Terrorismus und Widerstand: Erklärungen, Scheinerklärungen und praktische Probleme 23.6.12: Unterschied zwischen den Versionen

keine Bearbeitungszusammenfassung
 
(33 dazwischenliegende Versionen desselben Benutzers werden nicht angezeigt)
Zeile 1: Zeile 1:
Von der Kriminologie wird heutzutage erwartet, dass sie einen Beitrag zur Bekämpfung des von manchen so genannten Neuen Terrorismus leiste. Ob "neu" oder nicht: gemeint ist damit auf jeden Fall der aus dem islamischen Kulturkreis stammende Terrorismus der Selbstmordattentate und der Angriffe dschihadistischer Milizen in und aus verschiedenen Weltgegenden. Die Kriminologie soll nicht - wie die Kriminalistik - den Sprengstoff analysieren und Spurensuche betreiben, sie könnte aber, so die Hoffnung, etwas mehr über die Ursachen und Erscheinungsformen, die mittel- und langfristigen Entwicklungstendenzen und die Bedingungen und Strategien sagen, unter denen sich dieses Problem eindämmen ließe.  
*1. Tod der Kritischen Kriminologie (Ines de Castro)
*2. Tui-Roman
Dass die Kriminologie diese Aufgabe nicht zurückweist, erscheint selbstverständlich. Erstens gehören Tötungsdelikte zum Kernbereich der Kriminalität, zweitens gibt es hier öffentliche Aufmerksamkeit und finanzielle Möglichkeiten für das Überleben der Disziplin und ihrer Absolventen - und drittens dürfte und sollte auch das Leiden der Opfer ein Grund sein, sich dieser Aufgabe nicht zu verschließen.
*3. Scheinerklärungen
*4. Wunschliste
*4.1 Kritische Kriminologie: aktive Fuktion, fragend; definitional stop, John MacArthur 1993, Die Schlacht der Lügen (Brutkastenlüge); Tonking; Perspektivenumkehr: westlicher Terrorismus; Lügen, Böses; Bewertung: System vs. Individuum; praktische Probleme: suicide bombers; Robert Pape, Chicago.


Die  berühmte Frage "Whose Side Are We On?" wird im Falle des Terrorismus einmal - erleichternder Weise - nicht als Ausdruck eines Dilemmas empfunden, sondern scheint guten Gewissens eindeutig beantwortbar. Warum sollten wir uns denn schämen für unsere Parteinahme für die Opfer, für den freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat, für den westlichen Lebensstil mit der Meinungsfreiheit, Menschenwürde und all den persönlichen Entfaltungsmöglichkeiten im säkularen Staat? In gewissem Sinne verhilft uns der Terrorismus sogar dazu, die oftmals als selbstverständlich vorausgesetzten Freiheiten wieder zu empfinden und würdigen zu können.


Auffällig ist allerdings, dass der Streit zwischen traditioneller und kritischer, zwischen ätiologischer und etikettierungstheoretischer und zwischen herrschaftsstabilisierender und herrschaftskritischer Kriminologie bei diesem Thema gar keine Rolle mehr zu spielen scheint. Das ist an sich nicht schlimm und auf das Ritual des vorhersehbaren Schlagabtausches in kriminologischen Diskussionen kann man ja auch mal ganz gut verzichten.


Es könnte aber auch sein, dass hier nicht nur auf einen Sturm im Wasserglas verzichtet wird, sondern dass etwas geschehen ist, was Anlass zu Sorge geben könnte. Ich meine - und dieser Fährte will ich im Folgenden nachgehen - dass die kritische Kriminologie inzwischen nicht mehr existiert, und dass der Terrorismus ein Nagel zu ihrem Sarg war. Die Ruhe zwischen den Lagern ist eine Friedhofsruhe.  
== Vermutung 1: Tod der kritischen Kriminologie ==
Von der Kriminologie wird erwartet, dass sie einen Beitrag zur Bekämpfung des Terrorismus leistet. Die Kriminologie versucht das auch, indem sie sich zum Beispiel mit Typologien, Karrieren, Präventions- und Bekämpfungsmöglichkeiten auseinandersetzt. Das erscheint aus drei Gründen selbstverständlich: erstens sind terroristische Akte Straftaten, zweitens gibt es Forschungsgelder und drittens ist auch das Leid der Opfer ein Grund, sich der Terrorismus-Forschung nicht zu verschließen.


Ich möchte das in Thesenform begründen, und zwar folgendermaßen:  
Die  berühmte Frage von Howard S. Becker "Whose Side Are We On?" - auf der Seite der Abweichler oder der staatlichen Institutionen - scheint sich nicht zu stellen. Es gibt doch eigentlich nur die Parteinahme für die konkreten Opfer und für die Angehörigen und für die Opfer im weiteren Sinne: den westlichen Lebensstil, die Meinungsfreiheit, die Menschenwürde, die Gleichstellung der Geschlechter. In gewissem Sinne verhilft uns der Terrorismus sogar dazu, die oftmals als selbstverständlich vorausgesetzten Freiheiten wieder zu empfinden und würdigen zu können. Fast nebenbei fällt dabei auf: sogar der alte Streit zwischen kritischer und traditioneller Kriminologie hat heutzutage seine Brisanz verloren.


