Terrorismus und Widerstand: Erklärungen, Scheinerklärungen und praktische Probleme 23.6.12: Unterschied zwischen den Versionen

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Von der Kriminologie wird heutzutage erwartet, dass sie einen Beitrag zur Bekämpfung des von manchen so genannten Neuen Terrorismus leiste. Ob "neu" oder nicht: gemeint ist damit auf jeden Fall der aus dem islamischen Kulturkreis stammende Terrorismus der Selbstmordattentate und der Angriffe dschihadistischer Milizen in und aus verschiedenen Weltgegenden. Die Kriminologie soll nicht - wie die Kriminalistik - den Sprengstoff analysieren und Spurensuche betreiben, sie könnte aber, so die Hoffnung, etwas mehr über die Ursachen und Erscheinungsformen, die mittel- und langfristigen Entwicklungstendenzen und die Bedingungen und Strategien sagen, unter denen sich dieses Problem eindämmen ließe. - Dass die Kriminologie diese Aufgabe nicht zurückweist, erscheint selbstverständlich. Erstens gehören Tötungsdelikte zum Kernbereich der Kriminalität, zweitens gibt es hier öffentliche Aufmerksamkeit und finanzielle Möglichkeiten für das Überleben der Disziplin und ihrer Absolventen - und drittens dürfte und sollte auch das Leiden der Opfer ein Grund sein, sich dieser Aufgabe nicht zu verschließen. - Die  berühmte Frage "Whose Side Are We On?" wird im Falle des Terrorismus einmal - erleichternder Weise - nicht als Ausdruck eines Dilemmas empfunden, sondern scheint guten Gewissens eindeutig beantwortbar. Warum sollten wir uns denn schämen für unsere Parteinahme für die Opfer, für den freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat, für den westlichen Lebensstil mit der Meinungsfreiheit, Menschenwürde und all den persönlichen Entfaltungsmöglichkeiten im säkularen Staat? In gewissem Sinne verhilft uns der Terrorismus sogar dazu, die oftmals als selbstverständlich vorausgesetzten Freiheiten wieder zu empfinden und würdigen zu können. - Auffällig ist, dass es gar keinen Streit zwischen traditioneller und kritischer, zwischen ätiologischer und etikettierungstheoretischer und zwischen herrschaftsstabilisierender und herrschaftskritischer Kriminologie mehr zu geben scheint. Man könnte daraus die Hoffnung schöpfen, dass der Streit um des Streitens willen angesichts solcher Grundfragen als unwichtig angesehen wird. Es könnte sich aber auch darum handeln, dass die kritische Kriminologie mausetot ist: ausgerechnet jetzt, in einer Situation, wo man sie besonders braucht. Und das ist meine Befürchtung. Ich meine - und dieser Fährte will ich im Folgenden nachgehen - dass die kritische Kriminologie inzwischen nicht mehr existiert, und dass der Terrorismus ein Nagel zu ihrem Sarg war. Die Ruhe zwischen den Lagern ist eine Friedhofsruhe. gäbe es die kritische Kriminologie noch, dann könnte sich die Erkenntnis Bahn brechen, dass wir die Terroristen sind und dass die Terroristen sich im Widerstand befinden, ohne dass sie deswegen das Terrorist-Sein aufgeben müßten. Denn man kann Terrorist und Widerständler und man kann Führernation der freien Welt und zugleich auch Terrorist sein.  
Von der Kriminologie wird heutzutage erwartet, dass sie einen Beitrag zur Bekämpfung des von manchen so genannten Neuen Terrorismus leiste. Ob "neu" oder nicht: gemeint ist damit auf jeden Fall der aus dem islamischen Kulturkreis stammende Terrorismus der Selbstmordattentate und der Angriffe dschihadistischer Milizen in und aus verschiedenen Weltgegenden. Die Kriminologie soll nicht - wie die Kriminalistik - den Sprengstoff analysieren und Spurensuche betreiben, sie könnte aber, so die Hoffnung, etwas mehr über die Ursachen und Erscheinungsformen, die mittel- und langfristigen Entwicklungstendenzen und die Bedingungen und Strategien sagen, unter denen sich dieses Problem eindämmen ließe. - Dass die Kriminologie diese Aufgabe nicht zurückweist, erscheint selbstverständlich. Erstens gehören Tötungsdelikte zum Kernbereich der Kriminalität, zweitens gibt es hier öffentliche Aufmerksamkeit und finanzielle Möglichkeiten für das Überleben der Disziplin und ihrer Absolventen - und drittens dürfte und sollte auch das Leiden der Opfer ein Grund sein, sich dieser Aufgabe nicht zu verschließen. - Die  berühmte Frage "Whose Side Are We On?" wird im Falle des Terrorismus einmal - erleichternder Weise - nicht als Ausdruck eines Dilemmas empfunden, sondern scheint guten Gewissens eindeutig beantwortbar. Warum sollten wir uns denn schämen für unsere Parteinahme für die Opfer, für den freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat, für den westlichen Lebensstil mit der Meinungsfreiheit, Menschenwürde und all den persönlichen Entfaltungsmöglichkeiten im säkularen Staat? In gewissem Sinne verhilft uns der Terrorismus sogar dazu, die oftmals als selbstverständlich vorausgesetzten Freiheiten wieder zu empfinden und würdigen zu können. - Auffällig ist, dass es gar keinen Streit zwischen traditioneller und kritischer, zwischen ätiologischer und etikettierungstheoretischer und zwischen herrschaftsstabilisierender und herrschaftskritischer Kriminologie mehr zu geben scheint. Man könnte daraus die Hoffnung schöpfen, dass der Streit um des Streitens willen angesichts solcher Grundfragen als unwichtig angesehen wird. Es könnte sich aber auch darum handeln, dass die kritische Kriminologie mausetot ist: ausgerechnet jetzt, in einer Situation, wo man sie besonders braucht. Und das ist meine These. Der Terrorismus war der letzte Nagel zum Sarg der kritischen Kriminologie. Die ist mausetot und begraben. Die Ruhe zwischen den Lagern ist eine Friedhofsruhe.
 
