Versicherheitlichung

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Als Versicherheitlichung (englisch Securitization) wird in den Sozialwissenschaften der Mechanismus zur Erschaffung eines Sicherheitsthemas verstanden. Der Begriff ist eine Chiffre für den Verlauf eines „Deutungsprozesses“ (Masala 2012: 58), der zur Entstehung von Sicherheitskennzeichnungen und -maßnahmen führt. Er setzt eine Klammer um diejenigen Entwicklungsschritte und -bedingungen, die ein Problem als Sicherheitsbedrohung etikettieren und die in weiteren Schritten das neu geschaffene Sicherheitsproblem zum Ausgangspunkt und zur Legitimation für weitreichende Sicherheitsakte machen.

Etymologie

Es handelt sich um die in der sozialwissenschaftlichen Literatur (z. B. Diez 2008: 192) etablierte Übersetzung des englischen Begriffs „securitization“ [sıˌkʊɘrɪtaɪˈzeɪʃɘn]. Soweit das Schrifttum (etwa Daase 2012a: 403) den deutschen Ausdruck verwendet, wird zumeist auf die englische Ursprungsbezeichnung und auf die Referenzwerke (Wæver 1995, Buzan et al. 1998) der so genannten Copenhagen School verwiesen. Deren Untersuchungen und die darin geprägte Kennzeichnung „Securitization“ stehen dafür, die Schaffung eines Sicherheitsthemas nicht nur inhaltlich als Zentrum eines Erklärungsmodells (Wæver 2011: 468), sondern auch sprachlich als zusammenhängende Einheit zu sehen. Die deutschsprachige Fachliteratur verwendet häufig die englische Bezeichnung (etwa Conze 2012: 453) oder spricht von „Sekuritisation“ (Frevel/Schulze 2012: 211). Mit Blick auf die unterschiedlichen Begrifflichkeiten wird zuweilen kritisiert, die deutsche Übersetzung „Versicherheitlichung“ spiegle den prozesshaften Charakter des Sekuritisationskonzepts nicht ausreichend wider (Pepe 2010: 19).

Begriffsbestimmung

Definition

Der Begriff Versicherheitlichung bezeichnet den Erklärungsrahmen für einen Prozess, in dem unterschiedliche Akteure ein Thema als relevantes Sicherheitsproblem (um-)definieren bzw. gesellschaftlich etablieren und damit die (Legitimations-)Grundlagen für Sicherheitsmaßnahmen auch jenseits politischer und rechtsstaatlicher Standards schaffen, wobei die Sicherheitsetikettierung immer das Ergebnis einer zuschreibenden sozialen Konstruktion ist.

Details des Versicherheitlichungsprozesses

Im Rahmen des Deutungsprozesses gilt ein Problem als versicherheitlicht, wenn es als besondere Sicherheitsbedrohung präsentiert, wahrgenommen und akzeptiert wird. In einem ersten Schritt wird ein Sachthema als bedeutende Bedrohung für einen Sicherheitsadressaten (Referenzobjekt) gekennzeichnet und damit als Sicherheitsfrage in den gesellschaftlichen Diskurs eingeführt. Der gebildete Zusammenhang zwischen Problem und Sicherheit(-sbegriff) führt an zweiter Stelle dazu, dass bei dem (verunsicherten) Adressaten eine Akzeptanz des Phänomens als Sicherheitsproblem entsteht. Und der Entwicklungsgang mündet in einem dritten Schritt in tiefgreifende Sicherheitsmaßnahmen, die mit dem Hinweis auf die sicherheitsbedrohende Gefahr begründet und gerechtfertigt werden.

Entwicklung des Begriffs

Securitization als Erklärungsmodell der „Kopenhagener Schule“

Die Entstehung des Versicherheitlichungsbegriffs folgt der Hervorhebung eines subjektiven Sicherheitsverständnisses und ist mit den in den 1990er Jahren aufkommenden Critical Security Studies verbunden (Engert 2013: 191). Deren Fragen nach Entstehungsbedingungen von Sicherheitsthemen markieren den Ausgangspunkt mehrerer Forschungsarbeiten zum Thema Versicherheitlichung der so genannten Kopenhagener Schule. Die Kennzeichnung „Copenhagen School“ entstammt der Anbindung ihrer Mitglieder an das frühere Copenhagen Peace Research Institute, das im Jahre 2003 in dem Dansk Institut for Internationale Studier (DIIS) aufging.

