Terrorismus und Widerstand: Erklärungen, Scheinerklärungen und praktische Probleme 23.6.12: Unterschied zwischen den Versionen

keine Bearbeitungszusammenfassung
Zeile 5: Zeile 5:
Die  berühmte Frage "Whose Side Are We On?" wird im Falle des Terrorismus einmal - erleichternder Weise - nicht als Ausdruck eines Dilemmas empfunden, sondern scheint guten Gewissens eindeutig beantwortbar. Warum sollten wir uns denn schämen für unsere Parteinahme für die Opfer, für den freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat, für den westlichen Lebensstil mit der Meinungsfreiheit, Menschenwürde und all den persönlichen Entfaltungsmöglichkeiten im säkularen Staat? In gewissem Sinne verhilft uns der Terrorismus sogar dazu, die oftmals als selbstverständlich vorausgesetzten Freiheiten wieder zu empfinden und würdigen zu können.  
Die  berühmte Frage "Whose Side Are We On?" wird im Falle des Terrorismus einmal - erleichternder Weise - nicht als Ausdruck eines Dilemmas empfunden, sondern scheint guten Gewissens eindeutig beantwortbar. Warum sollten wir uns denn schämen für unsere Parteinahme für die Opfer, für den freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat, für den westlichen Lebensstil mit der Meinungsfreiheit, Menschenwürde und all den persönlichen Entfaltungsmöglichkeiten im säkularen Staat? In gewissem Sinne verhilft uns der Terrorismus sogar dazu, die oftmals als selbstverständlich vorausgesetzten Freiheiten wieder zu empfinden und würdigen zu können.  


Auffällig ist allerdings, dass der Streit zwischen traditioneller und kritischer, zwischen ätiologischer und etikettierungstheoretischer und zwischen herrschaftsstabilisierender und herrschaftskritischer Kriminologie bei diesem Thema gar keine Rolle mehr zu spielen scheint. Das ist an sich nicht schlimm und auf das Ritual des vorhersehbaren Schlagabtausches in kriminologischen Diskussionen kann man ja auch mal ganz gut verzichten.
Auffällig ist, dass es gar keinen Streit zwischen traditioneller und kritischer, zwischen ätiologischer und etikettierungstheoretischer und zwischen herrschaftsstabilisierender und herrschaftskritischer Kriminologie mehr zu geben scheint. Man könnte daraus die Hoffnung schöpfen, dass der Streit um des Streitens willen angesichts solcher Grundfragen als unwichtig angesehen wird. Es könnte sich aber auch darum handeln, dass die kritische Kriminologie mausetot ist: ausgerechnet jetzt, in einer Situation, wo man sie besonders braucht. Und das ist meine Befürchtung. Ich meine - und dieser Fährte will ich im Folgenden nachgehen - dass die kritische Kriminologie inzwischen nicht mehr existiert, und dass der Terrorismus ein Nagel zu ihrem Sarg war. Die Ruhe zwischen den Lagern ist eine Friedhofsruhe. Um diese These diskutieren zu können, beginne ich mit folgenden Thesen:
 
*''Aktive Kriminologie.'' Wissenschaft macht für die Mächtigen vielleicht auch dann Sinn, wenn sie nur als Deckmantel für den Diskurs und die Dispositive der Macht fungiert. Man hat eine Entscheidung getorffen und will sie durchsetzen. Das geht am besten, wenn man sie mit "wissenschaftlichen Erkenntnissen" begründet und damit unangreifbar macht. Das ist die passive Funktion von Wissenschaft. Die eigentliche und aktive Funktion der Wissenschaft besteht jedoch darin, richtige Erkenntnis zu produzieren, also Phänomene korrekt zu beschreiben und bislang noch nicht bekannte Zusammenhänge aufzudecken - und zwar auch dann, wenn es sich um unbequeme Dinge handelt. Unbequem für die Geldgeber, unbequem für die Gesellschaft, unbequem für die Wissenschaftler selbst. Voraussetzung dafür ist die Freiheit der Wissenschaft: die Freiheit der Sammlung von Informationen, der Verarbeitung und der Veröffentlichung von Informationen. Diese Freiheit gibt es - in reinster Form - nirgendwo auf der Welt. Sie ist durch Verfassungsartikel, durch einfache Gesetze, durch die Verweigerung von Aufmerksamkeit und Forschungsförderung, durch Angst vor informellen Sanktionen, Exklusionen und Stigmatisierungen, durch verinnerlichte Ideologeme und Haltungen eingeschränkt. Manches davon lässt sich umgehen, manches abgewöhnen, aber so wie es in jeder Religion nur wenige Heilige gibt, so gibt es auch in der Wissenschaft nur wenige, deren Haltung sie als Vorbild für alle empfehlen könnte. Der langen Rede kurzer Sinn: um eine aktive Funktion erfüllen zu können, müssten Kriminologinnen zunächst einmal alle möglichen Fragen stellen können, natürlich auch ungewöhnliche, ohne die sich ja nie etwas Neues erkennen ließe. Das erscheint trivial, ist es aber nicht. Denn zum Fragen gehören Begriffe, die Fragen erlauben, und die nicht Fragen verbieten.
 