*Wissenschaft macht für die Mächtigen vielleicht auch dann Sinn, wenn sie nur als Deckmantel für den Diskurs und die Dispositive der Macht fungiert. Man hat eine Entscheidung getorffen und will sie durchsetzen. Das geht am besten, wenn man sie mit "wissenschaftlichen Erkenntnissen" begründet und damit unangreifbar macht. Das ist die passive Funktion von Wissenschaft. Die eigentliche und aktive Funktion der Wissenschaft besteht jedoch darin, richtige Erkenntnis zu produzieren, also Phänomene korrekt zu beschreiben und bislang noch nicht bekannte Zusammenhänge aufzudecken - und zwar auch dann, wenn es sich um unbequeme Dinge handelt. Unbequem für die Geldgeber, unbequem für die Gesellschaft, unbequem für die Wissenschaftler selbst. Voraussetzung dafür ist die Freiheit der Wissenschaft: die Freiheit der Sammlung von Informationen, der Verarbeitung und der Veröffentlichung von Informationen. Diese Freiheit gibt es - in reinster Form - nirgendwo auf der Welt. Sie ist durch Verfassungsartikel, durch einfache Gesetze, durch die Verweigerung von Aufmerksamkeit und Forschungsförderung, durch Angst vor informellen Sanktionen, Exklusionen und Stigmatisierungen, durch verinnerlichte Ideologeme und Haltungen eingeschränkt. Manches davon lässt sich umgehen, manches abgewöhnen, aber so wie es in jeder Religion nur wenige Heilige gibt, so gibt es auch in der Wissenschaft nur wenige, deren Haltung sie als Vorbild für alle empfehlen könnte. Der langen Rede kurzer Sinn: um eine aktive Funktion erfüllen zu können, müssten Kriminologinnen fragen und Antworten erhalten oder arbeiten können. Es sind aber nicht alle Fragen, die sich aufdrängen, auch möglich.  
Es steht allerdings bei genauerem Hinsehen zu vermuten: Die Friedlichkeit des Verhältnisses zwischen kritischer und traditioneller Kriminologie ist nur der schöne Schein. In Wirklichkeit haben sich die beiden nicht vertragen, sondern die eine ist mausetot. Der Anti-Terrorismus-Konsens war der letzte Nagel zu ihrem Sarg. Die Ruhe zwischen den Lagern ist eine Friedhofsruhe. Ines de Castro (Dom Pedro.)


