Terrorismus und Widerstand: Erklärungen, Scheinerklärungen und praktische Probleme 23.6.12

Aus Krimpedia – das Kriminologie-Wiki
Zur Navigation springen Zur Suche springen
  • 1. Tod der Kritischen Kriminologie (Ines de Castro)
  • 2. Tui-Roman
  • 3. Scheinerklärungen
  • 4. Wunschliste
  • 4.1 Kritische Kriminologie: aktive Fuktion, fragend; definitional stop, John MacArthur 1993, Die Schlacht der Lügen (Brutkastenlüge); Tonking; Perspektivenumkehr: westlicher Terrorismus; Lügen, Böses; Bewertung: System vs. Individuum; praktische Probleme: suicide bombers; Robert Pape, Chicago.


Vermutung 1: Tod der kritischen Kriminologie

Von der Kriminologie wird erwartet, dass sie einen Beitrag zur Bekämpfung des Terrorismus leistet. Die Kriminologie versucht das auch, indem sie sich zum Beispiel mit Typologien, Karrieren, Präventions- und Bekämpfungsmöglichkeiten auseinandersetzt. Das erscheint aus drei Gründen selbstverständlich: erstens sind terroristische Akte Straftaten, zweitens gibt es Forschungsgelder und drittens ist auch das Leid der Opfer ein Grund, sich der Terrorismus-Forschung nicht zu verschließen.

Die berühmte Frage von Howard S. Becker "Whose Side Are We On?" - auf der Seite der Abweichler oder der staatlichen Institutionen - scheint sich nicht zu stellen. Es gibt doch eigentlich nur die Parteinahme für die konkreten Opfer und für die Angehörigen und für die Opfer im weiteren Sinne: den westlichen Lebensstil, die Meinungsfreiheit, die Menschenwürde, die Gleichstellung der Geschlechter. In gewissem Sinne verhilft uns der Terrorismus sogar dazu, die oftmals als selbstverständlich vorausgesetzten Freiheiten wieder zu empfinden und würdigen zu können. Fast nebenbei fällt dabei auf: sogar der alte Streit zwischen kritischer und traditioneller Kriminologie hat heutzutage seine Brisanz verloren.

Es steht allerdings bei genauerem Hinsehen zu vermuten: Die Friedlichkeit des Verhältnisses zwischen kritischer und traditioneller Kriminologie ist nur der schöne Schein. In Wirklichkeit haben sich die beiden nicht vertragen, sondern die eine ist mausetot. Der Anti-Terrorismus-Konsens war der letzte Nagel zu ihrem Sarg. Die Ruhe zwischen den Lagern ist eine Friedhofsruhe. Ines de Castro (Dom Pedro.)

Vermutung 2: Dominanz von Scheinerklärungen

Der Tod zeigt sich an der Dominanz von Scheinerklärungen. Erklärungen = Rückbezug von Unbekanntem auf Bekanntes: Verstehen und Soziales.

  • Ohne Verstehen entkernt. Karriereansatz: nicht bei der Option für den Terrorismus, sondern in der Kindheit fängt die Karriere an. Im Broken Home. Entpolitisierung = nicht-ernstnehmen. Und wenn nachvollzogen wird, dann bis zu einer Grenze: guckt mal, die Gruppe. Die technologische Borniertheit. Nicht: das ist wie überall. Sondern: sieh mal einer an.
  • Ohne Rückbezug auf Soziales Mythos. "Das Böse".
  • Teleologische Diagnose: nur dem Schein nach Analyse des Phänomens, gefolgt von Schlussfolgerungen über Handlungsoptionen, während in Wirklichkeit von hinten nach vorne gedacht wird. Die erwünschten Handlungen stehen fest, die Begründung wird in Form einer Deskription des Objekts geliefert. Beispiel: man will bekämpfen, nicht verhandeln. Also konstruiert man sich einen Terroristen, mit dem man nicht verhandeln kann, weil er in Wirklichkeit gar keine politischen Ziele hat, sondern nur zerstören will. Anthropologie des Terror-Kriegers.

Praktische Probleme: Wiederbelebung der kritischen Kriminologie

Kritische Kriminologie: kritisch gegenüber den Herrschaftsverhältnissen in Staat und Gesellschaft, kritisch gegenüber der Wissenschaft (Subsumtion unter den Legitimationsdiskurs), kritisch gegenüber sich selbst (Fragen bearbeiten, die für diejenigen unbequem sind, die Kriminologie betreiben).