Die Kopenhagener Arbeiten zeigen einen ursprünglich stark interstaatlichen Blick auf Sicherheit(-sfragen). Mit dem Securitization-Modell wurde ein Konzept entwickelt, das den Anspruch erhebt, eine generelle theoretische Analyse von Versicherheitlichungsprozessen zu ermöglichen (Wæver 2011: 468). Das Kopenhagener Konzept fußt „auf einer subjektiv konstruierten Wahrnehmung der Akteure im politisch-sozialen Prozess“ (Pepe 2010: 18). Es definiert Sicherheit allgemein als eine sprachliche Konstruktion und nicht als etwas, was ein Analyst als real vorgegeben beschreiben könne (Buzan et al. 1998: 35). Nach diesem Deutungsansatz kann letztlich jedes Thema flexibel und unabhängig davon versicherheitlicht werden, ob es eine wirklich bestehende Bedrohung widerspiegelt (Buzan et al. 1998: 23f. u. 27).

Für die Kopenhagener Schule ist die erfolgreiche Versicherheitlichung eines Problems nicht das Ergebnis einer der Politik a priori vorgegebenen Themensetzung, sondern entsteht mittels eines politisch willkürlichen Sprechaktes („speach act“ – Wæver 1995: 55), der das Problem innerhalb des kommunikativen Austauschs zwischen Politik und Gesellschaft einführt und damit „im Diskursfeld der Sicherheitspolitik“ verankert (Daase 2012b: 30). Das Aussprechen der Sicherheitsdimension eines Themas ist das erste entscheidende Moment.

Der sprachtheoretisch eingeordnete Gesamtprozess beginnt mit der Benennung eines Themas als existenzielle Bedrohung durch einen verantwortlichen Sicherheitsakteur (Buzan et al. 1998: 25). Die Rolle als „security actor“ (Buzan et al. 1998: 40) schreibt der klassische Ansatz zu allererst den politischen Eliten zu (Bürokratie, Regierungen, Lobbygruppen). Notwendiger Teil des Konzepts ist es, dass eine bedeutsame Zielgruppe das kommunizierte Sicherheitsproblem als elementare Bedrohung für das Referenzobjekt akzeptiert. Zu der erfolgreichen und von der Zielgruppe angenommenen Themensetzung gehört die Kennzeichnung der gefahrvermeidenden Notfallmaßnahmen. Gemeinsam stehen am Ende des Versicherheitlichungsprozesses die Durchführung und die Legitimation außerordentlicher Bewältigungshandlungen, die jenseits der üblicherweise geltenden politischen (Verfahrens-)Grenzen liegen (Buzan et al. 1998: 26).

Die Kopenhagener Schule versteht securitization in Abgrenzung von einem normalen Zustand als extreme Form der Politisierung („a more extreme version of politicization“ – Buzan et al. 1998: 23). Das bedeutet keine Verstärkung des Politischen. Der Sekuritisations-Prozess führt zu einer Art Entpolitisierung von Sicherheitsfragen. Die sonst gültigen Regeln des politischen Aushandelns werden ausgesetzt. Indem ein Staatsrepräsentant ein Sicherheitsthema benennt, führt er das mit dem Sicherheitsetikett versehene Problem in einen spezifischen Bereich und beansprucht damit das besonderes Recht, alle notwendigen Mittel uneingeschränkt nutzen zu können, um der Sicherheitsgefahr zu begegnen (Wæver 1995: 55). Das Ausnahmeverständnis von „Sicherheit hebt das so definierte Sachthema aus dem politischen Raum heraus und entzieht es einer fundamentalen politisch-gesellschaftlichen Auseinandersetzung“ (Kink 2013: 143); Versicherheitlichung beschreibt einen erfolgreich herbeigeführten Ausnahmezustand.