== Vermutung 2: Dominanz von Scheinerklärungen ==
Der Tod zeigt sich an der Dominanz von Scheinerklärungen.
Erklärungen = Rückbezug von Unbekanntem auf Bekanntes: Verstehen und Soziales.
*Ohne Verstehen entkernt. Karriereansatz: nicht bei der Option für den Terrorismus, sondern in der Kindheit fängt die Karriere an. Im Broken Home. Entpolitisierung = nicht-ernstnehmen. Und wenn nachvollzogen wird, dann bis zu einer Grenze: guckt mal, die Gruppe. Die technologische Borniertheit. Nicht: das ist wie überall. Sondern: sieh mal einer an.
*Ohne Rückbezug auf Soziales Mythos. "Das Böse".
*Teleologische Diagnose: nur dem Schein nach Analyse des Phänomens, gefolgt von Schlussfolgerungen über Handlungsoptionen, während in Wirklichkeit von hinten nach vorne gedacht wird. Die erwünschten Handlungen stehen fest, die Begründung wird in Form einer Deskription des Objekts geliefert. Beispiel: man will bekämpfen, nicht verhandeln. Also konstruiert man sich einen Terroristen, mit dem man nicht verhandeln kann, weil er in Wirklichkeit gar keine politischen Ziele hat, sondern nur zerstören will. Anthropologie des Terror-Kriegers.
== Praktische Probleme: Wiederbelebung der kritischen Kriminologie ==
Kritische Kriminologie: kritisch gegenüber den Herrschaftsverhältnissen in Staat und Gesellschaft, kritisch gegenüber der Wissenschaft (Subsumtion unter den Legitimationsdiskurs), kritisch gegenüber sich selbst (Fragen bearbeiten, die für diejenigen unbequem sind, die Kriminologie betreiben).
=== Wunschzettel ===
#Aktive Kriminologie. Kritische Kriminologie heißt in erster Linie: aktive Kriminologie. Aktiv nicht in dem Sinne einer aktiven Funktion '''in''' der Wissenschaft, sondern '''der''' Wissenschaft. Wissenschaft, die zu unbequemen Ergebnissen kommt - unbequem für die Gesellschaft, für die Mächtigen und für die Wissenschaftler selbst - die aber neue Zusammenhänge entdeckt und damit neue Denk-Räume und letztlich Handlungsräume eröffnet. Eine solche aktive Wissenschaft gibt es im Bereich der Kriminologie des Terrorismus nicht. Die traditionelle Kriminologie erfüllt im Wesentlichen passive Funktionen. Sie schafft keine Erkenntnis, sondern sie legitimiert Entscheidungen und verschleiert Machtinteressen, indem sie sie als wissenschaftlich geprüfte Sachzwänge oder objektive Sachverhalte darstellt. Aktive Wissenschaft ist eine fragende Wissenschaft. Sie stelle alle Arten von Fragen, auch unbequeme Fragen und sie freut sich über unbequeme Ergebnisse, weil sie darin ein Anzeichen sieht, dass sie dem Gedankengefängnis der hegemonialen Ideologie entkommen sein könnte. Voraussetzung dafür ist die Freiheit der Wissenschaft: die Freiheit der Sammlung von Informationen, der Verarbeitung und der Veröffentlichung von Informationen. Diese Freiheit gibt es - in reinster Form - nirgendwo auf der Welt. Sie ist durch Verfassungsartikel, durch einfache Gesetze, durch die Verweigerung von Aufmerksamkeit und Forschungsförderung, durch Angst vor informellen Sanktionen, Exklusionen und Stigmatisierungen, durch verinnerlichte Ideologeme und Haltungen eingeschränkt. Manches davon lässt sich umgehen, manches abgewöhnen, aber so wie es in jeder Religion nur wenige Heilige gibt, so gibt es auch in der Wissenschaft nur wenige, deren Haltung sie als Vorbild für alle empfehlen könnte. Der langen Rede kurzer Sinn: um eine aktive Funktion erfüllen zu können, müssten Kriminologinnen zunächst einmal alle möglichen Fragen stellen können, natürlich auch ungewöhnliche, ohne die sich ja nie etwas Neues erkennen ließe. Das erscheint trivial, ist es aber nicht. Denn zum Fragen gehören Begriffe, die Fragen erlauben, und die nicht Fragen verbieten. Die Kriminologie ist, gemessen an dem Niveau, das sie bräuchte, um eine aktive Rolle zu spielen, schon so tief in den Sumpf des politisch motivierten Legitimationsdiskurses gesunken, dass ihr nicht einmal kluge Fragen mehr möglich sind. Ich möchte das am Beispiel potentieller Fragen und der Schwierigkeiten darstellen, mit denen die Möglichkeit, diese Fragen überhaupt zu stellen, zu kämpfen haben. Eine potentielle Frage betrifft ein Gedankenexperiment. Was wäre eigentlich mit einem Forschungsprojekt, das der Frage nachginge, inwiefern eine Steigerung der Effizienz der Terrorismus-Bekämpfung durch den Einsatz staatlicher Terroristen-Gruppen erzielt werden könnte? Wäre es nützlich, würde es in the long run sogar viele Menschenleben retten können, wenn man dazu überginge, den Gegner sozusagen mit seinen eigenen Mitteln zu schlagen? Dieser Frage weicht die herrschende Meinung aus, und sie kann es auch. Denn für die Staatskriminologie ist die Frage unsinnig und deshalb nicht zulässig. Sie enthält die Voraussetzung, dass auch der Staat Terrorismus begehen kann. Das ist aber definitorisch unmöglich, denn Terrorismus ist nach herrschender Meinung nur das, was nichtstaatliche Gruppen tun. Also kann es schon rein begrifflich keine Situation geben, wie die, nach der gefragt wurde. Die herrschende Meinung geht ja sogar noch weiter: in Gestalt von Walter Laqueur erklärt sie, man habe keine Definition und man brauche auch keine Definition. Offenbar könne man ja Terrorismus auch ohne Definition erforschen und sogar bekämpfen. Das ist nichts anderes als ein Trick, um einem Argument auszuweichen. Herbert L.A. Hart nennt das eine Definitionssperre oder einen ''definitional stop''. - Was hat das mit kritischer Kriminologie zu tun? Eine Menge. Denn was bedeutet überhaupt kritische Kriminologie? Kritische Kriminologie bedeutet: wissenschaftskritisch, gesellschaftskritisch, selbstkritisch. Bedeutet auch: in der Lage sein, unbequeme Wahrheiten auszuhalten und produktiv zu verarbeiten. Bedeutet schließlich: ideologiekritisch gegenüber der hegemonialen Ideologie und der hegemonialen Wissenschaft.
#Kriminologie ohne Definitionssperren, ohne Zufriedenheit mit der Begriffslosigkeit und ohne die Gemütlichkeit präjudizierender Definitionen. Damit zentrale Fragen nicht definitorisch oder subkutan vorentschieden und damit der offenen Diskussion entzogen werden können. Widerstand kann negativ zu beurteilen sein, Terrorismus positiv. Diskussion über Bewertung kann rational sein, sollte offen sein, nicht schon im Begriff selbst vor-entschieden (prä-judiziert). Gäbe es die kritische Kriminologie noch, dann könnte sich die Erkenntnis Bahn brechen, dass wir die Terroristen sind und dass die Terroristen sich im Widerstand befinden, ohne dass sie deswegen das Terrorist-Sein aufgeben müßten. Denn man kann Terrorist und Widerständler und man kann Führernation der freien Welt und zugleich auch Terrorist sein.
#Kriminologie ohne Othering. Definition der Situation des Subjekts als Ausgangspunkt, nicht zu Determinanten aufgewertete objektive Umstände. Das hat auch Folgen für Karriereansätze: kritische Kriminologie konstruiert nicht das Negativ-Besondere aus der frühkindlichen Erziehung, sondern die Freiheit des biographisch belasteten und bindungsgelockerten Subjekts zum Ausbruch aus dem Gehäuse der Hörigkeit gegenüber Konventionellem Handeln und Denken. Dadurch würde man auch einen Sinn für Tragik gewinnen. Kontrolltheorien und Bindungstheorien. 
#Kriminologie der heuristischen Perspektivenumkehr. Das "wir" von außen denken, vom "Anderen": probeweise mal uns selbst "othern". Was käme dabei heraus? Die Terroristen sind wir. Der Westen. Die ''Staatengemeinschaft'': Gemeinschaftsideologie vertuscht die hierarchischen Beziehungen: klare Machtverhältnisse mit Führernation und Gefolgschaftsnationen. Die "leader of the free world" sind die Terroristen. Die Terroristen sind die Widerständler. Mut zur Subsumtion. "Die revolutionärste Tat ist immer noch zu sagen was ist". Bearbeitung unbequemer Fragen und keine Vermeidung unbequemer Antworten.
# Kritik des abstrakten Denkens. Hegel. Hauptmerkmal. Differenzierter Blick auf das, was ist. Kritik der Metaphysik. Soziale Entstehung sozialer Tatsachen (das Böse).
# Kritik der teleologischen Ursachenkonstruktion. Von der erwünschten Folge aus wird die Ursachentheorie konstruiert. Man will nicht verhandeln, also sagt man: die Leute sind rationalen Argumenten nicht zugänglich, sie sind pathologische Gewalttäter, die man nur unschädlich machen kann.
# Kritik des Missbrauchs der Theorie als Waffe. Pathologisierung, Besonderung, Respektlosigkeit. Individuum, das Entscheidungen trifft. Und das mehr oder weniger frei ist, sich für die Devianz zu entscheiden. Kontrolltheorien.
# Kritik des Othering und des Essentialismus (Anthropologie des Terrorkriegers; Revolution der Gestörten). Es werden Besonderheiten herausgearbeitet, die keine sind, und die meistens auch auf der anderen Seite der Doppelinstitution zu finden sind. Keine Überzeugung, nur noch Gruppensolidarität; Lust am Töten; Technik im Vordergrund; Ideologische, organisatorische Anführer, Followers; Analogie zu Dostojewski.
# Kritik der Unbegreifbarkeitsrhetorik. Lässt sich mit tu quoque, tit for tat, Reziprozität, instrumenteller Grausamkeit erklären. Pinker: phylogenetische Bedeutung des Fremden für die unprovozierte Aggression.
# Kritik der Wohlanständigkeit (bienséance). Widerstandshelden und Terroristen: Gemeinsamkeiten, Unterschiede; Vergleich ist anstößig, wäre aber erkenntnisträchtig. Durkheim.
# Kritik der Immanenz. Man ersinnt nur technische Prävention, man könnte aber erstens die kriminogene Wirkung der Politik untersuchen - was Aktion (Angriffskrieg) angeht, was Reaktion (Widerstand der Terroristen) angeht, und zweitens auch auf der Ebene Untersuchungen anstellen über mögliche Präventionsstrategien. Die beste Prävention gegen Terroranschläge in Afghanistan ist vielleicht der Abzug der Truppen und die Einstellung von Drohnenangriffen.
#Kritik der Dekontextualisierung. Terrorismus ist Widerstand und ist immer bezogen auf das, wogegen der Widerstand geleistet wird - und reagiert immer auf die Bekämpfung, so wie die Bekämpfung auf den Terrorismus reagiert. Mit anderen Worten: das eine ist das andere: "Context is all" (Margaret Atwood). Doppelinstitution. Wie Zwillingstürme.
== Definitionssperren ==
"Wie Lassalle sagte, ist und bleibt die revolutionärste Tat, immer 'das laut zu sagen, was ist'" (Rosa Luxemburg). Man kann aber nur sagen was ist, wenn man dafür Begriffe hat. Und für die Wissenschaft, die andere Zwecke verfolgt als die Politik, wäre zu ergänzen: wenn man Begriffe hat, mit denen man richtige Aussagen über bestimmte Phänomene und ihre Zusammenhänge machen kann. 
Über die Frage, ob Staaten in der Vergangenheit jemals terroristische Methoden angewandt haben, ob es nützlich oder erforderlich sein könnte, gegen nichtstaatlichen Terror vom Typus Al Qaida staatlichen Terror zu setzen, über all diese Fragen kann man aber nur sprechen, wenn man Terrorismus als Methode definiert und die Methode über die Handlungssequenzen und nicht vorab über die Eigenschaften von bestimmten Personen. Brian Jenkins. Das Beispiel der Vergewaltigung im brasilianischen Recht.
Wissenschaft ist auf klare Begriffe angewiesen, die Beschreibungen ohne Bewertungen ermöglichen. Nicht, weil es unwichtig ist, Bewertungen vorzunehmen, sondern weil Bewertungen angemessener vorgenommen werden können, wenn sie nicht mit Beschreibungen vermengt werden - und weil Beschreibungen besser sind, wenn sie von Bewertungen getrennt sind. Sonst verbaue ich mir mit der Definition eines Begriffs bereits den Weg zur unvoreingenommenen Erforschung. Gibt es edle Terroristen? Die Frage ist schon beantwortet, wenn ich per definition sage, dass Terroristen böse Menschen sind. Gibt es Staatsterrorismus? Die Frage ist schon negativ beantwortet, wenn ich Terrorismus als eine Methode von substaatlichen Akteuren gegen den Staat definiere. Ist Widerstand moralisch gerechtfertigt? Natürlich ist er das, wenn ich unter Widerstand eine moralisch gerechtfertigte Abwehr bedrohlicher Unterwerfungsforderungen verstehe. Eine Kriminologie, die sich nicht dem Newspeak und Newthink der Postmoderne unterwerfen will, tut gut daran, sich dem herrschenden Sprachgebrauch zu entziehen. Das kann man entweder tun, indem man die Begriffe des Terrorismus und des Widerstands boykottiert und sie gar nicht mehr benutzt. Oder dadurch, dass man diese Begriffe analytisch reinigt. Man entfernt alle bewertenden Aspekte. Und benutzt sie - ohne Präjudiz moralischer, ethischer oder rechtlicher Art - als Beschreibungen. Dann könnte man feststellen, dass der Staat V oder W terroristische Methoden anwendet, und dass die Gruppen X oder Y Widerstand leisten, und man hätte dann gar nichts darüber ausgesagt, ob V, W, X oder Y zu den Guten oder zu den Bösen zu rechnen wären, ob ihre Taten richtig oder falsch, unterstützenswert oder bekämpfenswert sind. Dann wäre es sagbar, dass Widerstandskämpfer lügen und morden, betrügen und foltern und den Medien Leichenberge zeigen, von Menschen, die sie selbst in eine Kirche gesperrt und verbrannt haben, vondenen sie aber vorgeben, dass es das Regime gewesen sei. Dann wäre Widerstand nicht automatisch gut und Repression durch ein Regime nicht automatisch schlecht. Man würde beschreiben. Ohne Bewertung oder Ableitung von Handlungsempfehlungen. Handlungsempfehlungen wären explizit konditioniert: wenn man A will, dann müßte man B tun. Aber mit den Nebenfolgen C rechnen. Wenn man C nicht will, könnte man D tun - aber mit den Nebenfolgen E rechnen. Das wäre Wissenschaft - und wissenschaftliche Politikberatung. Und Public Criminology. Davon ist aber nichts zu hören und zu sehen. Stattdessen produziert die Wissenschaft: Erklärungen, die sich als Scheinerklärungen erweisen und zur Konstruktion politischer Probleme mehr beitragen als zu deren Lösung. 
    