* ''Definitional stop.'' Die Kriminologie ist, gemessen an dem Niveau, das sie bräuchte, um eine aktive Rolle zu spielen, schon so tief in den Sumpf des politisch motivierten Legitimationsdiskurses gesunken, dass ihr nicht einmal kluge Fragen mehr möglich sind. Ich möchte das am Beispiel potentieller Fragen und der Schwierigkeiten darstellen, mit denen die Möglichkeit, diese Fragen überhaupt zu stellen, zu kämpfen haben. Eine potentielle Frage betrifft ein Gedankenexperiment. Was wäre eigentlich mit einem Forschungsprojekt, das der Frage nachginge, inwiefern eine Steigerung der Effizienz der Terrorismus-Bekämpfung durch den Einsatz staatlicher Terroristen-Gruppen erzielt werden könnte? Wäre es nützlich, würde es in the long run sogar viele Menschenleben retten können, wenn man dazu überginge, den Gegner sozusagen mit seinen eigenen Mitteln zu schlagen? Dieser Frage weicht die herrschende Meinung aus, und sie kann es auch. Denn für die Staatskriminologie ist die Frage unsinnig und deshalb nicht zulässig. Sie enthält die Voraussetzung, dass auch der Staat Terrorismus begehen kann. Das ist aber definitorisch unmöglich, denn Terrorismus ist nach herrschender Meinung nur das, was nichtstaatliche Gruppen tun. Also kann es schon rein begrifflich keine Situation geben, wie die, nach der gefragt wurde. Die herrschende Meinung geht ja sogar noch weiter: in Gestalt von Walter Laqueur erklärt sie, man habe keine Definition und man brauche auch keine Definition. Offenbar könne man ja Terrorismus auch ohne Definition erforschen und sogar bekämpfen. Das ist nichts anderes als ein Trick, um einem Argument auszuweichen. Herbert L.A. Hart nennt das eine Definitionssperre oder einen ''definitional stop''.
 
Kritische Kriminologie verdient aber dieses Beiwort nicht, wenn sie nicht in der Lage ist, klare Definitionen zu konstruieren: "Wie Lassalle sagte, ist und bleibt die revolutionärste Tat, immer 'das laut zu sagen, was ist'" (Rosa Luxemburg). Man kann aber nur sagen was ist, wenn man dafür Begriffe hat. Und für die Wissenschaft, die andere Zwecke verfolgt als die Politik, muss man sagen: wenn man Begriffe hat, mit denen man wissenschaftlich arbeiten kann.  


Es könnte aber auch sein, dass hier nicht nur auf einen Sturm im Wasserglas verzichtet wird, sondern dass etwas geschehen ist, was Anlass zu Sorge geben könnte. Ich meine - und dieser Fährte will ich im Folgenden nachgehen - dass die kritische Kriminologie inzwischen nicht mehr existiert, und dass der Terrorismus ein Nagel zu ihrem Sarg war. Die Ruhe zwischen den Lagern ist eine Friedhofsruhe.


Ich möchte das in Thesenform begründen, und zwar folgendermaßen:


*''Aktive Kriminologie.'' Wissenschaft macht für die Mächtigen vielleicht auch dann Sinn, wenn sie nur als Deckmantel für den Diskurs und die Dispositive der Macht fungiert. Man hat eine Entscheidung getorffen und will sie durchsetzen. Das geht am besten, wenn man sie mit "wissenschaftlichen Erkenntnissen" begründet und damit unangreifbar macht. Das ist die passive Funktion von Wissenschaft. Die eigentliche und aktive Funktion der Wissenschaft besteht jedoch darin, richtige Erkenntnis zu produzieren, also Phänomene korrekt zu beschreiben und bislang noch nicht bekannte Zusammenhänge aufzudecken - und zwar auch dann, wenn es sich um unbequeme Dinge handelt. Unbequem für die Geldgeber, unbequem für die Gesellschaft, unbequem für die Wissenschaftler selbst. Voraussetzung dafür ist die Freiheit der Wissenschaft: die Freiheit der Sammlung von Informationen, der Verarbeitung und der Veröffentlichung von Informationen. Diese Freiheit gibt es - in reinster Form - nirgendwo auf der Welt. Sie ist durch Verfassungsartikel, durch einfache Gesetze, durch die Verweigerung von Aufmerksamkeit und Forschungsförderung, durch Angst vor informellen Sanktionen, Exklusionen und Stigmatisierungen, durch verinnerlichte Ideologeme und Haltungen eingeschränkt. Manches davon lässt sich umgehen, manches abgewöhnen, aber so wie es in jeder Religion nur wenige Heilige gibt, so gibt es auch in der Wissenschaft nur wenige, deren Haltung sie als Vorbild für alle empfehlen könnte. Der langen Rede kurzer Sinn: um eine aktive Funktion erfüllen zu können, müssten Kriminologinnen zunächst einmal alle möglichen Fragen stellen können, natürlich auch ungewöhnliche, ohne die sich ja nie etwas Neues erkennen ließe. Das erscheint trivial, ist es aber nicht. Denn zum Fragen gehören Begriffe, die Fragen erlauben, und die nicht Fragen verbieten.


* ''Definitional stop.'' Die Kriminologie ist, gemessen an dem Niveau, das sie bräuchte, um eine aktive Rolle zu spielen, schon so tief in den Sumpf des politisch motivierten Legitimationsdiskurses gesunken, dass ihr nicht einmal kluge Fragen mehr möglich sind. Ich möchte das am Beispiel potentieller Fragen und der Schwierigkeiten darstellen, mit denen die Möglichkeit, diese Fragen überhaupt zu stellen, zu kämpfen haben. Eine potentielle Frage betrifft ein Gedankenexperiment. Was wäre eigentlich mit einem Forschungsprojekt, das der Frage nachginge, inwiefern eine Steigerung der Effizienz der Terrorismus-Bekämpfung durch den Einsatz staatlicher Terroristen-Gruppen erzielt werden könnte? Wäre es nützlich, würde es in the long run sogar viele Menschenleben retten können, wenn man dazu überginge, den Gegner sozusagen mit seinen eigenen Mitteln zu schlagen?




31.738

Bearbeitungen