Kritik des klassischen Versicherheitlichungskonzepts

Der Kopenhagener Versicherheitlichungsbegriff steht in der Kritik. Sehr grundsätzlich ist der Einwand, das Sekuritisationskonzept entgrenze anerkannte demokratische Standards (Hagemann 2012: 176). Im Kern geht es um den Vorbehalt, das Prozessmodell transportiere mit seinem Hinweis auf den politischen Sonderfall „Sicherheit“ ein objektives Sicherheitsverständnis, das einseitig autoritärstaatliche Durchsetzungsmacht stark macht (Diez 2008: 192). Es wird zum einen vermerkt, die klassische Versicherheitlichungsidee enthalte Denkmuster, die bereits in dem theoretischen und historisch belasteten Ausnahmerechts-Konzept Carl Schmitts auftauchen (Williams 2003: 515ff.). Zum anderen wird die Gefahr einer Vereinnahmung für die Ideen eines Sicherheitsstaates gesehen (Debiel/Werthes 2013: 328ff.).

Häufig genannte analytische Schwächen des Kopenhagener Modells sind die „Konzentration auf den Sprechakt“ (Daase 2012b: 35), die besondere Betonung der politischen Eliten als auslösende Akteure des Versicherheitlichungsprozesses und die fehlende Berücksichtigung unterschiedlicher Reaktionen auf Seiten der Zielgruppen. Danach blendet die klassische Betonung eines Sprachakts, der von der politischen Führungsklasse ausgeht, andere Formen der Kommunikation (Bilder, Medien) ebenso aus wie die Tatsache, dass allein schon die bürokratische Praxis und tatsächliches Handeln Sekuritisationsprozesse in Gang setzen oder steuern können (Daase 2012a: 404). Beispiele für die Grenzen des Kopenhagen-Ansatzes sind sprechaktfreie Akte einer reinen Versicherheitlichungsrealität (wie die vielerorts praktizierte Videoüberwachung) sowie die außerhalb der Kreise politischer Eliten initiierten Sicherheitsthemen, die etwa von sozialen Gruppen mit dem Ziel einer Versicherheitlichung in den öffentlichen Diskurs eingebracht werden (Engert 2013: 189f.).

Besondere Beachtung wird dem Vorbehalt geschenkt, das Konzept der Kopenhagener Schule greife mit seiner Vermutung zugunsten stets homogen (re-)agierender Zielgruppen analytisch zu kurz, weil Versicherheitlichungsprozesse von der Adressatengruppe sehr unterschiedlich aufgenommen und trotz fehlender Gesamtzustimmung gleichwohl durchgesetzt werden. Mit dieser Kritik ist die Überlegung verbunden, die wissenschaftliche Erklärung erfolgreicher oder gescheiterter Sekuritisationsverfahren verlange die differenzierte Berücksichtigung auch divergierender Zielgruppen sowie der Wechselwirkung zwischen Sprechakt und Zielgruppe (Masala 2012: 64).

Fortschreibungen der Versicherheitlichungsidee

Neuere Sicherheitsdiskurse formulieren die Idee einer „Historisierung“ (Conze 2012: 458) des Versicherheitlichungsbegriffs oder verlangen seine „praxistheoretische“ (Daase 2012b: 36) bzw. „soziologische“ (Brand 2012: 213) Rekonstruktion. Gemeinsames Ziel dieser Fortschreibungen ist es, der Sicherheitsforschung durch die Einbeziehung sozio- oder sicherheitskulturelle Ansätze neue Felder zu erschließen (Daase 2012b: 36). Die soziokulturelle Erweiterung des Versicherheitlichungskonzepts war einer der Ausgangspunkte für das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderte interdisziplinäre Forschungsprojekt „Sicherheit im öffentlichen Raum (SIRA)“.

Versicherheitlichung soll nach dem erweiterten Verständnis uneingeschränkt alle Phänomene erfassen, die ein Thema in einen Sicherheitszusammenhang stellen. Dieser neue Ansatz berücksichtigt sicherheitsrelevante Geschehnisse unabhängig von kommunikativen Kategorien (Balzacq 2011: 22). Als eigenständige und ergänzende Faktoren sind Wahrnehmung, Akzeptanz und Ablehnung von Sicherheitsfragen in der Bevölkerung einbezogen (Masala 2012: 64f.). Gleiches gilt für Fragen nach dem „Umgang mit eingetretenen Gefahren“ und nach „Prävention und Prophylaxe“ (Frevel/Schulze 2012: 214). Neu formulierte Versicherheitlichungsbegriffe werfen einen verstärkten Blick auf die Auswirkungen der Sicherheitsdiskurse in der Bevölkerung und die damit verbundenen (auch) subjektiven Kategorien. Berührt sind Gegenstände einer Bedrohungs- bzw. Wirkungsforschung (Frevel/Schulze 2012: 223).

