die Gefahr einer Vereinnahmung für die Ideen eines Sicherheitsstaates gesehen (Debiel/Werthes 2013: 328ff.).
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Neuere Sicherheitsdiskurse formulieren die Idee einer „Historisierung“ (Conze 2012: 458) des Versicherheitlichungsbegriffs oder verlangen seine „praxistheoretische“ (Daase 2012b: 36) bzw. „soziologische“ (Brand 2012: 213) Rekonstruktion. Gemeinsames Ziel dieser Fortschreibungen ist es, der Sicherheitsforschung durch die Einbeziehung sozio- oder sicherheitskulturelle Ansätze neue Felder zu erschließen (Daase 2012b: 36). Die soziokulturelle Erweiterung des Versicherheitlichungskonzepts war einer der Ausgangspunkte für das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderte interdisziplinäre Forschungsprojekt [http://sira-security.de/ „Sicherheit im öffentlichen Raum (SIRA)“].
Neuere Sicherheitsdiskurse formulieren die Idee einer „Historisierung“ (Conze 2012: 458) des Versicherheitlichungsbegriffs oder verlangen seine „praxistheoretische“ (Daase 2012b: 36) bzw. „soziologische“ (Brand 2012: 213) Rekonstruktion. Gemeinsames Ziel dieser Fortschreibungen ist es, der Sicherheitsforschung durch die Einbeziehung sozio- oder sicherheitskulturelle Ansätze neue Felder zu erschließen (Daase 2012b: 36). Die soziokulturelle Erweiterung des Versicherheitlichungskonzepts war einer der Ausgangspunkte für das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderte interdisziplinäre Forschungsprojekt [http://sira-security.de/ „Sicherheit im öffentlichen Raum (SIRA)“].


Versicherheitlichung soll nach dem erweiterten Verständnis uneingeschränkt alle Phänomene erfassen, die ein Thema in einen Sicherheitszusammenhang stellen. Dieser neue Ansatz berücksichtigt sicherheitsrelevante Geschehnisse unabhängig von kommunikativen Kategorien (Balzacq 2011: 22). Als eigenständige und ergänzende Faktoren sind Wahrnehmung, Akzeptanz und Ablehnung von Sicherheitsfragen in der Bevölkerung einbezogen (Masala 2012: 64f.). Gleiches gilt für Fragen nach dem „Umgang mit eingetretenen Gefahren“ und nach „Prävention und Prophylaxe“ (Frevel/Schulze 2012: 214). Neu formulierte Versicherheitlichung(-sbegriffe) werfen einen verstärkten Blick auf die Auswirkungen der Sicherheitsdiskurse in der Bevölkerung und die damit verbundenen (auch) subjektiven Kategorien. Berührt sind Gegenstände einer Bedrohungs- bzw. Wirkungsforschung (Frevel/Schulze 2012: 223).
Versicherheitlichung soll nach dem erweiterten Verständnis uneingeschränkt alle Phänomene erfassen, die ein Thema in einen Sicherheitszusammenhang stellen. Dieser neue Ansatz berücksichtigt sicherheitsrelevante Geschehnisse unabhängig von kommunikativen Kategorien (Balzacq 2011: 22). Als eigenständige und ergänzende Faktoren sind Wahrnehmung, Akzeptanz und Ablehnung von Sicherheitsfragen in der Bevölkerung einbezogen (Masala 2012: 64f.). Gleiches gilt für Fragen nach dem „Umgang mit eingetretenen Gefahren“ und nach „Prävention und Prophylaxe“ (Frevel/Schulze 2012: 214). Neu formulierte Versicherheitlichungsbegriffe werfen einen verstärkten Blick auf die Auswirkungen der Sicherheitsdiskurse in der Bevölkerung und die damit verbundenen (auch) subjektiven Kategorien. Berührt sind Gegenstände einer Bedrohungs- bzw. Wirkungsforschung (Frevel/Schulze 2012: 223).
 
==Zusammenhänge mit anderen Begriffen==
==Zusammenhänge mit anderen Begriffen==
===Sicherheitskultur===
===Sicherheitskultur===
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*Surveillance Studies.org. Das Forschungsnetzwerk zu Überwachung, Technologie und Kontrolle. URL: http://www.surveillance-studies.org/ [05.03.2014]
*Surveillance Studies.org. Das Forschungsnetzwerk zu Überwachung, Technologie und Kontrolle. URL: http://www.surveillance-studies.org/ [05.03.2014]
[[Kategorie:Sicherheit und Kontrolle]]
[[Kategorie:Versicherheitlichung]]