Wunschzettel

  1. Aktive Kriminologie. Kritische Kriminologie heißt in erster Linie: aktive Kriminologie. Aktiv nicht in dem Sinne einer aktiven Funktion in der Wissenschaft, sondern der Wissenschaft. Wissenschaft, die zu unbequemen Ergebnissen kommt - unbequem für die Gesellschaft, für die Mächtigen und für die Wissenschaftler selbst - die aber neue Zusammenhänge entdeckt und damit neue Denk-Räume und letztlich Handlungsräume eröffnet. Eine solche aktive Wissenschaft gibt es im Bereich der Kriminologie des Terrorismus nicht. Die traditionelle Kriminologie erfüllt im Wesentlichen passive Funktionen. Sie schafft keine Erkenntnis, sondern sie legitimiert Entscheidungen und verschleiert Machtinteressen, indem sie sie als wissenschaftlich geprüfte Sachzwänge oder objektive Sachverhalte darstellt. Aktive Wissenschaft ist eine fragende Wissenschaft. Sie stelle alle Arten von Fragen, auch unbequeme Fragen und sie freut sich über unbequeme Ergebnisse, weil sie darin ein Anzeichen sieht, dass sie dem Gedankengefängnis der hegemonialen Ideologie entkommen sein könnte. Voraussetzung dafür ist die Freiheit der Wissenschaft: die Freiheit der Sammlung von Informationen, der Verarbeitung und der Veröffentlichung von Informationen. Diese Freiheit gibt es - in reinster Form - nirgendwo auf der Welt. Sie ist durch Verfassungsartikel, durch einfache Gesetze, durch die Verweigerung von Aufmerksamkeit und Forschungsförderung, durch Angst vor informellen Sanktionen, Exklusionen und Stigmatisierungen, durch verinnerlichte Ideologeme und Haltungen eingeschränkt. Manches davon lässt sich umgehen, manches abgewöhnen, aber so wie es in jeder Religion nur wenige Heilige gibt, so gibt es auch in der Wissenschaft nur wenige, deren Haltung sie als Vorbild für alle empfehlen könnte. Der langen Rede kurzer Sinn: um eine aktive Funktion erfüllen zu können, müssten Kriminologinnen zunächst einmal alle möglichen Fragen stellen können, natürlich auch ungewöhnliche, ohne die sich ja nie etwas Neues erkennen ließe. Das erscheint trivial, ist es aber nicht. Denn zum Fragen gehören Begriffe, die Fragen erlauben, und die nicht Fragen verbieten. Die Kriminologie ist, gemessen an dem Niveau, das sie bräuchte, um eine aktive Rolle zu spielen, schon so tief in den Sumpf des politisch motivierten Legitimationsdiskurses gesunken, dass ihr nicht einmal kluge Fragen mehr möglich sind. Ich möchte das am Beispiel potentieller Fragen und der Schwierigkeiten darstellen, mit denen die Möglichkeit, diese Fragen überhaupt zu stellen, zu kämpfen haben. Eine potentielle Frage betrifft ein Gedankenexperiment. Was wäre eigentlich mit einem Forschungsprojekt, das der Frage nachginge, inwiefern eine Steigerung der Effizienz der Terrorismus-Bekämpfung durch den Einsatz staatlicher Terroristen-Gruppen erzielt werden könnte? Wäre es nützlich, würde es in the long run sogar viele Menschenleben retten können, wenn man dazu überginge, den Gegner sozusagen mit seinen eigenen Mitteln zu schlagen? Dieser Frage weicht die herrschende Meinung aus, und sie kann es auch. Denn für die Staatskriminologie ist die Frage unsinnig und deshalb nicht zulässig. Sie enthält die Voraussetzung, dass auch der Staat Terrorismus begehen kann. Das ist aber definitorisch unmöglich, denn Terrorismus ist nach herrschender Meinung nur das, was nichtstaatliche Gruppen tun. Also kann es schon rein begrifflich keine Situation geben, wie die, nach der gefragt wurde. Die herrschende Meinung geht ja sogar noch weiter: in Gestalt von Walter Laqueur erklärt sie, man habe keine Definition und man brauche auch keine Definition. Offenbar könne man ja Terrorismus auch ohne Definition erforschen und sogar bekämpfen. Das ist nichts anderes als ein Trick, um einem Argument auszuweichen. Herbert L.A. Hart nennt das eine Definitionssperre oder einen definitional stop. - Was hat das mit kritischer Kriminologie zu tun? Eine Menge. Denn was bedeutet überhaupt kritische Kriminologie? Kritische Kriminologie bedeutet: wissenschaftskritisch, gesellschaftskritisch, selbstkritisch. Bedeutet auch: in der Lage sein, unbequeme Wahrheiten auszuhalten und produktiv zu verarbeiten. Bedeutet schließlich: ideologiekritisch gegenüber der hegemonialen Ideologie und der hegemonialen Wissenschaft.
  2. Kriminologie ohne Definitionssperren, ohne Zufriedenheit mit der Begriffslosigkeit und ohne die Gemütlichkeit präjudizierender Definitionen. Damit zentrale Fragen nicht definitorisch oder subkutan vorentschieden und damit der offenen Diskussion entzogen werden können. Widerstand kann negativ zu beurteilen sein, Terrorismus positiv. Diskussion über Bewertung kann rational sein, sollte offen sein, nicht schon im Begriff selbst vor-entschieden (prä-judiziert). Gäbe es die kritische Kriminologie noch, dann könnte sich die Erkenntnis Bahn brechen, dass wir die Terroristen sind und dass die Terroristen sich im Widerstand befinden, ohne dass sie deswegen das Terrorist-Sein aufgeben müßten. Denn man kann Terrorist und Widerständler und man kann Führernation der freien Welt und zugleich auch Terrorist sein.
  3. Kriminologie ohne Othering. Definition der Situation des Subjekts als Ausgangspunkt, nicht zu Determinanten aufgewertete objektive Umstände. Das hat auch Folgen für Karriereansätze: kritische Kriminologie konstruiert nicht das Negativ-Besondere aus der frühkindlichen Erziehung, sondern die Freiheit des biographisch belasteten und bindungsgelockerten Subjekts zum Ausbruch aus dem Gehäuse der Hörigkeit gegenüber Konventionellem Handeln und Denken. Dadurch würde man auch einen Sinn für Tragik gewinnen. Kontrolltheorien und Bindungstheorien.
  4. Kriminologie der heuristischen Perspektivenumkehr. Das "wir" von außen denken, vom "Anderen": probeweise mal uns selbst "othern". Was käme dabei heraus? Die Terroristen sind wir. Der Westen. Die Staatengemeinschaft: Gemeinschaftsideologie vertuscht die hierarchischen Beziehungen: klare Machtverhältnisse mit Führernation und Gefolgschaftsnationen. Die "leader of the free world" sind die Terroristen. Die Terroristen sind die Widerständler. Mut zur Subsumtion. "Die revolutionärste Tat ist immer noch zu sagen was ist". Bearbeitung unbequemer Fragen und keine Vermeidung unbequemer Antworten.
  5. Kritik des abstrakten Denkens. Hegel. Hauptmerkmal. Differenzierter Blick auf das, was ist. Kritik der Metaphysik. Soziale Entstehung sozialer Tatsachen (das Böse).
  6. Kritik der teleologischen Ursachenkonstruktion. Von der erwünschten Folge aus wird die Ursachentheorie konstruiert. Man will nicht verhandeln, also sagt man: die Leute sind rationalen Argumenten nicht zugänglich, sie sind pathologische Gewalttäter, die man nur unschädlich machen kann.
  7. Kritik des Missbrauchs der Theorie als Waffe. Pathologisierung, Besonderung, Respektlosigkeit. Individuum, das Entscheidungen trifft. Und das mehr oder weniger frei ist, sich für die Devianz zu entscheiden. Kontrolltheorien.
  8. Kritik des Othering und des Essentialismus (Anthropologie des Terrorkriegers; Revolution der Gestörten). Es werden Besonderheiten herausgearbeitet, die keine sind, und die meistens auch auf der anderen Seite der Doppelinstitution zu finden sind. Keine Überzeugung, nur noch Gruppensolidarität; Lust am Töten; Technik im Vordergrund; Ideologische, organisatorische Anführer, Followers; Analogie zu Dostojewski.
  9. Kritik der Unbegreifbarkeitsrhetorik. Lässt sich mit tu quoque, tit for tat, Reziprozität, instrumenteller Grausamkeit erklären. Pinker: phylogenetische Bedeutung des Fremden für die unprovozierte Aggression.
  10. Kritik der Wohlanständigkeit (bienséance). Widerstandshelden und Terroristen: Gemeinsamkeiten, Unterschiede; Vergleich ist anstößig, wäre aber erkenntnisträchtig. Durkheim.
  11. Kritik der Immanenz. Man ersinnt nur technische Prävention, man könnte aber erstens die kriminogene Wirkung der Politik untersuchen - was Aktion (Angriffskrieg) angeht, was Reaktion (Widerstand der Terroristen) angeht, und zweitens auch auf der Ebene Untersuchungen anstellen über mögliche Präventionsstrategien. Die beste Prävention gegen Terroranschläge in Afghanistan ist vielleicht der Abzug der Truppen und die Einstellung von Drohnenangriffen.
  12. Kritik der Dekontextualisierung. Terrorismus ist Widerstand und ist immer bezogen auf das, wogegen der Widerstand geleistet wird - und reagiert immer auf die Bekämpfung, so wie die Bekämpfung auf den Terrorismus reagiert. Mit anderen Worten: das eine ist das andere: "Context is all" (Margaret Atwood). Doppelinstitution. Wie Zwillingstürme.


