Urbanisierung: Unterschied zwischen den Versionen

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Auch in der [[Soziologie]] war damals der Prozess der Urbanisierung im Zusammenhang mit abweichendem Verhalten bereits ein klassisches Thema.
Auch in der [[Soziologie]] war damals der Prozess der Urbanisierung im Zusammenhang mit abweichendem Verhalten bereits ein klassisches Thema.


Aus der natürlichen Umwelt hatte sich die technische bzw. städtische Umwelt entwickelt. In der so entstandenen (Groß-)Stadt fand im 19. und 20. Jh. durch das neue Produktionssystem und den technischen Fortschritt eine soziale Umwälzung statt. Aus dieser neuen Gesellschaftsform resultierten Konfliktsituationen, durch die wiederum die [[Kriminalität]]srate anstieg. Dies sei anhand der damaligen [[Kriminalstatistik]] nachvollziehbar gewesen.
Aus der natürlichen Umwelt hatte sich die technische bzw. städtische Umwelt entwickelt. In der so entstandenen (Groß-)Stadt fand im 19. und 20. Jh. durch das neue Produktionssystem und den technischen Fortschritt eine soziale Umwälzung statt. Aus dieser neuen Gesellschaftsform resultierten Konfliktsituationen, durch die wiederum die Kriminalitätsrate anstieg. Dies sei anhand der damaligen [[Kriminalstatistik]] nachvollziehbar gewesen.


Für die überdurchschnittlich hohe [[Kriminalität]] wurden die allgemeinen Lebensbedingungen in den Städten verantwortlich gemacht. Die Anonymität des urbanen Lebens, die damit verbundene geringere soziale Kontrolle und die Möglichkeit, nach einer Straftat „abtauchen“ zu können, machte die Großstadt aus krimineller Sicht attraktiv (im Sinne von „Stadtluft macht frei“). Dazu zählte auch, dass Kontakte zu kriminellen Gleichgesinnten leichter geknüpft werden konnten und sich generell mehr Möglichkeiten boten, Verbrechen zu begehen.
Für die überdurchschnittlich hohe [[Kriminalität]] wurden die allgemeinen Lebensbedingungen in den Städten verantwortlich gemacht. Die Anonymität des urbanen [[Leben]]s, die damit verbundene geringere soziale [[Kontrolle]] und die Möglichkeit, nach einer Straftat „abtauchen“ zu können, machte die Großstadt aus krimineller Sicht attraktiv (im Sinne von „Stadtluft macht frei“). Dazu zählte auch, dass Kontakte zu kriminellen Gleichgesinnten leichter geknüpft werden konnten und sich generell mehr Möglichkeiten boten, [[Verbrechen]] zu begehen.


Das städtische Leben erschien den meisten Kriminologen daher als ''[[Kriminalität]]sbegünstigendes'' Milieu und wurde nach Ansicht einiger soziologisch orientierter Kriminologen erst unter den Bedingungen der Industrialisierung und der Binnenwanderung zu einem ''[[Kriminalität]]sverursachenden'' Milieu.  
Das städtische [[Leben]] erschien den meisten Kriminologen daher als ''kriminalitätsbegünstigendes'' [[Milieu]] und wurde nach Ansicht einiger soziologisch orientierter Kriminologen erst unter den Bedingungen der Industrialisierung und der Binnenwanderung zu einem ''kriminalitätsverursachenden'' [[Milieu]].  
Von den sozialen Missständen der städtischen und insbesondere der großstädtischen Lebensbedingungen waren überwiegend die sozialen Unterschichten betroffen. Diese Missstände behinderten die moralische Entwicklung des einzelnen und förderten auf vielfältige Weise deviantes Verhalten.
Von den sozialen Missständen der städtischen und insbesondere der großstädtischen Lebensbedingungen waren überwiegend die sozialen Unterschichten betroffen. Diese Missstände behinderten die moralische Entwicklung des einzelnen und förderten auf vielfältige Weise deviantes Verhalten.