Zusammenhänge mit anderen Begriffen

Sicherheitskultur

Sicherheitskultur und Versicherheitlichung haben begrifflich und theoretisch gemeinsame (konstruktivistische) Ursprünge. Der heute etablierte (Ober-)Begriff „Sicherheitskultur“ (Daase et al. 2012) wurde 1986 nach dem Reaktorunfall von Tschernobyl von einer Expertengruppe der International Atomic Energy Agency (IAEA) geprägt (Daase 2012b: 32). Wie der klassische Versicherheitlichungsansatz betont auch der Hinweis auf den Kulturbegriff das kommunikative Moment von Sicherheit (Gusy 2010: 112). Parallel zur praxisorientierten Fortschreibung des Versicherheitlichungskonzepts wurde auch der Sicherheitsbegriff erweitert. Für diesen veränderten Sicherheitsbegriff bildet heute der Ausdruck Sicherheitskultur eine sprachlich-wissenschaftliche Klammer, die ergänzend eine weiterentwickelte Interpretation des Versicherheitlichungskonzepts einschließt. Die moderne Sicherheitsforschung versteht Sicherheitskultur entsprechend als „die Summe der Überzeugungen, Werte und Praktiken von Institutionen und Individuen, die darüber entscheiden, was als Gefahr anzusehen ist und wie und mit welchen Mitteln dieser Gefahr begegnet werden soll“ (Daase 2012b: 40).

Verpolizeilichung

Als Verpolizeilichung beschreiben Kriminologie und Strafrechtssoziologie Tendenzen innerhalb des Polizei-, Straf- und Strafprozessrechts zur Ausweitung sicherheitsorientierter Maßnahmen und Kompetenzen. Der Begriff steht für Kennzeichnung und Kritik der mit einem präventiven Sicherheitsrecht verschwimmenden Grenzen zwischen Straf- und Polizeirecht und der damit verbundenen Aufweichung rechtsstaatlich verankerter Schutzprinzipien (Albrecht 2010: 179ff.). Ein Kennzeichen hierfür ist der immer weiter vorangetriebene Zugriff auf Geschehnisse im Vorfeld von (Tat-)Verdacht und konkreter Gefahr (Singelnstein/Stolle 2012: 66f. u. 113). Soweit Verpolizeilichung damit als Prozess zur Gewinnung und Legitimation präventiv ausgerichteter Sicherheitseingriffe außerhalb anerkannter rechtlicher Grenzen verstanden wird, umschreibt der Begriff Entwicklungsschritte für das Gebiet des Straf- und Polizeirechts, die Parallelen zu den prozessorientierten Versicherheitlichungskonzepten aufweisen. Das gilt besonders für die Charakterisierung und Legitimation neuer Sicherheitsgesetze als (rechtliche) Maßnahmen jenseits rechtsstaatlicher und politischer Normalität.

Kriminologische Relevanz der Versicherheitlichung

Versicherheitlichung(-sprozesse) und ihre Einordnung gewinnen für die (kritische) Kriminologie an Bedeutung. Übergreifend ist erkennbar, dass Sekuritisationskonzepte herangezogen werden, um moderne Formen der Kriminalitätskontrolle (neu) zu analysieren. Zugleich werden neue Felder kriminologischer Forschung sichtbar.

Versicherheitlichung als Transformation von Kontrolle

Versicherheitlichungsmodelle dienen der Kriminologie als Interpretationsfolie zur Kennzeichnung solcher Sicherheitsdiskurse und -praktiken, die rechtsstaatliche Grenzen überschreiten (Fuchs/Kretschmann 2007: 269). Anknüpfende Befunde sehen die moderne Versicherheitlichungspraxis nicht mehr innerhalb des „alten Referenzrahmens der Kriminologie“, nachdem das Verbrechen als klassisch-kriminologischer Bezugspunkt von einer präventiven Gefahr- und Sicherheitsfixierung verdrängt wurde (Akka et al. 2007: 261). Versicherheitlichung ist damit innerhalb der (kritischen) Kriminologie ein anschlussfähiges Deutungsmodell, das bestehende kriminologische Theorieansätze aufgreift. Zugleich stellt das Konzept traditionelle Zugänge der Kriminologie in Frage.