Definitionssperren

"Wie Lassalle sagte, ist und bleibt die revolutionärste Tat, immer 'das laut zu sagen, was ist'" (Rosa Luxemburg). Man kann aber nur sagen was ist, wenn man dafür Begriffe hat. Und für die Wissenschaft, die andere Zwecke verfolgt als die Politik, wäre zu ergänzen: wenn man Begriffe hat, mit denen man richtige Aussagen über bestimmte Phänomene und ihre Zusammenhänge machen kann.

Über die Frage, ob Staaten in der Vergangenheit jemals terroristische Methoden angewandt haben, ob es nützlich oder erforderlich sein könnte, gegen nichtstaatlichen Terror vom Typus Al Qaida staatlichen Terror zu setzen, über all diese Fragen kann man aber nur sprechen, wenn man Terrorismus als Methode definiert und die Methode über die Handlungssequenzen und nicht vorab über die Eigenschaften von bestimmten Personen. Brian Jenkins. Das Beispiel der Vergewaltigung im brasilianischen Recht.

Wissenschaft ist auf klare Begriffe angewiesen, die Beschreibungen ohne Bewertungen ermöglichen. Nicht, weil es unwichtig ist, Bewertungen vorzunehmen, sondern weil Bewertungen angemessener vorgenommen werden können, wenn sie nicht mit Beschreibungen vermengt werden - und weil Beschreibungen besser sind, wenn sie von Bewertungen getrennt sind. Sonst verbaue ich mir mit der Definition eines Begriffs bereits den Weg zur unvoreingenommenen Erforschung. Gibt es edle Terroristen? Die Frage ist schon beantwortet, wenn ich per definition sage, dass Terroristen böse Menschen sind. Gibt es Staatsterrorismus? Die Frage ist schon negativ beantwortet, wenn ich Terrorismus als eine Methode von substaatlichen Akteuren gegen den Staat definiere. Ist Widerstand moralisch gerechtfertigt? Natürlich ist er das, wenn ich unter Widerstand eine moralisch gerechtfertigte Abwehr bedrohlicher Unterwerfungsforderungen verstehe. Eine Kriminologie, die sich nicht dem Newspeak und Newthink der Postmoderne unterwerfen will, tut gut daran, sich dem herrschenden Sprachgebrauch zu entziehen. Das kann man entweder tun, indem man die Begriffe des Terrorismus und des Widerstands boykottiert und sie gar nicht mehr benutzt. Oder dadurch, dass man diese Begriffe analytisch reinigt. Man entfernt alle bewertenden Aspekte. Und benutzt sie - ohne Präjudiz moralischer, ethischer oder rechtlicher Art - als Beschreibungen. Dann könnte man feststellen, dass der Staat V oder W terroristische Methoden anwendet, und dass die Gruppen X oder Y Widerstand leisten, und man hätte dann gar nichts darüber ausgesagt, ob V, W, X oder Y zu den Guten oder zu den Bösen zu rechnen wären, ob ihre Taten richtig oder falsch, unterstützenswert oder bekämpfenswert sind. Dann wäre es sagbar, dass Widerstandskämpfer lügen und morden, betrügen und foltern und den Medien Leichenberge zeigen, von Menschen, die sie selbst in eine Kirche gesperrt und verbrannt haben, vondenen sie aber vorgeben, dass es das Regime gewesen sei. Dann wäre Widerstand nicht automatisch gut und Repression durch ein Regime nicht automatisch schlecht. Man würde beschreiben. Ohne Bewertung oder Ableitung von Handlungsempfehlungen. Handlungsempfehlungen wären explizit konditioniert: wenn man A will, dann müßte man B tun. Aber mit den Nebenfolgen C rechnen. Wenn man C nicht will, könnte man D tun - aber mit den Nebenfolgen E rechnen. Das wäre Wissenschaft - und wissenschaftliche Politikberatung. Und Public Criminology. Davon ist aber nichts zu hören und zu sehen. Stattdessen produziert die Wissenschaft: Erklärungen, die sich als Scheinerklärungen erweisen und zur Konstruktion politischer Probleme mehr beitragen als zu deren Lösung.

Niemand kann das Terrorismusproblem thematisieren, geschweige denn lösen, ohne darüber zu sprechen. Um darüber sprechen zu können, braucht man einen Begriff, der nicht schon alle Antworten vorweg bestimmt. Wir brauchen also eine nicht-präjudizierende Sprache. Wenn wir den Begriff des Terrorismus überhaupt weiter verwenden sollten, dann sollten wir ihn als Methode definieren und die Frage, wer terroristisch handelt und darum cum grano salis als Terrorist bezeichnet werden könnte, nicht von seiner Stellung in Staat und Gesellschaft, sondern davon abhängig machen, ob seine Handlungsweisen die Definitionskriterien erfüllen. Wie kann so eine Definition aussehen, die nicht alle Antworten vorwegnimmt? Nach der aristotelischen Methode genügen die Bestimmung von genus proximum et differentia specifica. Danach könnte man sagen: Terrorismus ist (1) eine Reihe von vorsätzlichen Akten direkter physischer Gewalt, die (2) punktuell und unvorhersehbar, aber systematisch (3) mit der Absicht psychischer Wirkung auf weit mehr Personen als nur die physisch getroffenen Opfer (4) im Rahmen einer politischen Strategie ausgeführt werden. (Die Vorteile dieser Definition für die Wissenschaft liegen ebenso auf der Hand wie ihre Nachteile für manipulative Interessen in Politik und Gesellschaft. Diese Definition ist frei von Definitionssperren: sie schließt keine Personengruppe per definitionem aus dem Bereich terroristischen Handelns aus und sie verhindert auch nicht Fragen nach der Existenz von Terrorismus avant la lettre oder nach der Existenz von Terrorismus seitens staatlicher Akteure. Vor allem aber erlaubt sie eine komparative Perspektive in historischer und systematischer Hinsicht und ermöglicht damit das, was Wissenschaft vor allem tun sollte und worin vor allem ihr Wert besteht: zu analysieren, zu vergleichen, verborgene Zusammenhänge aufzuzeigen und begründete Aussagen über hypothetische künftige Ziele und die für die Zielerreichung erforderlichen Mittel und die zu erwartenden Kosten und Nachteile zu erarbeiten).

Terrorismus als soziale Erscheinung

Zu den beliebtesten und reaktionärsten Scheinerklärungen gehört die Lokalisierung der Ursachen des Terrorismus in "dem Bösen". Damit wird eine soziale Tatsache zum Ausdruck nicht etwas sozialer Verhältnisse, sondern einer metaphysischen Einheit, die zu dem Zweck erfunden wurde, die sozialen Entstehungsbedingungen zu leugnen.