    
Niemand kann das Terrorismusproblem thematisieren, geschweige denn lösen, ohne darüber zu sprechen. Um darüber sprechen zu können, braucht man einen Begriff, der nicht schon alle Antworten vorweg bestimmt. Wir brauchen also eine nicht-präjudizierende Sprache. Wenn wir den Begriff des Terrorismus überhaupt weiter verwenden sollten, dann sollten wir ihn als Methode definieren und die Frage, wer terroristisch handelt und darum cum grano salis als Terrorist bezeichnet werden könnte, nicht von seiner Stellung in Staat und Gesellschaft, sondern davon abhängig machen, ob seine Handlungsweisen die Definitionskriterien erfüllen. Wie kann so eine Definition aussehen, die nicht alle Antworten vorwegnimmt? Nach der aristotelischen Methode genügen die Bestimmung von genus proximum et differentia specifica. Danach könnte man sagen: Terrorismus ist (1) eine Reihe von vorsätzlichen Akten direkter physischer Gewalt, die (2) punktuell und unvorhersehbar, aber systematisch (3) mit der Absicht psychischer Wirkung auf weit mehr Personen als nur die physisch getroffenen Opfer (4) im Rahmen einer politischen Strategie ausgeführt werden. (Die Vorteile dieser Definition für die Wissenschaft liegen ebenso auf der Hand wie ihre Nachteile für manipulative Interessen in Politik und Gesellschaft. Diese Definition ist frei von Definitionssperren: sie schließt keine Personengruppe per definitionem aus dem Bereich terroristischen Handelns aus und sie verhindert auch nicht Fragen nach der Existenz von Terrorismus avant la lettre oder nach der Existenz von Terrorismus seitens staatlicher Akteure. Vor allem aber erlaubt sie eine komparative Perspektive in historischer und systematischer Hinsicht und ermöglicht damit das, was Wissenschaft vor allem tun sollte und worin vor allem ihr Wert besteht: zu analysieren, zu vergleichen, verborgene Zusammenhänge aufzuzeigen und begründete Aussagen über hypothetische künftige Ziele und die für die Zielerreichung erforderlichen Mittel und die zu erwartenden Kosten und Nachteile zu erarbeiten).