Die städtische Lebensform besteht aus soziologischer Sicht aus drei Ebenen - der Ebene der Gesellschaft, der Kultur und der Persönlichkeit. Davon ausgehend kann die städtische Umwelt als ein wichtiger Faktor der sozialen Nichtanpassung angesehen werden, deren Umfang durch den Begriff der Anomie gemessen werden kann. Je differenzierter also eine Gesellschaft und je heterogener eine Kultur ist, desto häufiger treten Spannungen und Konflikte auf und desto mehr sind soziale Beziehungen durch Anomie gekennzeichnet.  
Die städtische Lebensform besteht aus soziologischer Sicht aus drei Ebenen - der Ebene der Gesellschaft, der [[Kultur]] und der Persönlichkeit. Davon ausgehend kann die städtische Umwelt als ein wichtiger Faktor der sozialen Nichtanpassung angesehen werden, deren Umfang durch den Begriff der [[Anomie]] gemessen werden kann. Je differenzierter also eine Gesellschaft und je heterogener eine [[Kultur]] ist, desto häufiger treten Spannungen und Konflikte auf und desto mehr sind soziale Beziehungen durch [[Anomie]] gekennzeichnet.  
Urbanität spielt daher in verschiedenen [[Kriminalität]]stheorien eine Rolle, z.B. in der [[Anomietheorie]] von Durkheim, der Vereinigungstheorie von Liszt und bei dem Konzept der sozialen Desorganisation der Chicago School.  
Urbanität spielt daher in verschiedenen [[Kriminalitätstheorien]] eine Rolle, z.B. in der [[Anomietheorie]] von Durkheim, der Vereinigungstheorie von Liszt und bei dem Konzept der sozialen Desorganisation der Chicago School.  
Wie beschrieben, verringerte sich der Gegensatz zwischen Stadt und Land im Laufe der Jahre im Bereich dieser drei Ebenen stetig. Dazu proportional war auch das Interesse der Wissenschaft am Thema „Urbanisierung“ - immerhin ein Hauptthema der amerikanischen [[Soziologie]] der 20er und 30er Jahren des 20. Jh., - bereits in den 60er Jahren rapide gesunken. Die problematische Parallele zwischen Verstädterung und sozialkulturellen Konflikten, die zu kriminellem Verhalten führen können, existiert jedoch aktuell noch in den Entwicklungsländern.
Wie beschrieben, verringerte sich der Gegensatz zwischen Stadt und Land im Laufe der Jahre im Bereich dieser drei Ebenen stetig. Dazu proportional war auch das Interesse der Wissenschaft am Thema „Urbanisierung“ - immerhin ein Hauptthema der amerikanischen [[Soziologie]] der 20er und 30er Jahren des 20. Jh., - bereits in den 60er Jahren rapide gesunken. Die problematische Parallele zwischen Verstädterung und sozialkulturellen Konflikten, die zu kriminellem Verhalten führen können, existiert jedoch aktuell noch in den Entwicklungsländern.


In den Industrieländern wird seit Jahren der Trend zur Exurbanisierung beobachtet, d.h. dass immer mehr Besserverdienende und andere sozial stabile Gruppen mit sicherem Einkommen aus der Stadt wegziehen und zur Arbeit pendeln. Infolge der u.a. verringerten sozialen Mischung im Quartier entwickeln sich weitere soziale Problemlagen und Brennpunkte.
In den Industrieländern wird seit Jahren der Trend zur Exurbanisierung beobachtet, d.h. dass immer mehr Besserverdienende und andere sozial stabile Gruppen mit sicherem Einkommen aus der Stadt wegziehen und zur Arbeit pendeln. Infolge der u.a. verringerten sozialen Mischung im Quartier entwickeln sich weitere soziale Problemlagen und Brennpunkte.


Dass der Urbanisierungsprozess nicht nur in der Kriminologie eine wichtige Stellung einnahm, sondern auch die Geschichte der Polizei wesentlich beeinflusste, zeigt folgendes Zitat: „Because the history of the police is so much part of the history of the city, that the history of the city provides the first and most dominant framework within which to analyse the police.” (Monkkonen, 1982)
Dass der Urbanisierungsprozess nicht nur in der [[Kriminologie]] eine wichtige Stellung einnahm, sondern auch die Geschichte der [[Polizei]] wesentlich beeinflusste, zeigt folgendes Zitat: „Because the history of the police is so much part of the history of the city, that the history of the city provides the first and most dominant framework within which to analyse the police.” (Monkkonen, 1982)


===Jugend[[Kriminalität]]===
===Jugendkriminalität===
Die verminderte soziale Kontrolle wirkt sich insbesondere auf den Bereich der Jugend[[Kriminalität]] aus. Hier wird angenommen, dass die Urbanisierung und die Anonymität der modernen Gesellschaft die Verhaltenskontrolle von Jugendlichen durch herkömmliche informelle Kontroll- und Sanktionsmechanismen (Familie, Nachbarschaft, Gemeinde) eingeschränkt, z.T. aufgehoben und auf die justizförmig formelle und somit jugendstrafrechtliche Sozialkontrolle abgedrängt hat.  
Die verminderte soziale [[Kontrolle]] wirkt sich insbesondere auf den Bereich der [[Jugendkriminalität]] aus. Hier wird angenommen, dass die Urbanisierung und die Anonymität der modernen Gesellschaft die Verhaltenskontrolle von Jugendlichen durch herkömmliche informelle Kontroll- und Sanktionsmechanismen (Familie, Nachbarschaft, Gemeinde) eingeschränkt, z.T. aufgehoben und auf die justizförmig formelle und somit jugendstrafrechtliche Sozialkontrolle abgedrängt hat.  


Der technische Fortschritt als eine Ausgangsform der Urbanisierung habe dem Einzelnen schneller Freiheiten verschafft, als sich Verhaltensnormen bilden und Werte genau bestimmt werden konnten. Der vermehrte Missbrauch dieser Freiheiten sei in Großstädten z.B. durch die hohe Jugend[[Kriminalität]]srate erkennbar.
Der technische Fortschritt als eine Ausgangsform der Urbanisierung habe dem Einzelnen schneller Freiheiten verschafft, als sich Verhaltensnormen bilden und Werte genau bestimmt werden konnten. Der vermehrte Missbrauch dieser Freiheiten sei in Großstädten z.B. durch die hohe Jugendkriminalitätsrate erkennbar.