Der Bekämpfungsdiskurs liebt die abstrakte Figur des Bösen. Nicht der einzelne Akteur begeht in böser Absicht (ek pronoia) eine lang geplante (bouleusis) schlechte Tat. Sondern im Terrorismus zeigt das Böse sein Gesicht. Es ist das Böse wie in der Achse des Bösen. Mit dem Bösen, das ist die Botschaft, kann man nicht verhandeln, darf man nicht verhandeln. Das Böse muss man bekämpfen, wenn man nicht selber untergehen will. Glucksman. Vor allem funktioniert sie nicht nach moralischen Gesetzen, sondern teilweise aleatorisch und teilweise auf himmelschreiende Art ungerecht. Daher ja die religiöse Fiktion eines Himmels, in dem alles gerade gerückt wird und in dem Letzten die Ersten sein werden. Wäre schon hienieden alles gerecht, dann spräche nichts gegen eine unveränderte Aufstellung im Himmel wie auf Erden.

Neben der Religion gibt es die schönen Künste. Auch dort dominiert das Verlangen nach erfolgreicher Flucht aus dem Jammertal der realen Verhältnisse. Je größer das Elend, je größer die Ungerechtigkeit, desto bedingungsloser die Sehnsucht nach und der Glaube an das Happy End. Auf dieses Bedürfnis antwortet die Kulturindustrie von Holly- bis Bollywood, nicht ausgenommen die Fernsehkrimis mit ihren sympathischen Kommissarinnen und Kommissaren und der Auflösung auch noch der dunkelsten Fälle. Immerhin: das Böse ist erkannt und verhaftet. (Die Problemfilme und Tragödien haben eine andere Funktion. Sie sind gerade wegen ihrer Nichterfüllung elementarer Errettungsbedürfnisse vor allem als Status-Konsumgüter zwecks Distinktionsgewinn gegenüber konkurrierenden Elitenanwärtern zu nutzen.)

Die Welt ist zudem durch zwei Widersprüche strukturiert: den Widerspruch zwischen Individuum und Gesellschaft und demjenigen zwischen Herrschenden und Beherrschten. Man kann sagen: es gibt einen horizontalen und einen vertikalen Widerspruch. In der Realität vermischen sich beide häufig. Zum Widerspruch zwischen Individuum und Gesellschaft gehört der mangelhaft sozialisierte Mensch mit seinen erheblichen Schwierigkeiten, wenn es um die Integration in soziale Zusammenhänge aller Art geht. Zum Herrschafts-Widerspruch gehören die Repression von oben (um vorlaute Untertanen zu bändigen) und die Revolte von unten (um den Interessen der Herrschaftsunterworfenen Gehör und Respekt zu verschaffen).

Zur Bewältigung des Gesellschaftswiderspruchs gehört die Sozialisation. Wo sie Lücken hat und wo es zu erheblichen Abweichungen von den sozialen Normen kommt, gibt es informelle Sanktionen, unter Umständen auch formelle. Zur Bewältigung des Herrschaftswiderspruchs gibt es die politische Sozialisation (Gemeinschaftskundeunterricht usw.) ebenso wie den Legitimationsdiskurs der Eliten und Institutionen. In primitiven Diktaturen ist der Legitimationsdiskurs als solcher leicht zu erkennen und zu verwerfen. Unter den Bedingungen hegemonialer Ideologien und ihrer Akzeptanz in den subalternen Klassen (Gramsci) gehören die Medien und die Sozial- und Geisteswissenschaften zwar eher mehr als weniger zu dem, was man zu Zeiten von Nikos Poulantzas und Louis Althusser umstandslos als die ideologischen Staatsapparate bezeichnete, doch finden sich angesichts des weitgehend perfektionierten Verblendungszusammenhangs kaum noch Dissidenten mit hinreichendem ideologiekritischen Werkzeug. So hat sich also an der Realität der ideologischen Staatsapparate wenig verändert und noch weniger verbessert, doch der Anschein der heilen Welt ist heute ungestörter denn je. Die politische und die gesellschaftliche Welt: ein Familienroman mit Zickenkriegen und Dallas-Intrigen. Wer abweicht - und sei es mit einem etiam omnes si, ego non, der hört aus der Welt der Politik, wie wenig hilfreich das sei - und schon stimmen alle ein in den Chor der Verdammnis. Peter Sloterdijk, dem wir den Hinweis auf die Mutation des Politischen in die Hypno-Politik verdanken, meinte ganz zu Recht - und wie recht er hatte, das wusste er vielleicht damals noch gar nicht - Terrorismus sei "die maximale Explikation des Anderen unter dem Gesichtspunkt seiner Exterminierbarkeit" (2002: 26; 2004: 107). Denn für den Medien-Politik-Verbund gibt es ihn gar nicht, den Fall des Terroristen, der gute Werke tut, der sich ethisch untadelig verhält und der einen Nobelpreis verdient hätte. Für den Medien-Politik-Verbund gilt in der Postdemokratie: das Publikum braucht Helden und Schurken, und die Heldenrolle gehört uns, die der Schurken den Terroristen. Einen Freiheitskämpfer, der bombt und tötet, den nennen wir niemals einen Terroristen - genau so wenig wie wir uns selbst als Terroristen bezeichnen würden, und wenn wir noch so viele Leute aus dem Hinterhalt umbringen. Denn was wir tun, tun wir als Vertreter des prinzipiell Guten. Was die Terroristen tun, tun sie als Händler des Todes.

Wie kann die Kriminologie in dieser Situation arbeiten, produzieren, nachdenken, Erkenntnisse gewinnen - und zu einem klaren Bild der Lage, befreit von den Scheuklappen des Legitimationsdiskurses, beitragen? Durch die Kritik falscher Abstraktionen.


1.2 Eine ähnliche Kritik müsste eigentlich auch die Figur des "Terroristen" treffen. Wer einen Menschen einen Terroristen nennt, macht aus der Tatsache, dass dieser Mensch terroristische Handlungen begeht, nicht nur ein Merkmal der Person, sondern gleich ein solches Hauptmerkmal, das alles andere, was diese Person auch noch ausmacht, in den Hintergrund tritt oder gar nicht erst denkbar wird. Ist er vielleicht auch ein guter Sportler, ein geliebter Sohn, ein wißbegieriger Mensch? Wer das Stigma Terrorist trägt, von dem erwartet das Vorurteil bestimmte Nebenmerkmale wie zum Beispiel eine bestimmte Hautfarbe, Herkunft, Haartracht, Verhaltensweise, Einstellungscluster und so weiter. Es ist wie mit dem Hegelschen (1807) Mörder, der zum Richtplatz geführt wird: "Damen machen vielleicht die Bemerkung, daß er ein kräftiger, schöner, interessanter Mann ist. Jenes Volk findet die Bemerkung entsetzlich: was ein Mörder schön? wie kann man so schlecht denkend sein und einen Mörder schön nennen; ihr seid wohl etwas nicht viel Besseres! (...) Ein Menschenkenner sucht den Gang auf, den die Bildung des Verbrechers genommen, findet in seiner Geschichte schlechte Erziehung, schlechte Familienverhältnisse des Vaters und der Mutter, irgendeine ungeheure Härte bei einem leichteren Vergehen dieses Menschen, die ihn gegen die bürgerliche Ordnung erbitterte, eine erste Rückwirkung dagegen, die ihn daraus vertrieb und es ihm jetzt nur durch Verbrechen sich noch zu erhalten möglich machte. - Es kann wohl Leute geben, die, wenn sie solches hören, sagen werden: der will diesen Mörder entschuldigen! ... Dies heißt abstrakt gedacht, in dem Mörder nichts als dies Abstrakte, daß er ein Mörder ist, zu sehen und durch diese einfache Qualität alles übrige menschliche Wesen an ihm zu vertilgen."