die wahren Zusammenhänge könnte jedoch auch einen aktive politisch-ideologische MachtNatürlich sind wir auf der Seite des Rechts, der unschuldigen Opfer und der freiheitlich-demokratischen Gesellschaft mit all ihren Vorzügen. Diese Vorzüge des Pluralismus, der Gleichberechtigung, der persönlichen Entfaltungs- und Meinungsfreiheit, des säkularen Staates und , die gerade wegen des Terrorismus Vor allem funktioniert sie nicht nach moralischen Gesetzen, sondern teilweise aleatorisch und teilweise auf himmelschreiende Art ungerecht. Daher ja die religiöse Fiktion eines Himmels, in dem alles gerade gerückt wird und in dem Letzten die Ersten sein werden. Wäre schon hienieden alles gerecht, dann spräche nichts gegen eine unveränderte Aufstellung im Himmel wie auf Erden.
== Terrorismus als soziale Erscheinung ==
 
Zu den beliebtesten und reaktionärsten Scheinerklärungen gehört die Lokalisierung der Ursachen des Terrorismus in "dem Bösen". Damit wird eine soziale Tatsache zum Ausdruck nicht etwas sozialer Verhältnisse, sondern einer metaphysischen Einheit, die zu dem Zweck erfunden wurde, die sozialen Entstehungsbedingungen zu leugnen.
 
Der Bekämpfungsdiskurs liebt die abstrakte Figur des Bösen. Nicht der einzelne Akteur begeht in böser Absicht (ek pronoia) eine lang geplante (bouleusis) schlechte Tat. Sondern im Terrorismus zeigt das Böse sein Gesicht. Es ist das Böse wie in der Achse des Bösen. Mit dem Bösen, das ist die Botschaft, kann man nicht verhandeln, darf man nicht verhandeln. Das Böse muss man bekämpfen, wenn man nicht selber untergehen will. Glucksman.
Vor allem funktioniert sie nicht nach moralischen Gesetzen, sondern teilweise aleatorisch und teilweise auf himmelschreiende Art ungerecht. Daher ja die religiöse Fiktion eines Himmels, in dem alles gerade gerückt wird und in dem Letzten die Ersten sein werden. Wäre schon hienieden alles gerecht, dann spräche nichts gegen eine unveränderte Aufstellung im Himmel wie auf Erden.


Neben der Religion gibt es die schönen Künste. Auch dort dominiert das Verlangen nach erfolgreicher Flucht aus dem Jammertal der realen Verhältnisse. Je größer das Elend, je größer die Ungerechtigkeit, desto bedingungsloser die Sehnsucht nach und der Glaube an das Happy End. Auf dieses Bedürfnis antwortet die Kulturindustrie von Holly- bis Bollywood, nicht ausgenommen die Fernsehkrimis mit ihren sympathischen Kommissarinnen und Kommissaren und der Auflösung auch noch der dunkelsten Fälle. Immerhin: das Böse ist erkannt und verhaftet. (Die Problemfilme und Tragödien haben eine andere Funktion. Sie sind gerade wegen ihrer Nichterfüllung elementarer Errettungsbedürfnisse vor allem als Status-Konsumgüter zwecks Distinktionsgewinn gegenüber konkurrierenden Elitenanwärtern zu nutzen.)
Neben der Religion gibt es die schönen Künste. Auch dort dominiert das Verlangen nach erfolgreicher Flucht aus dem Jammertal der realen Verhältnisse. Je größer das Elend, je größer die Ungerechtigkeit, desto bedingungsloser die Sehnsucht nach und der Glaube an das Happy End. Auf dieses Bedürfnis antwortet die Kulturindustrie von Holly- bis Bollywood, nicht ausgenommen die Fernsehkrimis mit ihren sympathischen Kommissarinnen und Kommissaren und der Auflösung auch noch der dunkelsten Fälle. Immerhin: das Böse ist erkannt und verhaftet. (Die Problemfilme und Tragödien haben eine andere Funktion. Sie sind gerade wegen ihrer Nichterfüllung elementarer Errettungsbedürfnisse vor allem als Status-Konsumgüter zwecks Distinktionsgewinn gegenüber konkurrierenden Elitenanwärtern zu nutzen.)
Zeile 23: Zeile 64:
Zur Bewältigung des Gesellschaftswiderspruchs gehört die Sozialisation. Wo sie Lücken hat und wo es zu erheblichen Abweichungen von den sozialen Normen kommt, gibt es informelle Sanktionen, unter Umständen auch formelle. Zur Bewältigung des Herrschaftswiderspruchs gibt es die politische Sozialisation (Gemeinschaftskundeunterricht usw.) ebenso wie den Legitimationsdiskurs der Eliten und Institutionen. In primitiven Diktaturen ist der Legitimationsdiskurs als solcher leicht zu erkennen und zu verwerfen. Unter den Bedingungen hegemonialer Ideologien und ihrer Akzeptanz in den subalternen Klassen (Gramsci) gehören die Medien und die Sozial- und Geisteswissenschaften zwar eher mehr als weniger zu dem, was man zu Zeiten von Nikos Poulantzas und Louis Althusser umstandslos als die ideologischen Staatsapparate bezeichnete, doch finden sich angesichts des weitgehend perfektionierten Verblendungszusammenhangs kaum noch Dissidenten mit hinreichendem ideologiekritischen Werkzeug. So hat sich also an der Realität der ideologischen Staatsapparate wenig verändert und noch weniger verbessert, doch der Anschein der heilen Welt ist heute ungestörter denn je. Die politische und die gesellschaftliche Welt: ein Familienroman mit Zickenkriegen und Dallas-Intrigen. Wer abweicht - und sei es mit einem ''etiam omnes si, ego non'', der hört aus der Welt der Politik, wie wenig hilfreich das sei - und schon stimmen alle ein in den Chor der Verdammnis. Peter Sloterdijk, dem wir den Hinweis auf die Mutation des Politischen in die Hypno-Politik verdanken, meinte ganz zu Recht - und wie recht er hatte, das wusste er vielleicht damals noch gar nicht - Terrorismus sei "die maximale Explikation des Anderen unter dem Gesichtspunkt seiner Exterminierbarkeit" (2002: 26; 2004: 107). Denn für den Medien-Politik-Verbund gibt es ihn gar nicht, den Fall des Terroristen, der gute Werke tut, der sich ethisch untadelig verhält und der einen Nobelpreis verdient hätte. Für den Medien-Politik-Verbund gilt in der Postdemokratie: das Publikum braucht Helden und Schurken, und die Heldenrolle gehört uns, die der Schurken den Terroristen. Einen Freiheitskämpfer, der bombt und tötet, den nennen wir niemals einen Terroristen - genau so wenig wie wir uns selbst als Terroristen bezeichnen würden, und wenn wir noch so viele Leute aus dem Hinterhalt umbringen. Denn was wir tun, tun wir als Vertreter des prinzipiell Guten. Was die Terroristen tun, tun sie als Händler des Todes.  
Zur Bewältigung des Gesellschaftswiderspruchs gehört die Sozialisation. Wo sie Lücken hat und wo es zu erheblichen Abweichungen von den sozialen Normen kommt, gibt es informelle Sanktionen, unter Umständen auch formelle. Zur Bewältigung des Herrschaftswiderspruchs gibt es die politische Sozialisation (Gemeinschaftskundeunterricht usw.) ebenso wie den Legitimationsdiskurs der Eliten und Institutionen. In primitiven Diktaturen ist der Legitimationsdiskurs als solcher leicht zu erkennen und zu verwerfen. Unter den Bedingungen hegemonialer Ideologien und ihrer Akzeptanz in den subalternen Klassen (Gramsci) gehören die Medien und die Sozial- und Geisteswissenschaften zwar eher mehr als weniger zu dem, was man zu Zeiten von Nikos Poulantzas und Louis Althusser umstandslos als die ideologischen Staatsapparate bezeichnete, doch finden sich angesichts des weitgehend perfektionierten Verblendungszusammenhangs kaum noch Dissidenten mit hinreichendem ideologiekritischen Werkzeug. So hat sich also an der Realität der ideologischen Staatsapparate wenig verändert und noch weniger verbessert, doch der Anschein der heilen Welt ist heute ungestörter denn je. Die politische und die gesellschaftliche Welt: ein Familienroman mit Zickenkriegen und Dallas-Intrigen. Wer abweicht - und sei es mit einem ''etiam omnes si, ego non'', der hört aus der Welt der Politik, wie wenig hilfreich das sei - und schon stimmen alle ein in den Chor der Verdammnis. Peter Sloterdijk, dem wir den Hinweis auf die Mutation des Politischen in die Hypno-Politik verdanken, meinte ganz zu Recht - und wie recht er hatte, das wusste er vielleicht damals noch gar nicht - Terrorismus sei "die maximale Explikation des Anderen unter dem Gesichtspunkt seiner Exterminierbarkeit" (2002: 26; 2004: 107). Denn für den Medien-Politik-Verbund gibt es ihn gar nicht, den Fall des Terroristen, der gute Werke tut, der sich ethisch untadelig verhält und der einen Nobelpreis verdient hätte. Für den Medien-Politik-Verbund gilt in der Postdemokratie: das Publikum braucht Helden und Schurken, und die Heldenrolle gehört uns, die der Schurken den Terroristen. Einen Freiheitskämpfer, der bombt und tötet, den nennen wir niemals einen Terroristen - genau so wenig wie wir uns selbst als Terroristen bezeichnen würden, und wenn wir noch so viele Leute aus dem Hinterhalt umbringen. Denn was wir tun, tun wir als Vertreter des prinzipiell Guten. Was die Terroristen tun, tun sie als Händler des Todes.  