Analysen der Konjunktur des modernen Sicherheitsstaates bzw. der Freisetzung seiner entgrenzten Präventionsfixierung (Albrecht 2010: 66ff.) lassen Versicherheitlichungsmechanismen als Teil eines umfassenden gesellschaftlichen Transformationsprozesses erscheinen. Sekuritisation ist nicht nur eine Technik zur Setzung neuer Sicherheitsthemen, sondern auch Ausdruck einer inhaltlichen Neuausrichtung sozialer Kontrolle hin zu einer Sicherheitsgesellschaft. Hinter dem Versicherheitlichungsprozess stehen materiell eine „Transformation von Kontrolle“ bzw. von Recht „durch Sicherheit“ und damit im Detail zu untersuchende „neue Kontrollformen“ (Akka et al. 2007: 255). Kennzeichen dieser Verschiebung ist die Abkopplung von klassischen Kontroll- bzw. Rechtsformen und das Aufkommen einer von der Idee der Kriminalitätsbekämpfung beherrschten „Sicherheitskriminalpolitik“ (Böhm 2007: 253). Darin enthalten sind die Konjunktur von Punitivität, Prävention und repressiver bzw. differenzierender (Feind-)Strafrechtspraxis (Singelnstein/Stolle 2012: 41 u. 69f.) sowie die Tendenz zur Exklusion (Hagemann 2010: 176).

Belebung der Labeling-Ansätze

Die Prozessorientierung der Versicherheitlichungslehren lenkt den Blick auf den gesellschaftskritisch (insbesondere von Fritz Sack) geprägten Labeling Approach. Die Grundidee gesellschaftstheoretisch ausgerichteter Labeling-Ansätze, Kriminalität als machtorientierten und staatlich gelenkten Zuschreibungsprozess zu erfassen (Albrecht 2010: 39f.), schafft Querverbindungen zu den modernen Sekuritisationsmodellen. Soweit Versicherheitlichungsverfahren mit kriminalisierenden Normierungsprozessen zusammenfallen, kann in der Definition und Legitimation sicherheitsschützender (Kriminalisierungs-)Maßnahmen stets auch ein Akt staatlicher Machtdurchsetzung gesehen werden. Sofern Sekuritisation darüber hinaus Sicherheitsmaßnahmen jenseits rechtsstaatlicher und politischer Standards hervorbringt, geht es im Falle kriminalisierender Sicherheitsakte immer auch um Etikettierungsmechanismen im Sinne kritischer Labeling-Perspektiven. Bedeutsam ist, ob sich kriminalisierende Sicherheitsprozesse theoretisch von Labeling- oder von Versicherheitlichungsansätzen aus erschließen lassen.

Wirkungs- und Wahrnehmungsforschung

Moderne Sicherheitsdiskurse veranlassen mit ihrem erweiterten Versicherheitlichungs- bzw. Sicherheitsbegriff kriminologische Überlegungen zu Existenz, Ursache, Ausmaß und Wirkung kriminalitätsbezogener (Un-)Sicherheitsgefühle. Die „verunsicherte Gesellschaft“ (Daase et al. 2013) wird zum Thema auch der Kriminologie. Anschlussfähig wird ein Konzept, das eine „neue Kultur der Unsicherheit“ (Bonß 2011: 65) ausmacht und die Felder notwendig verbleibender Unsicherheit ebenso in den Sicherheitsdiskurs einführt wie die Subjektivität von Sicherheit (Gerhold 2012: 352f.). Der Fokus auf Wahrnehmung und Wirkung berücksichtigt, dass sich objektive Sicherheit und (subjektiver) Sicherheitsdiskurs nicht notwendig decken und dass Sicherheitsdiskurse als solche Sicherheitswahrnehmungen ebenso leiten wie individuelle Erfahrungen und Fähigkeiten im Umgang mit (Diskussionen über) Kriminalität (Gusy 2010: 112f.).