1.3 Besser als von "Terroristen" zu sprechen, wäre es, die Abstraktion des Terroristen zu töten und dadurch die terroristisch handelnde Person wieder lebendig werden zu lassen. Man könnte von Terrorismus oder von terroristischer Methode sprechen. Das würde der Forschung erlauben, bestimmte Fragen zu stellen, die heute durch den definitional stop (Herbert Hart), der in der definitorischen Beschränkung des Terrorismus auf nicht-staatliche Akteure gar nicht mehr erwünscht und naheliegend erscheinen: inwiefern beruhte das Dritte Reich auf der Anwendung terroristischer Methoden, waren oder sind westliche Staaten selbst Anstifter, mittelbare oder unmittelbare Täter von terroristischen Aktionen, hat sich das Verhältnis von repressivem zu revoltierendem Terrorismus im Laufe der letzten Jahrhunderte/Jahrzehnte/Jahre verschoben - und falls ja: wie und warum und mit welchen Folgen?

Misstrauen gegenüber Leitmedien, Leitkultur und Leitbildern

Die Leitmedien kennen nur Schablonen amalgamierter Beschreibunsbewertungen. Ein Satz wie dieser Mann ist ein Terrorist ist schon deshalb unwahr, weil er in die Beschreibung schon die Bewertung hineinpackt, Deskription und Askription nicht nur vermischt, sondern unlösbar amalgamiert. Man mache die Probe aufs Exempel: könnte man in der Bildzeitung oder dem Spiegel jemals lesen: "Der terroristische Freiheitskämpfer XY hat dies oder jenes getan"? Oder hat man jemals von terroristischen Widerstandskämpfern gegen ein Regime gehört? Weil es sie nicht gibt, weil Widerstandskämpfer nur ist, wer imemr gut ist?

Beleg: der aktuelle Diskurs über Syrien. Die Regierung spricht von Terroristen, die bewaffnete Opposition von Widerstand und Heldenmut. Eine gespaltene Tötungsmoral erzeugt eine gespaltene Sprache und ein gespaltenes Denken. Mit George Orwell (1984) kann man sagen: Terrorismus und Widerstand gehören heute zu einer zu politischen Zwecken künstlich veränderten Sprache. Sie erzeugt ihrerseits so etwas wie doublethink, verstanden als „Fähigkeit, in seinem Denken zwei widersprüchliche Überzeugungen aufrechtzuerhalten und beide zu akzeptieren. Das schließt mit ein: Absichtlich Lügen zu erzählen und aufrichtig an sie zu glauben; jede beliebige Tatsache zu vergessen, die unbequem geworden ist, und dann, falls es wieder nötig ist, sie aus der Vergessenheit zurückzuholen; so lange wie nötig die Existenz einer objektiven Realität zu leugnen und gleichzeitig die Realität zu akzeptieren, die man verleugnet."

Dieser Mann ist kein Widerstandskämpfer. Auch dieser Satz ist eine Lüge, gibt er doch vor, Beschreibung zu sein, während er eine so starke Bewertung enthält - Widerstandskämpfer sind altruistische Krieger, von humanistischen Idealen getragen, ritterlich im Tun und ehrenvoll im Untergang - dass er mit der Wahrheit nicht zurechtkommen kann. Denn wie ist es, wenn ein Widerstandskämpfer ein Massaker begeht? Kann er das überhaupt? Also kommen Widerstandskämpfer nicht in Frage als Täter des Massakers an 109 Personen, darunter 49 Kindern, in Hula, am 25. Mai 2012. Für die Weltmeinung stand und steht denn auch fest: das war das Regime des Präsidenten Assad. Seither eskaliert die Gewalt, aus der Revolte wurde ein Bürgerkrieg, der Annan-Friedensplan wurde Makulatur, die USA und ihre Verbündeten verstärken die Bewaffnung der Rebellen.

Das Massaker von Hula fand in dem größten Ort der Provinz statt, in Taldou nahe der libanesischen Grenze, in einer Gegend voller konfessioneller Spannungen. Die Namen der getöteten 84 Zivilisten sind bekannt: es handelt sich um die Väter, Mütter und 49 Kinder der Familie al Sajjid und zwei Zweige der Familie Abdarrazzaq. Sie waren Alawiten. Und vom sunnitischen zum schiitischen Islam konvertierte Muslime. Das machte sie als Sympathisanten der unter Sunniten verhassten Hizbullah verdächtig. Unter den Ermordeten befanden sich zudem die in Taldou lebenden Verwandten des regimetreuen Parlamentsabgeordneten Abdalmuti Mashlab. Die Wohnungen der drei Familien befinden sich in verschiedenen Teilen Taldous. Die Mitglieder der Familien wurden gezielt und bis auf eine Ausnahme getötet. Kein Nachbar wurde auch nur verletzt. ...Die Nachrichtenagentur AP zitierte den einzigen Überlebenden der Familie al Sajjid, einen elfjährigen Ali, mit den Worten: „Die Täter waren kahlgeschoren und hatten lange Bärte.“ So sehen fanatische Dschihadisten aus, nicht die Milizen der Schabiha. Überlebt habe er, weil er sich tot gestellt und mit dem Blut seiner Mutter beschmiert habe, sagte der Junge. ...

Bereits am 1. April hatte die Nonne Agnès-Maryam vom Jakobskloster (“Deir Mar Yakub“), das südlich von Homs in der Ortschaft Qara liegt, in einem langen offenen Brief das Klima der Gewalt und der Angst in der Region beschrieben. Sie kommt zum Ergebnis, dass die sunnitischen Rebellen eine schrittweise Liquidierung aller Minderheiten betrieben; sie schildert die Vertreibung von Christen und Alawiten aus ihren Häusern, die von den Rebellen besetzt werden, und die Vergewaltigung junger Mädchen, die den Rebellen als „Kriegsbeute“ übergeben werden; sie war Augenzeugin, als Rebellen in der Straße Wadi Sajjeh erst einen Händler, der sein Geschäft zu schließen sich geweigert hatte, durch eine Autobombe töteten und dann vor einer Kamera von Al Dschazira sagten, das Regime habe die Tat begangen. Schließlich schildert sie, wie sunnitische Rebellen im Stadtteil Khalidijah von Homs alawitische und christliche Geiseln in ein Haus gesperrt und dieses in die Luft gesprengt hätten, um anschließend zu erklären, dies sei eine Greueltat des Regimes gewesen. Beim Massaker von Hula wurden die Familien ausgelöcht, weil sie sich geweigert hatten, sich der Opposition anzuschließen. - In der Nähe von Hula leben Nonnen im Jakobskloster. Sie schilderten, wie die der Opposition angehörenden Täter "nach dem Massaker die Leichen vor der Moschee stapelten und wie sie am folgenden Tag vor den Kameras rebellenfreundlicher Sender den UN-Beobachtern ihre Version von dem angeblichen Massaker der syrischen Armee erzählten" (Hermann 2012).