Wie kann die Kriminologie in dieser Situation arbeiten, produzieren, nachdenken, Erkenntnisse gewinnen - und zu einem klaren Bild der Lage, befreit von den Scheuklappen des Legitimationsdiskurses, beitragen?
Wie kann die Kriminologie in dieser Situation arbeiten, produzieren, nachdenken, Erkenntnisse gewinnen - und zu einem klaren Bild der Lage, befreit von den Scheuklappen des Legitimationsdiskurses, beitragen? Durch die Kritik falscher Abstraktionen.


1. Weg mit den falschen Abstraktionen
1.1  Zu den beliebtesten und reaktionärsten Scheinerklärungen gehört die Lokalisierung der  Ursachen des Terrorismus in "dem Bösen". Der Bekämpfungsdiskurs liebt die abstrakte Figur des Bösen. Nicht der einzelne Akteur begeht in böser Absicht (ek pronoia) eine lang geplante (bouleusis) schlechte Tat. Sondern im Terrorismus zeigt das Böse sein Gesicht. Es ist das Böse wie in der Achse des Bösen. Mit dem Bösen, das ist die Botschaft, kann man nicht verhandeln, darf man nicht verhandeln. Das Böse muss man bekämpfen, wenn man nicht selber untergehen will. Glucksman.