===Kritische Betrachtungen===
===Kritische Betrachtungen===
Der Annahme des [[Kriminalität]]sanstiegs infolge der Urbanisierung steht entgegen, dass die Verbrechensrate in Europa in den vergangenen zwei Jahrhunderten relativ stabil geblieben ist. In einigen Zeiten des raschen ökonomischen Wachstums, insbesondere zwischen 1850 und 1930 -d.h. einschließlich der eigentlichen Urbanisierungsphase- hätte sich die [[Kriminalität]]srate sogar verringert.
Der Annahme des Kriminalitätsanstiegs infolge der Urbanisierung steht entgegen, dass die Verbrechensrate in Europa in den vergangenen zwei Jahrhunderten relativ stabil geblieben ist. In einigen Zeiten des raschen ökonomischen Wachstums, insbesondere zwischen 1850 und 1930 -d.h. einschließlich der eigentlichen Urbanisierungsphase- hätte sich die Kriminalitätsrate sogar verringert.


Auch der Kausalzusammenhang zwischen Urbanisierung und [[Kriminalität]] wird von einigen Wissenschaftlern als widerlegt angesehen. Die Annahme, dass mit der Stadtgröße das Ausmaß von Anomie, sozialer Desorganisation, Anonymität und Vereinsamung zunehme und dadurch die Bedingungen für steigende [[Kriminalität]] gegeben seien, würde nicht der Realität entsprechen. Diese Betrachtung müsse immer im Rahmen einer dynamischen Perspektive des sozialen Wandels erfolgen.
Auch der Kausalzusammenhang zwischen Urbanisierung und [[Kriminalität]] wird von einigen Wissenschaftlern als widerlegt angesehen. Die Annahme, dass mit der Stadtgröße das Ausmaß von [[Anomie]], sozialer Desorganisation, Anonymität und Vereinsamung zunehme und dadurch die Bedingungen für steigende [[Kriminalität]] gegeben seien, würde nicht der Realität entsprechen. Diese Betrachtung müsse immer im Rahmen einer dynamischen Perspektive des sozialen Wandels erfolgen.


Ferner wird das Zusammenspiel von Großstadt und [[Kriminalität]] kritisch hinterfragt - das Ausmaß der Wirkungen sei nicht geklärt, ebenso wie die Frage, ob die Stadt Kriminelle anzieht oder erzeugt.
Ferner wird das Zusammenspiel von Großstadt und [[Kriminalität]] kritisch hinterfragt - das Ausmaß der Wirkungen sei nicht geklärt, ebenso wie die Frage, ob die Stadt Kriminelle anzieht oder erzeugt.
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==Weiterführende Themen==
==Weiterführende Themen==
* Großstadtdelinquenz
* Großstadtdelinquenz
* Kriminal- / [[Kriminalität]]sgeographie
* Kriminal- / Kriminalitätsgeographie
* Kriminalökologie
* Kriminalökologie
* Kriminalprävention im Städtebau
* [[Kriminalprävention]] im Städtebau
* Urbanistik
* Urbanistik


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* Monkkonen, Eric, H. (1982), ''From Cop History to Social History'', Journal of Social History 15, S. 577
* Monkkonen, Eric, H. (1982), ''From Cop History to Social History'', Journal of Social History 15, S. 577
* Opaschowski, Horst W. (2005), ''Besser leben, schöner wohnen? Leben in der Stadt der Zukunft'', Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt für Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn , S. 1-8
* Opaschowski, Horst W. (2005), ''Besser leben, schöner wohnen? Leben in der Stadt der Zukunft'', Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt für Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn , S. 1-8
* Roth, Andreas (1997), ''[[Kriminalität]]sbekämpfung in deutschen Großstädten: 1850-1914'', Erich Schmidt Verlag Berlin, S. 20-27
* Roth, Andreas (1997), ''Kriminalitätsbekämpfung in deutschen Großstädten: 1850-1914'', Erich Schmidt Verlag Berlin, S. 20-27
* Szabo, Deniz zu Urbanisierung und [[Kriminalität]] in, ''Sack, Fritz; König, Rene (1968): Kriminal[[Soziologie]]'', Akademische Verlagsgesellschaft Frankfurt a.M., S. 105-120
* Szabo, Deniz zu Urbanisierung und Kriminalität in, ''Sack, Fritz; König, Rene (1968): Kriminalsoziologie'', Akademische Verlagsgesellschaft Frankfurt a.M., S. 105-120
* Teuteberg, Hans J. (1983), ''Urbanisierung im 19. und 20. Jahrhundert: historische und geographische Aspekte'', Böhlau, S. 28
* Teuteberg, Hans J. (1983), ''Urbanisierung im 19. und 20. Jahrhundert: historische und geographische Aspekte'', Böhlau, S. 28
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