Das Spektrum kriminologisch relevanter Anknüpfungspunkte ist groß. Es reicht von opferbezogenen Untersuchungsansätzen bis hin zu einem generalisierten sozialen Unsicherheitsgefühl, das als Ursache für vorhandene Kriminalitätsfurcht diskutiert wird (Hummelsheim et al: 2012: 303ff.). Hinzu kommen Überlegungen zu Realität und Wahrnehmung der Versicherheitlichtlichungspraxis. „Surveillance Studies“ (Zurawski: 2007) widmen sich differenziert den praktisch-technischen Folgeszenarien von Versicherheitlungsprozessen. Forschungsfelder der Surveillence Studies (sichtbar etwa in einem breit angelegten Forschungsnetzwerk zu Überwachung, Technologie und Kontrolle) greifen unter anderem die Unterscheidung zwischen der objektiven und subjektiven Dimension von Sicherheit auf und fragen, inwieweit objektiv praktizierte Sicherheitstechnik auch subjektiv als Überwachung bzw. Kontrolle empfunden wird (Zurawski 2011: 11).

Literatur

  • Akka, Abousoufiane/Böhm, Maria Laura/Ostermeier, Lars/Pelzer, Robert (2007): Von der Kriminalisierung zur Securitisierung: Wandel von Kontrolle und seine Folgen für die Kriminologie. In: Schulte-Ostermann, Juleka/Henrich, Rebecca Salome/Kesoglou, Veronika (Hrsg.): Praxis, Forschung, Kooperation. Gegenwärtige Tendenzen in der Kriminologie. Sammelband zur Tagung: „Im Gespräch. Zur Aktualität der Kriminologie“, Frankfurt am Main, S. 253-264.
  • Albrecht, Peter-Alexis (2010): Kriminologie. Eine Grundlegung zum Strafrecht, 4. Aufl., München.
  • Balzacq, Thierry (2011): A theory of securitization. Origins, core assumptions, and variants. In: Ders. (Hrsg.): Securitization Theory. How security problems emerge and dissolve, New York, S. 1-30.
  • Böhm, Maria Laura (2007): Überwachung und Kontrollpolitik. In: Zurawski, Nils (Hrsg.): Sicherheitsdiskurse. Angst, Kontrolle und Sicherheit in einer „gefährlichen“ Welt, Frankfurt am Main u.a., S. 245-260.
  • Bonß, Wolfgang (2011): (Un-)Sicherheit in der Moderne. In: Zoche, Peter/Kaufmann, Stefen/Haverkamp, Rita (Hrsg.): Zivile Sicherheit. Gesellschaftliche Dimensionen gegenwärtiger Sicherheitspolitiken, Bielefeld, S. 43-70.
  • Brand, Alexander (2011): Sicherheit über alles? Die schleichende Versicherheitlichung deutscher Entwicklungspolitik. In: Peripherie Nr. 122/123, S. 209-235.
  • Buzan, Barry/Wæver, Ole/de Wilde, Jaap (1998): Security. A New Framework for Analysis, Boulder (Colorado).
  • Conze, Eckart (2012): Securitization. Gegenwartsdiagnose oder historischer Analysesatz? In: Geschichte und Gesellschaft, 38. Jahrgang, Heft 3, S. 453-467.
  • Daase, Christopher (2012a): Die Historisierung der Sicherheit. Anmerkungen zur historischen Sicherheitsforschung aus politikwissenschaftlicher Sicht. In: Geschichte und Gesellschaft, 38. Jahrgang, Heft 3, S. 387-405.
  • Daase, Christopher(2012b): Sicherheitskultur als interdisziplinäres Forschungsprogramm. In: Daase et al. (2012), S. 23-44.
  • Daase, Christopher/Engert, Stefan/Junk, Julian (Hrsg.) (2013): Verunsicherte Gesellschaft – Überforderter Staat. Zum Wandel der Sicherheitskultur, Frankfurt am Main.
  • Daase, Christopher/Offermann, Philipp/Rauer, Valentin (Hrsg.) (2012): Sicherheitskultur. Soziale und politische Praktiken der Gefahrenabwehr, Frankfurt am Main.
  • Debiel, Tobias/Wertes, Sascha (2013): Menschliche Sicherheit: Fallstricke eines wirkungsmächtigen Konzepts. In: Daase et al. (2013), S. 319-336.