Die "Freunde Syriens" unter Führung der USA sind vor allem am Sturz Assads interessiert. Die Feinde Assads sind ihre Freunde. Sie gelten als Widerstandskämpfer. Sie werden finanziert. Und ausgerüstet. Und ihre Lügen werden verbreitet. Weil es der guten Sache nützt. Mord an Wehrlosen. In den Leitmedien der Welt spielt das aber keine Rolle: der Schlächter, das ist das Assad-Regime. So wird uns die Welt erklärt: Scheinerklärungen treten an die Stelle von Erklärungen. Trugbilder an die Stelle realer Bilder. Wie bei der Fussball-EM: Löw stibitzt einem Jungen sein Spielgerät. Vorher aufgezeichnet. Das was passiert - Abgeordnete halten Schilder hoch für die Menschenrechte - wird nicht gezeigt.


4. Scheinerklärungen

Vor 70 Jahren (am Dienstag, den 12.5.42) war Bertolt Brecht mit Eisler bei Horkheimer zum Lunch. Danach schlug Eisler Bertolt Brecht folgende Handlung für den TUIROMAN (Intellektuellenroman) vor: die Geschichte des bekanntlich vom Weizenspekulanten Felix Weil gegründeten Frankfurter Instituts für Sozialforschung: "ein reicher alter mann (der weizenspekulant weil) stirbt, beunruhigt über das elend auf der welt. er stiftet in seinem testament eine große summe für die errichtung eines instituts, das die quelle des elends erforschen soll. das ist natürlich er selber.“ Man könnte sich vorstellen, dass diese Pointe für die Wissenschaftler des Instituts tabu wäre. Sie dürften und müßten forschen, dabei aber immer um den heißen Brei herumreden. Statistiken produzieren, Theorien, Erklärungsversuche - alles, nur nicht den Kern der Angelegenheit aufdecken.

Die traditionelle Kriminologie findet heraus, dass Terroristen

  • das Böse verkörpern
  • Verbrechen gegen den Staat begehen (ihre Terrorismusdefinition schließt jeden anders gelagerten Fall sowieso aus)
  • politische Motive nur vorschieben (so dass es keinen Sinn macht, über Verhandlungen auch nur nachzudenken)
  • eine Lust am Töten empfinden (also emotional gestört und gefährlich sein dürften)
  • in Gruppen operieren, in denen es ideologische Führer, organisatorische Führer, Überzeugungstäter und auch nicht-überzeugte Leute gibt, die für Geld, Gruppenzusammenhalt oder andere Anreize tätig sind
  • die westliche Lebensart, die westliche Freiheit hassen und unsere Demokratie.

All dies wird mit großer Emphase als beachtenswerte Neuigkeit präsentiert. Als wären Terroristen eine völlig neue Spezies, die ganz und gar fremd sei und nun diese Besonderheiten aufwiese. Dabei sind Terroristen in der Weltgeschichte schon lange bekannt und diese Besonderheiten sind nur künstlich verfremdete Normalitäten.

Die kritische Kriminologie findet die Reaktion auf Terrorismus interessanter als den Terrorismus selbst. Sie beklagt die zunehmende Überwachung, die Geschäftemacherei der Konzerne, die Gefährdung der Grundrechte, die Tendenzen zum autoritären Staat. Manche Leute finden auch diese Gebetsmühle langweilig. Seit 2001 habe ich noch nichts Interessantes gehört oder gelesen, was von wissenschaftlicher Seite zum neuen oder zum alten Terrorismus gesagt worden ist.

Hypothese: der Diskurs des Terrorismus vermeidet die relevanten Fragen und gibt - wenn überhaupt - dann nicht die wahren Antworten, sondern diejenigen, die für die prä-determinierten Bekämpfungsinteressen als nützlich angesehen werden. Man argumentiert sozusagen von dem her, was man machen will. Wenn man sich mit dem Thema X auf keinen Fall befassen will, obwohl es so aussieht, als hätte X mit der Entstehung des Terrorismus zu tun, dann behauptet man einfach: der Terrorismus hat doch mit dem Thema X nichts zu tun! Und wenn man aber in Bezug auf Y sowieso etwas tun möchte, dann sagt man: der Terrorismus hat mit Y zu tun, also müssen wir unbedingt Y tun. Wenn man mit Terroristen verhandeln wollte, dann würde man sagen: das sind doch Leute wie andere Leute auch, also lasst uns mal mit ihnen verhandeln, was sie eigentlich wollen und was wir im Austausch dafür erhalten könnten. Wenn man sie aber lieber physisch eliminieren würde, dann sagt man: das sind doch Verrückte, mit denen hat es doch sowieso keinen Zweck, die kann man nur wie wilde Tiere behandeln: man muss nicht mit ihnen verhandeln, man muss sie unschädlich machen.

5. Praktische Probleme

5.1 Root Causes

Man muss nicht immer die tiefsten Ursachen eines Missstands beheben, um den Missstand selbst an seiner Entfaltung zu hindern. Man muss nicht die Gesellschaft neu erfinden, um in New York die Kriminalität zu bekämpfen. So muss man auch nicht auf den Sankt-Nimmerleins-Tag warten, um das Terror-Problem zu lösen. Es geht auch oberflächlich. Man kann Gelegenheiten verringern, Wiederholungen vorbeugen, einige Randbedingungen verbessern - und schon Erfolge erzielen. Man kann gegen den Terrorismus mit gezielten Tötungen arbeiten, mit Drohnenangriffen, mit Terrorlisten und neuartigen Überwachungs- und Alarmsystemen. Auch das kann den Terrorismus kontrollieren, reduzieren und - bei Kontrolle über kontraproduktive Nebenwirkungen - vielleicht sogar eliminieren. Das ist der Weg der heutigen Terror-Bekämpfung. Vulnerabilitäten sollen entdeckt und beseitigt, terroristische Karrieren frühzeitig entdeckt und Bedrohungen neutralisiert werden. Die aktuelle Terrorismus-Forschung folgt dem "Präventions-Paradigma" und der "Präventionsperspektive" (= correctional perspective) im Sinne David Matzas. Die Präventionsperspektive behindert systematisch die Fähigkeit zur Empathie und zum Perspektivenwechsel und damit die Fähigkeit zum Verstehen derjenigen, die man erforscht.