Gäbe es die kritische Kriminologie noch, dann könnte sich die Erkenntnis Bahn brechen, dass wir die Terroristen sind und dass die Terroristen sich im Widerstand befinden, ohne dass sie deswegen das Terrorist-Sein aufgeben müßten. Denn man kann Terrorist und Widerständler und man kann Führernation der freien Welt und zugleich auch Terrorist sein.
 
== Aktive Kriminologie ==
Wissenschaft macht für die Mächtigen vielleicht auch dann Sinn, wenn sie nur als Deckmantel für den Diskurs und die Dispositive der Macht fungiert. Man hat eine Entscheidung getorffen und will sie durchsetzen. Das geht am besten, wenn man sie mit "wissenschaftlichen Erkenntnissen" begründet und damit unangreifbar macht. Das ist die passive Funktion von Wissenschaft. Die eigentliche und aktive Funktion der Wissenschaft besteht jedoch darin, richtige Erkenntnis zu produzieren, also Phänomene korrekt zu beschreiben und bislang noch nicht bekannte Zusammenhänge aufzudecken - und zwar auch dann, wenn es sich um unbequeme Dinge handelt. Unbequem für die Geldgeber, unbequem für die Gesellschaft, unbequem für die Wissenschaftler selbst. Voraussetzung dafür ist die Freiheit der Wissenschaft: die Freiheit der Sammlung von Informationen, der Verarbeitung und der Veröffentlichung von Informationen. Diese Freiheit gibt es - in reinster Form - nirgendwo auf der Welt. Sie ist durch Verfassungsartikel, durch einfache Gesetze, durch die Verweigerung von Aufmerksamkeit und Forschungsförderung, durch Angst vor informellen Sanktionen, Exklusionen und Stigmatisierungen, durch verinnerlichte Ideologeme und Haltungen eingeschränkt. Manches davon lässt sich umgehen, manches abgewöhnen, aber so wie es in jeder Religion nur wenige Heilige gibt, so gibt es auch in der Wissenschaft nur wenige, deren Haltung sie als Vorbild für alle empfehlen könnte. Der langen Rede kurzer Sinn: um eine aktive Funktion erfüllen zu können, müssten Kriminologinnen zunächst einmal alle möglichen Fragen stellen können, natürlich auch ungewöhnliche, ohne die sich ja nie etwas Neues erkennen ließe. Das erscheint trivial, ist es aber nicht. Denn zum Fragen gehören Begriffe, die Fragen erlauben, und die nicht Fragen verbieten.