1.2  Eine ähnliche Kritik müsste eigentlich auch die Figur des "Terroristen" treffen. Wer einen Menschen einen Terroristen nennt, macht aus der Tatsache, dass dieser Mensch terroristische Handlungen begeht, nicht nur ein Merkmal der Person, sondern gleich ein solches Hauptmerkmal, das alles andere, was diese Person auch noch ausmacht, in den Hintergrund tritt oder gar nicht erst denkbar wird. Ist er vielleicht auch ein guter Sportler, ein geliebter Sohn, ein wißbegieriger Mensch? Wer das Stigma Terrorist trägt, von dem erwartet das Vorurteil bestimmte Nebenmerkmale wie zum Beispiel eine bestimmte Hautfarbe, Herkunft, Haartracht, Verhaltensweise, Einstellungscluster und so weiter. Es ist wie mit dem Hegelschen (1807) Mörder, der zum Richtplatz geführt wird: "Damen machen vielleicht die Bemerkung, daß er ein kräftiger, schöner, interessanter Mann ist. Jenes Volk findet die Bemerkung entsetzlich: was ein Mörder schön? wie kann man so schlecht denkend sein und einen Mörder schön nennen; ihr seid wohl etwas nicht viel Besseres! (...)
1.2  Eine ähnliche Kritik müsste eigentlich auch die Figur des "Terroristen" treffen. Wer einen Menschen einen Terroristen nennt, macht aus der Tatsache, dass dieser Mensch terroristische Handlungen begeht, nicht nur ein Merkmal der Person, sondern gleich ein solches Hauptmerkmal, das alles andere, was diese Person auch noch ausmacht, in den Hintergrund tritt oder gar nicht erst denkbar wird. Ist er vielleicht auch ein guter Sportler, ein geliebter Sohn, ein wißbegieriger Mensch? Wer das Stigma Terrorist trägt, von dem erwartet das Vorurteil bestimmte Nebenmerkmale wie zum Beispiel eine bestimmte Hautfarbe, Herkunft, Haartracht, Verhaltensweise, Einstellungscluster und so weiter. Es ist wie mit dem Hegelschen (1807) Mörder, der zum Richtplatz geführt wird: "Damen machen vielleicht die Bemerkung, daß er ein kräftiger, schöner, interessanter Mann ist. Jenes Volk findet die Bemerkung entsetzlich: was ein Mörder schön? wie kann man so schlecht denkend sein und einen Mörder schön nennen; ihr seid wohl etwas nicht viel Besseres! (...)
Zeile 34: Zeile 72:
1.3  Besser als von "Terroristen" zu sprechen, wäre es, die Abstraktion des Terroristen zu töten und dadurch die terroristisch handelnde Person wieder lebendig werden zu lassen. Man könnte von Terrorismus oder von terroristischer Methode sprechen. Das würde der Forschung erlauben, bestimmte Fragen zu stellen, die heute durch den ''definitional stop'' (Herbert Hart), der in der definitorischen Beschränkung des Terrorismus auf nicht-staatliche Akteure gar nicht mehr erwünscht und naheliegend erscheinen: inwiefern beruhte das Dritte Reich auf der Anwendung terroristischer Methoden, waren oder sind westliche Staaten selbst Anstifter, mittelbare oder unmittelbare Täter von terroristischen Aktionen, hat sich das Verhältnis von repressivem zu revoltierendem Terrorismus im Laufe der letzten Jahrhunderte/Jahrzehnte/Jahre verschoben - und falls ja: wie und warum und mit welchen Folgen?
1.3  Besser als von "Terroristen" zu sprechen, wäre es, die Abstraktion des Terroristen zu töten und dadurch die terroristisch handelnde Person wieder lebendig werden zu lassen. Man könnte von Terrorismus oder von terroristischer Methode sprechen. Das würde der Forschung erlauben, bestimmte Fragen zu stellen, die heute durch den ''definitional stop'' (Herbert Hart), der in der definitorischen Beschränkung des Terrorismus auf nicht-staatliche Akteure gar nicht mehr erwünscht und naheliegend erscheinen: inwiefern beruhte das Dritte Reich auf der Anwendung terroristischer Methoden, waren oder sind westliche Staaten selbst Anstifter, mittelbare oder unmittelbare Täter von terroristischen Aktionen, hat sich das Verhältnis von repressivem zu revoltierendem Terrorismus im Laufe der letzten Jahrhunderte/Jahrzehnte/Jahre verschoben - und falls ja: wie und warum und mit welchen Folgen?


 
Misstrauen gegenüber Leitmedien, Leitkultur und Leitbildern
2. Klare analytische Kategorien, d.h.: Definitionen
 
Niemand kann das Terrorismusproblem thematisieren, geschweige denn lösen, ohne darüber zu sprechen. Um darüber sprechen zu können, braucht man einen Begriff, der nicht schon alle Antworten vorweg bestimmt. Wir brauchen also eine nicht-präjudizierende Sprache. Wenn wir den Begriff des Terrorismus überhaupt weiter verwenden sollten, dann sollten wir ihn als Methode definieren und die Frage, wer terroristisch handelt und darum cum grano salis als Terrorist bezeichnet werden könnte, nicht von seiner Stellung in Staat und Gesellschaft, sondern davon abhängig machen, ob seine Handlungsweisen die Definitionskriterien erfüllen. Wie kann so eine Definition aussehen, die nicht alle Antworten vorwegnimmt? Nach der aristotelischen Methode genügen die Bestimmung von genus proximum et differentia specifica. Danach könnte man sagen: Terrorismus ist (1) eine Reihe von vorsätzlichen Akten direkter physischer Gewalt, die (2) punktuell und unvorhersehbar, aber systematisch (3) mit der Absicht psychischer Wirkung auf weit mehr Personen als nur die physisch getroffenen Opfer (4) im Rahmen einer politischen Strategie ausgeführt werden. (Die Vorteile dieser Definition für die Wissenschaft liegen ebenso auf der Hand wie ihre Nachteile für manipulative Interessen in Politik und Gesellschaft. Diese Definition ist frei von Definitionssperren: sie schließt keine Personengruppe per definitionem aus dem Bereich terroristischen Handelns aus und sie verhindert auch nicht Fragen nach der Existenz von Terrorismus avant la lettre oder nach der Existenz von Terrorismus seitens staatlicher Akteure. Vor allem aber erlaubt sie eine komparative Perspektive in historischer und systematischer Hinsicht und ermöglicht damit das, was Wissenschaft vor allem tun sollte und worin vor allem ihr Wert besteht: zu analysieren, zu vergleichen, verborgene Zusammenhänge aufzuzeigen und begründete Aussagen über hypothetische künftige Ziele und die für die Zielerreichung erforderlichen Mittel und die zu erwartenden Kosten und Nachteile zu erarbeiten).
 