Man kann sich aber auch vorstellen, dass dem Problem eine tiefe Ungerechtigkeit zugrunde liegt und dass es im Interesse der Opfer dieser Ungerechtigkeit gut wäre, diese Ungerechtigkeit zu beseitigen und zu hoffen, dass damit auch die ewige Reproduktion des Terrorismus verhindert werden würde. Und dass die Bearbeitung der root causes denjenigen Konzessionen abverlangen würde, die heute von der anhaltenden Ungerechtigkeit profitieren - während die bloße Bearbeitung der Oberfläche die Ungerechtigkeit perpetuierte und zugleich die Vorteilslagen der heute von der Ungerechtigkeit profitierenden Akteure verstetigen würde. Mit anderen Worten: bei der Bekämpfung auf der Oberfläche würde der Status Quo mitsamt seiner Ungerechtigkeiten profitieren, während bei der Bekämpfung der root causes die Herrschenden Federn lassen müssten, die Opfer der Ungerechtigkeit aber profitieren könnten.

Dann würde ich mir eine kritische Kriminologie wünschen, die nicht deswegen gegen die Bekämpfung auf der Oberfläche ist, weil das (angeblich) nicht funktionieren könne. Sondern aus Gründen der Gerechtigkeit. Und der Menschenrechte. Das widerspricht der Objektivität und Werturteilsfreiheit der Wissenschaft? Nicht unbedingt. Man kann Alternativen zum Status Quo aufzeigen. Und auf die Unterschiede hinweisen. Die heutige Anti-Terror-Politik läuft auf eine differenzierte Bewertung von Menschenleben hinaus. Eine neue könnte auf eine Gleichbewertung von Menschenleben hinauslaufen. Das wäre argumentierbar.

Was erfahren wir über die Motive von Terroristen, wenn wir den von Max Weber vorgezeichneten Weg des Verstehens einschlagen? Interessanterweise werden wir - wenn wir zuhören - feststellen, dass die Aussagen und Botschaften der Terroristen in den seltensten Fällen völlig unverständlich und irrational sind, und dass es ihnen schon gar nicht um ein verrücktes Bedürfnis geht, Unschuldige zu massakrieren. Eher sind sie von einem ausgeprägten Sinn für politische Gerechtigkeit beseelt - in dem einfachen Sinne, in dem auch westliche Bürger davon beseelt sind: man will keine Fremdherrschaft und schon gar nicht eine militärische Willkürherrschaft. Die meisten Terroristen sehen sich von fremden Mächten bedroht und verletzt, gedemütigt und entehrt - von den Streitkräften und Geheimdiensten der USA, der NATO und damit unserer wichtigsten Bündnispartner und Schutzmächte.

Das zu erfahren, würde uns in ein Dilemma stürzen. Wir würden zwischen Verständnis für die Motive der Terroristen und unserer Bündnistreue schwanken, würden gleichsam zerrissen zwischen zwei Loyalitäten. Wenn es also den USA darum geht, militärisch irgendwo auf fremdem Territorium zu intervenieren, dann ist Deutschland auf der Seite der USA und der NATO zu finden - und wenn es darum geht, wissenschaftlich die Motive der Terroristen zu erkunden, dann entdecken wir eine Sicht auf uns selber als Helfer einer imperialistischen Macht, die überhaupt erst Anlass zum Terrorismus gibt.

Robert Pape (2010) von der University of Chicago kam nach Auswertung von 2200 terroristischen Anschlägen in einem Zeitraum von sechs Jahren zu dem Ergebnis: der entscheidende Faktor für Aufstieg und Niedergang von Selbstmord-Attentats-Kampagnen ist die Stationierung ausländischer Truppen. Mit anderen Worten: "die Stationierung fremder Truppen (führt) zum Entstehen von Selbstmordanschlags-Kampagnen" und der Abzug fremder Truppen führt in "nahezu hundert Prozent der terroristischen Kampagnen zum Verschwinden" dieses Phänomens. Wenn Terroristen zu ihren Anschlägen motiviert sind, weil "unsere" Truppen in ihren Ländern stehen und "unsere" Kampfgeräte ihre Leute umbringen, dann ist es höchst unwahrscheinlich, dass eine Fortsetzung unserer Politik den Terrorismus jemals besiegen wird. Die Motivation zu terroristischen Kampagnen hängt mir der kollektiven Überzeugung ganzer Bevölkerungsgruppen zusammen, sich gegenüber einem übermächtigen Gegner in einer verzweifelten Lage zu befinden. In einer Bedrohungslage, die durch Sanktionen und Kriegsdrohungen, durch Invasionen und Stationierungen von Militär gekennzeichnet ist.

Der Westen verfügt über einen Terrorismus-Diskurs, der die Akteure enthumanisiert und irrationalisiert. Das hilft uns dabei, uns nicht mit der Beseitigung der Ursachen und der Gründe für den Terrorismus zu befassen, sondern diese souverän zu ignorieren - und das wiederum hilft dabei, mehr Truppen, mehr Drohnen, mehr Tötungsmittel zu entsenden. Damit zeigen wir unsere Entschlossenheit, den Kampf nicht aufzugeben. Das Problem damit ist, dass diese Art Starrsinns im Laufe der Geschichte meistens keinen Erfolg hatte. Sie hat einfach nicht funktioniert. Weil sie Reaktanz hervorruft. Kurz gesagt: wenn wir Terrorismus bekämpfen, indem wir die Gründe, die es für Terrorismus gibt, noch weiter vertiefen, dann werden wir noch mehr Terrorismus produzieren statt weniger. Das ist genau das, was Max Weber die Paradoxie von Wollen und Wirkung nannte. Je intensiver die Bekämpfung, desto größer wird das Problem.

Das kennen wir aus der Drogenpolitik und allen anderen großangelegten Regierungskampagnen gegen "Übel". Tannenbaum: dramatization of evil. Regierungen haben keinen Anreiz für eine de-eskalierende Politik, weil die Kriege selbst das Bruttosozialprodukt steigern, weil sie die Macht der Regierung stärken, weil sie Gewinn bringen und einen perfekten Vorwand bieten, um Freiheiten zugunsten immer weiterer Regierungsbefugnisse zu beschneiden. Das oberste Interesse von Regierungen ist nicht der Schutz der Freiheit der Bürger, sondern ihr eigens Organisationsinteresse. Je besser es gelingt, der Bevölkerung Angst vor Terrorismus zu machen, desto bereitwilliger wird die Bevölkerung sich kontrollieren und bevormunden lassen. Governing through crime. Jonathan Simon. Da kann man schon Zweifel daran bekommen, ob Regierungen ihre verfehlte Politik wirklich korrigieren wollen oder ob sie das Scheitern ihrer offizielle deklarierten Ziele nicht nolens volens in Kauf nehmen, um ihre eigentlichen Ziele zu erreichen. Die Anreize sind jedenfalls genau anders als sie sein sollten: je schlimmer es wird, desto bessere Vorwände gibt es für die Expansion der Herrschaftsgewalt.