  • Diez, Thomas (2008): Die Konflikttheorie postmoderner Theorien internationaler Beziehungen. In: Bonacker, Thorsten (Hrsg.): Sozialwissenschaftliche Konflikttheorien. Eine Einführung, 4. Aufl., Wiesbaden, S. 187-204.
  • Engert, Stefan (2013): Gib Versicherheitlichung keine Chance: Der frühe AIDS-Diskurs in den demokratischen Strukturen der BRD. In: Daase et al. (2013), S. 187-209.
  • Frevel, Bernhard/Schulze, Verena (2012): Kooperative Sicherheitspolitik – Safety and Security Governance in Zeiten sich wandelnder Sicherheitskultur. In: Daase et al. (2012), S. 205-225.
  • Fuchs, Walter/Kretschmann, Andrea (2007): Legitimationstechniken, Sicherheitspraktiken: Von der Normalität des Staatsverbrechens. Eine erkenntnistheoretische Diskussion am Beispiel des Falles Murat Kurnaz. In: Kriminologisches Journal, 39. Jahrgang, Heft 4, S. 260-277.
  • Gerhold, Lars (2012): Risikobewusstsein: Sicherheit als Konstrukt gesellschaftlicher Wahrnehmung. In: Daase et al. (2012), S. 341-356.
  • Gusy, Christoph (2010): Sicherheitskultur – Sicherheitspolitik – Sicherheitsrecht. In: Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft, Jahrgang 93, Heft 2, S. 111-128.
  • Hagemann, Jonas (2010): Räume der Unsicherheit: Konstruktion, Emanzipation und Exklusion durch Sicherheitspolitik. In: Geographica Helvetia, Jahrgang 65, Heft 3, S. 172-180.
  • Hummelsheim, Dina/Oberwittler, Dietrich/Pritsch, Julian (2012): Subjektive Unsicherheit. Der Einfluss nationaler Wohlfahrtspolitiken auf kriminalitätsbezogene Unsicherheitsgefühle und interpersonales Vertrauen. In: Daase et al. (2012), S. 301-324.
  • Kink, Markus (2013): Der Staat als Sicherheitsgarant – Sicherheit als Staatsgarant. Für einen verantwortungsvollen und aufgeklärten Sicherheitsdiskurs im Zeitalter nach 9/11. In: Ders./Ziegler, Janine (Hrsg.): Staatsansichten – Staatsvisionen. Ein politik- und kulturwissenschaftlicher Querschnitt, Münster, S. 129-160.
  • Masala, Carlo (2012): Innere Sicherheit im europäischen Vergleich: Die Perspektive der Europäischen Union. Eine Forschungsagenda. In: Würtenberger, Thomas/Gusy, Christoph/Lange, Hans-Jürgen (Hrsg.): Innere Sicherheit im europäischen Vergleich: Sicherheitsdenken, Sicherheitskonzepte und Sicherheitsarchitektur im Wandel. Zivile Sicherheit, Band 1, Berlin, S. 57-67.
  • Pepe, Jacopo Maria (2010): Die Gasversorgung Europas. Das Dreieck EU – Russland –Ukraine zwischen Geopolitik, Geoökonomie und Securitization, Potsdam.
  • Singelnstein, Tobias/Stolle, Peer (2012): Die Sicherheitsgesellschaft: Soziale Kontrolle im 21. Jahrhundert, 3. Aufl., Wiesbaden.
  • Wæver, Ole (1995): Securitization and Desecuritization. In: Lipschutz, Ronnie D. (Hrsg.): On security, New York, S. 46-86.
  • Wæver, Ole (2011): Politics, security, theory. In: Security Dialogue, Vol. 42, No. 4-5, S. 465-480.
  • Williams, Michael C. (2003): Words, Images, Enemies: Securitization an International Politics. In: International Studies Quarterly, Vol. 47, Issue 4, S. 511-531.
  • Zurawski, Nils (2011): Die praktische Dimension von Überwachung, Kontrolle und Überprüfung. In: Ders. (Hrsg.): Überwachungspraxen – Praktiken der Überwachung. Analysen zum Verhältnis von Alltag, Technik und Kontrolle, Berlin, S. 7-17.
  • Zurawski, Nils (Hrsg.) (2007): Surveillance Studies. Perspektiven eines Forschungsfeldes, Opladen/Farmington Hills.

Weblinks