Wissenschaft ist auf klare Begriffe angewiesen, die Beschreibungen ohne Bewertungen ermöglichen. Nicht, weil es unwichtig ist, Bewertungen vorzunehmen, sondern weil Bewertungen angemessener vorgenommen werden können, wenn sie nicht mit Beschreibungen vermengt werden - und weil Beschreibungen besser sind, wenn sie von Bewertungen getrennt sind. Sonst verbaue ich mir mit der Definition eines Begriffs bereits den Weg zur unvoreingenommenen Erforschung. Gibt es edle Terroristen? Die Frage ist schon beantwortet, wenn ich per definition sage, dass Terroristen böse Menschen sind, die verwerfliche Taten begehen. Gibt es Staatsterrorismus? Die Frage ist schon negativ beantwortet, wenn ich Terrorismus als eine Methode von substaatlichen Akteuren gegen den Staat definiere. Ist Widerstand moralisch gerechtfertigt? Natürlich ist er das, wenn ich unter Widerstand eine moralisch gerechtfertigte Abwehr bedrohlicher Unterwerfungsforderungen verstehe. Eine Kriminologie, die sich nicht dem Newspeak und Newthink der Postmoderne unterwerfen will, tut gut daran, sich dem herrschenden Sprachgebrauch zu entziehen. Das kann man entweder tun, indem man die Begriffe des Terrorismus und des Widerstands boykottiert und sie gar nicht mehr benutzt. Oder dadurch, dass man diese Begriffe analytisch reinigt. Man entfernt alle bewertenden Aspekte. Und benutzt sie - ohne Präjudiz moralischer, ethischer oder rechtlicher Art - als Beschreibungen. Dann könnte man feststellen, dass der Staat V oder W terroristische Methoden anwendet, und dass die Gruppen X oder Y Widerstand leisten, und man hätte dann gar nichts darüber ausgesagt, ob V, W, X oder Y zu den Guten oder zu den Bösen zu rechnen wären, ob ihre Taten richtig oder falsch, unterstützenswert oder bekämpfenswert sind. Dann wäre es sagbar, dass Widerstandskämpfer lügen und morden, betrügen und foltern und den Medien Leichenberge zeigen, von Menschen, die sie selbst in eine Kirche gesperrt und verbrannt haben, vondenen sie aber vorgeben, dass es das Regime gewesen sei. Dann wäre Widerstand nicht automatisch gut und Repression durch ein Regime nicht automatisch schlecht. Man würde beschreiben. Ohne Bewertung oder Ableitung von Handlungsempfehlungen. Handlungsempfehlungen wären explizit konditioniert: wenn man A will, dann müßte man B tun. Aber mit den Nebenfolgen C rechnen. Wenn man C nicht will, könnte man D tun - aber mit den Nebenfolgen E rechnen. Das wäre Wissenschaft - und wissenschaftliche Politikberatung. Und Public Criminology. Davon ist aber nichts zu hören und zu sehen. Stattdessen produziert die Wissenschaft: Erklärungen, die sich als Scheinerklärungen erweisen und zur Konstruktion politischer Probleme mehr beitragen als zu deren Lösung. 
 
 
3. Misstrauen gegenüber Leitmedien, Leitkultur und Leitbildern


Die Leitmedien kennen nur Schablonen amalgamierter Beschreibunsbewertungen. Ein Satz wie ''dieser Mann ist ein Terrorist'' ist schon deshalb unwahr, weil er in die Beschreibung schon die Bewertung hineinpackt, Deskription und Askription nicht nur vermischt, sondern unlösbar amalgamiert. Man mache die Probe aufs Exempel: könnte man in der Bildzeitung oder dem Spiegel jemals lesen: "Der terroristische Freiheitskämpfer XY hat dies oder jenes getan"? Oder hat man jemals von terroristischen Widerstandskämpfern gegen ein Regime gehört? Weil es sie nicht gibt, weil Widerstandskämpfer nur ist, wer imemr gut ist?
Die Leitmedien kennen nur Schablonen amalgamierter Beschreibunsbewertungen. Ein Satz wie ''dieser Mann ist ein Terrorist'' ist schon deshalb unwahr, weil er in die Beschreibung schon die Bewertung hineinpackt, Deskription und Askription nicht nur vermischt, sondern unlösbar amalgamiert. Man mache die Probe aufs Exempel: könnte man in der Bildzeitung oder dem Spiegel jemals lesen: "Der terroristische Freiheitskämpfer XY hat dies oder jenes getan"? Oder hat man jemals von terroristischen Widerstandskämpfern gegen ein Regime gehört? Weil es sie nicht gibt, weil Widerstandskämpfer nur ist, wer imemr gut ist?
Zeile 112: Zeile 142:


(h) Politikberatung. Keine straf- oder völkerrechtlich unerlaubten Handlungen mehr begehen, keine Bedingungen für Reaktanz mehr setzen. Wenn wir wirklich etwas Wirksames gegen Terrorismus unternehmen wollen, dann sollten wir unseren Verbündeten sagen, dass wir nicht mehr mitkommen - jedenfalls nicht mit Soldaten in fremde Länder, und dass wir raten, auch ihre Truppen abzuziehen. Wir sollten keine Kriege ohne Kriegserklärung mehr führen. Wir sollten keine Kriege mehr führen, wenn es sich um Angriffe auf andere Länder handelt. Wir sollten einen ehrlichen Blick auf alle kriegerischen Aktivitäten werfen und sollten überall dort, wo wir zu der Erkenntnis kommen, dass unsere Aktivitäten verzweifelte Leute zu verzweifelten Abwehrreaktionen gegen westliche oder vom Westen geförderte politische Gewalt motivieren, von diesen Aktiviäten die Finger lassen.
(h) Politikberatung. Keine straf- oder völkerrechtlich unerlaubten Handlungen mehr begehen, keine Bedingungen für Reaktanz mehr setzen. Wenn wir wirklich etwas Wirksames gegen Terrorismus unternehmen wollen, dann sollten wir unseren Verbündeten sagen, dass wir nicht mehr mitkommen - jedenfalls nicht mit Soldaten in fremde Länder, und dass wir raten, auch ihre Truppen abzuziehen. Wir sollten keine Kriege ohne Kriegserklärung mehr führen. Wir sollten keine Kriege mehr führen, wenn es sich um Angriffe auf andere Länder handelt. Wir sollten einen ehrlichen Blick auf alle kriegerischen Aktivitäten werfen und sollten überall dort, wo wir zu der Erkenntnis kommen, dass unsere Aktivitäten verzweifelte Leute zu verzweifelten Abwehrreaktionen gegen westliche oder vom Westen geförderte politische Gewalt motivieren, von diesen Aktiviäten die Finger lassen.




Zeile 131: Zeile 159:
*Matza, David (1973) Abweichendes Verhalten. Heidelberg: Quelle & Meyer.  
*Matza, David (1973) Abweichendes Verhalten. Heidelberg: Quelle & Meyer.  


*Pape, Robert & Jamesw Ke Feldman (2010) Cutting the Fuse: The Explosion of Global Suicide Terrorism and How to Stop It. Chicago: Chicago University Press.
*Pape, Robert & James Ke Feldman (2010) Cutting the Fuse: The Explosion of Global Suicide Terrorism and How to Stop It. Chicago: Chicago University Press.


*Paul, Ron (2011) Liberty Defined. 50 Essential Issues That Affect Our Freedom. New York, Boston: Grand Central.
*Paul, Ron (2011) Liberty Defined. 50 Essential Issues That Affect Our Freedom. New York, Boston: Grand Central.
31.738

Bearbeitungen