5.2 Was tun?

(a) Die Finger von Terrorismus und Widerstand lassen? Die kritische Kriminologie lässt gerne die Finger von schwerer Kriminalität. Das gilt besonders für die Vertreter der Labeling-Perspektive. Bei Bagatellen kann man besser zeigen, welch enormen Unterschied die offizielle Bezeichnung als Straftäter haben kann. Wenn man beim Marihuana-Rauchen erwischt wird, kann das erhebliche Folgen haben - schlimmere jedenfalls als das Rauchen selbst. Beim Serienkiller ist das etwas anderes. Der eignet sich nicht so gut für die Darstellung der kriminalitätstreibenden Kraft der Stigmatisierung. Dasselbe gilt für NS-Gewaltverbrechen und Staatsverbrechen. Lauter Themen, deren theoretische und empirische Durchdringung immer noch auf den Beitrag der Kriminologie wartet. Wenn man nach den Ursachen für den Niedergang der Kriminologie fragt, dann sollte man diesen Gesichtspunkt - den der systematischen Vernachlässigung von schwerer Kriminalität und ungeheurer Grausamkeit durch die kritische Kriminologie selbst - nicht außen vor lassen.

(b) In den Chor der Überwachungskritiker einstimmen, die routinemäßig vor dem Ende des Rechtsstaats und der Ineffizienz der jeweils neuen Maßnahmen warnen? Die Formel dieser Kritiker lautet: was ihr da tut, ist erstens gegen unsere Werte und zweitens ist es auch zu nichts nütze. Das verlangt den Kinderglauben, dass die Verletzung hehrer Prinzipien nie zu etwas gut sein, nie die erwünschten Resultate erbringen kann.

(c) Wichtiger wäre es, die technizistische Borniertheit der Terrorismus-Bekämpfung zu kritisieren. Was die Politik von der Wissenschaft will, sind technische Hinweise für eine Schadensminimierung bei unveränderter Militärstrategie, das heißt auf Deutsch: man will die Strategien nicht ändern, die das Problem des Terrorismus produziert haben und immer weiter reproduzieren. Man will aber etwas über Methoden lernen, die bei unveränderter Produktion der Gründe für terroristische Kampagnen deren Entstehen erschwert und deren Erfolge minimiert. Nirgendwo wird das klarer, als an dem Umstand, dass die Bundesregierung ihr viele Millionen schweres Sicherheitsforschungsprogramm für alle Fragen der Organisation, Auswahl und Kontrolle in die Hände der Bundesvereinigung der deutschen Ingenieure legte. - Es ließe sich eine Kriminologie vorstellen, die diesen Rahmen nutzte, um ihn zu sprengen.

(d) Rahmenanalyse. Abweichungen vom Erwartungsfahrplan der Gesellschaft sind nicht von Natur aus entweder "Dummheiten" oder "Krankheiten" oder "Kriminalität". Was von wem wie - und warum und wozu - diagnostiziert wird, hängt von vielen Faktoren ab. Auch Terrorismus lässt sich sehr verschieden rahmen: als soziales Problem, als politische oder unpolitische (Serienkiller-) Kriminalität, als Kriegs- oder Krankheitsphänomen. Nachzuverfolgen, aus welchen Interessen und mit welchen Mechanismen welche Rahmungen vorgenommen wurden und welche sich durchsetzen konnten - das wäre eine lohnende Aufgabe.

(e) Normgenese. Von der Rahmung führen viele Wege zur Veränderung der Gesetze, um diese Rahmung zu etablieren und mit Leben zu füllen. Die Analyse der Gesetzgebungsprozesse und der Etablierung anderer normativer Konstrukte (Terrorlisten) ist lohnend.

(f) Prävention. Kritische Kriminologie würde keine neuen Gründe für Terrorismus liefern; sie sollte ansetzen, wo die Gründe für Terrorismus hergestellt werden, und zwar im Bereich unserer westlichen Politik. Insofern geht es um Reflexivität: nicht auf die Moscheen, sondern auf uns selbst sollten wir blicken. Keine Prävention kann wirken, wenn sie von ihren Zielpersonen als Eingriff und Bevormundung aufgefasst wird, wenn sie als unzulässiger und unerträglicher Eingriff in die eigene Sphäre der Autonomie, der Selbstbestimmung über das, was ich tun und lassen, was ich glauben und wofür ich mich einsetzen will, wahrgenommen wird. Keine wirksame Prävention wird es geben können, solange man durch invasive Methoden die Reaktanz und den Trotz und damit genau den Terrorismus produziert, den man verhindern wollte (Brehm & Brehm).

(g) Die Vermeidung von Reaktanz sollte auch im Vordergrund der Bekämpfung des Terrorismus stehen. Strafverfahren; Justizgewährung. Menschenrechte achten. Why people obey the law. Forschung.

(h) Politikberatung. Keine straf- oder völkerrechtlich unerlaubten Handlungen mehr begehen, keine Bedingungen für Reaktanz mehr setzen. Wenn wir wirklich etwas Wirksames gegen Terrorismus unternehmen wollen, dann sollten wir unseren Verbündeten sagen, dass wir nicht mehr mitkommen - jedenfalls nicht mit Soldaten in fremde Länder, und dass wir raten, auch ihre Truppen abzuziehen. Wir sollten keine Kriege ohne Kriegserklärung mehr führen. Wir sollten keine Kriege mehr führen, wenn es sich um Angriffe auf andere Länder handelt. Wir sollten einen ehrlichen Blick auf alle kriegerischen Aktivitäten werfen und sollten überall dort, wo wir zu der Erkenntnis kommen, dass unsere Aktivitäten verzweifelte Leute zu verzweifelten Abwehrreaktionen gegen westliche oder vom Westen geförderte politische Gewalt motivieren, von diesen Aktiviäten die Finger lassen.


Literatur

  • Abele, Andrea, Stefan Mitzlaff, Wolf Nowack, Hg. (1975) Abweichendes Verhalten, Erklärungen, Scheinerklärungen und praktische Probleme. Bielefeld: Frommann-Holzboog.
  • Becker, Howard S. (1967) 'Whose Side Are We On?', Social Problems 14: 239–47.
  • Gouldner, Alvin W. (1968) "The Sociologist as Partisan: Sociology and the Welfare State." The American Sociologist. 3:103-116.
  • Hermann, Rainer (2012) Eine Auslöschung. Das Massaker von Hula ist ein Wendepunkt im syrischen Konflikt. FAZ 14.06.2012: 12.
  • Hess, Henner (1988) Terrorismus und Terrorismus-Diskurs. In: Hess, H. u.a. (Hg.): Angriff auf das Herz des Staates. Soziale Entwicklung und Terrorismus. Bd. 1 Suhrkamp, Frankfurt: 55-74.
  • Matza, David (1973) Abweichendes Verhalten. Heidelberg: Quelle & Meyer.
  • Pape, Robert & James Ke Feldman (2010) Cutting the Fuse: The Explosion of Global Suicide Terrorism and How to Stop It. Chicago: Chicago University Press.
  • Paul, Ron (2011) Liberty Defined. 50 Essential Issues That Affect Our Freedom. New York, Boston: Grand Central.

Weblinks