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# Kritik der Wohlanständigkeit (bienséance). Widerstandshelden und Terroristen: Gemeinsamkeiten, Unterschiede; Vergleich ist anstößig, wäre aber erkenntnisträchtig. Durkheim.  
# Kritik der Wohlanständigkeit (bienséance). Widerstandshelden und Terroristen: Gemeinsamkeiten, Unterschiede; Vergleich ist anstößig, wäre aber erkenntnisträchtig. Durkheim.  
# Kritik der Immanenz. Man ersinnt nur technische Prävention, man könnte aber erstens die kriminogene Wirkung der Politik untersuchen - was Aktion (Angriffskrieg) angeht, was Reaktion (Widerstand der Terroristen) angeht, und zweitens auch auf der Ebene Untersuchungen anstellen über mögliche Präventionsstrategien. Die beste Prävention gegen Terroranschläge in Afghanistan ist vielleicht der Abzug der Truppen und die Einstellung von Drohnenangriffen.  
# Kritik der Immanenz. Man ersinnt nur technische Prävention, man könnte aber erstens die kriminogene Wirkung der Politik untersuchen - was Aktion (Angriffskrieg) angeht, was Reaktion (Widerstand der Terroristen) angeht, und zweitens auch auf der Ebene Untersuchungen anstellen über mögliche Präventionsstrategien. Die beste Prävention gegen Terroranschläge in Afghanistan ist vielleicht der Abzug der Truppen und die Einstellung von Drohnenangriffen.  
* Kritik der Dekontextualisierung. Terrorismus ist Widerstand und ist immer bezogen auf das, wogegen der Widerstand geleistet wird - und reagiert immer auf die Bekämpfung, so wie die Bekämpfung auf den Terrorismus reagiert. Mit anderen Worten: das eine ist das andere: "Context is all" (Margaret Atwood). Doppelinstitution. Wie Zwillingstürme.
#Kritik der Dekontextualisierung. Terrorismus ist Widerstand und ist immer bezogen auf das, wogegen der Widerstand geleistet wird - und reagiert immer auf die Bekämpfung, so wie die Bekämpfung auf den Terrorismus reagiert. Mit anderen Worten: das eine ist das andere: "Context is all" (Margaret Atwood). Doppelinstitution. Wie Zwillingstürme.
 
 






== Aktive Kriminologie ==
Wissenschaft macht für die Mächtigen vielleicht auch dann Sinn, wenn sie nur als Deckmantel für den Diskurs und die Dispositive der Macht fungiert. Man hat eine Entscheidung getorffen und will sie durchsetzen. Das geht am besten, wenn man sie mit "wissenschaftlichen Erkenntnissen" begründet und damit unangreifbar macht. Das ist die passive Funktion von Wissenschaft. Die eigentliche und aktive Funktion der Wissenschaft besteht jedoch darin, richtige Erkenntnis zu produzieren, also Phänomene korrekt zu beschreiben und bislang noch nicht bekannte Zusammenhänge aufzudecken - und zwar auch dann, wenn es sich um unbequeme Dinge handelt. Unbequem für die Geldgeber, unbequem für die Gesellschaft, unbequem für die Wissenschaftler selbst. Voraussetzung dafür ist die Freiheit der Wissenschaft: die Freiheit der Sammlung von Informationen, der Verarbeitung und der Veröffentlichung von Informationen. Diese Freiheit gibt es - in reinster Form - nirgendwo auf der Welt. Sie ist durch Verfassungsartikel, durch einfache Gesetze, durch die Verweigerung von Aufmerksamkeit und Forschungsförderung, durch Angst vor informellen Sanktionen, Exklusionen und Stigmatisierungen, durch verinnerlichte Ideologeme und Haltungen eingeschränkt. Manches davon lässt sich umgehen, manches abgewöhnen, aber so wie es in jeder Religion nur wenige Heilige gibt, so gibt es auch in der Wissenschaft nur wenige, deren Haltung sie als Vorbild für alle empfehlen könnte. Der langen Rede kurzer Sinn: um eine aktive Funktion erfüllen zu können, müssten Kriminologinnen zunächst einmal alle möglichen Fragen stellen können, natürlich auch ungewöhnliche, ohne die sich ja nie etwas Neues erkennen ließe. Das erscheint trivial, ist es aber nicht. Denn zum Fragen gehören Begriffe, die Fragen erlauben, und die nicht Fragen verbieten.


== Definitionssperren ==
== Definitionssperren ==
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