Tötologie: Unterschied zwischen den Versionen

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*(6) Motivation zur Begehung von Massenmord, vor allem durch die Beschwörung des "nationalen Interesses" durch höchste Regierungsmitglieder und Polizei- bzw. Militärchefs (S. 83).  
*(6) Motivation zur Begehung von Massenmord, vor allem durch die Beschwörung des "nationalen Interesses" durch höchste Regierungsmitglieder und Polizei- bzw. Militärchefs (S. 83).  


 
Harald Welzer (2005; 2007) meint, man müsse lediglich eine einzige soziale Koordinate verschieben. Alles andere sei dann nur noch eine Frage der Technik. Dabei handele es sich um eine radikale Trennung zwischen zwei Personengruppen (z.B. Hutu vs. Tutsi): "Die Täter müssen diese Trennung so stark empfinden, daß sie die Vertreter der anderen Gruppe nicht mehr als Menschen wahrnehmen. Das klingt nach viel Aufwand. Aber das Erschreckende ist, daß sich solche Differenzen durch geschickte Propaganda und die Praxis alltäglicher Ausgrenzung relativ schnell und leicht aufbauen lassen." Zweitens müssen Menschen zu Mördern erzogen werden. Auch das ist leichter als gedacht, wenn sie "früh genug entsprechend gedrillt werden". Rätselhafter sei die Frage, wie man erwachsene Menschen zu Massenmördern machen könne, die davor bereits eine ganz andere Art von Erziehung genossen hätten. Es bedürfe dafür aber keiner besonderen Veranlagung. Fast jeder Mensch sei in der Lage, zu einem Töter von wehrlosen Menschen zu werden, auch von Kindern. Es habe bei allen Massenmorden immer nur wenig Menschen gegeben, die sich geweigert hätten, Wehrlose zu töten. Doch das seien immer nur erschreckend wenige gewesen: "Daher glaube ich, daß die allermeisten Menschen potentielle Massenmörder sind. Weder Bildung noch Religion, noch sonst irgend etwas macht einen offensichtlich dagegen immun, sich für das Morden zu entscheiden." Die Persönlichkeitstests der Hauptkriegsverbrecher nach dem Zweiten Weltkrieg ergaben "kaum Auffälliges. In der Regel rangierten die Massenmörder irgendwo im Durchschnittsbereich. Bei den meisten ließen sich keine sadistischen Neigungen feststellen." Welzer hält Zygmunt Baumanns Begriff der „Rationalität des Bösen“ für treffend: "Personen, die an einem Genozid mitwirken, darf man sich nicht einfach als Berserker vorstellen. Es sind denkende Wesen. Sie sind in der Lage, rationale Begründungen für ihr Morden zu entwickeln, und das tun sie in der Regel auch." Zwischen der Erteilung des Schießbefehles und der Ausführung liegt häufig ein längerer Zeitraum -  Zeit für Reflexion und Rationalisierung: "In der Regel werden bei Völkermorden anfangs Männer getötet. Erst später kommen Frauen und schließlich Kinder an die Reihe. Es ist ein schrittweiser Annäherungsprozeß. Das Töten von Kindern fällt am schwersten, selbst wenn man sie für kleine Untermenschen hält. Da braucht es meist eine ganze Reihe von Argumenten. Einer der Täter berichtete, er habe ausschließlich Kinder erschossen, während andere nur die Mütter getötet hätten: 'Ich wußte, daß die Kinder ohne ihre Mütter sowieso nicht überlebensfähig wären, und ich habe sie daher erlöst, indem ich sie tötete', sagte er ...Im Rahmen seiner Wahrnehmung war der Kindermord tatsächlich sinnvoll."
Der Massenmord erfordert eine Art von Moral in dem Sinne, dass man sich sagen muss, dass das Töten für etwas gut ist, z.B. für das Wohlergehen der Gesellschaft:"Man kann töten und gleichzeitig anständig bleiben: 'Ich will das ja nicht. Es wird ja nur von mir verlangt.' So kann man sich von der Rolle distanzieren, die man meint einnehmen zu müssen. Man tut ja nur seine Pflicht. Diese Art von Moral war die Voraussetzung, die es vielen Menschen erst ermöglicht hat, Wehrlose zu töten." - Den Glauben, dass es autoritär auftretende Führer brauche, um Leute zu Massenmorden zu bewegen, teilt Welzer nicht: "Manchmal sind es gerade vergleichsweise sanfte Vorgesetzte, die für die Organisation von Massenexekutionen zuständig sind. In vielen Fällen werden die Tötungsbefehle gar nicht explizit erteilt, sondern eher allgemein gehalten, als sogenannte Rahmenbefehle. Den potentiellen Tätern läßt man einen relativ großen Spielraum. Es wäre ja, zynisch gesprochen, vom Tötungsmanagement her auch gar nicht sinnvoll, die Leute zum Töten zu zwingen. So ein Prozeß läuft nicht reibungslos ab, wenn man Personen dazu verpflichtet, die massive Schwierigkeiten damit haben. Die schießen dann womöglich daneben, erleiden einen Nervenzusammenbruch oder müssen sich übergeben. Das Interessante ist: Es finden sich immer genügend Leute, die sich zum Töten bereit erklären. ...
Stellen Sie sich folgende Situation vor: Ein Vorgesetzter erteilt Ihnen einen sehr unangenehmen Auftrag. Wenn Ihnen dieser Mensch sympathisch ist und er gleichzeitig glaubwürdig zum Ausdruck bringt, daß er selbst mit diesem Auftrag auch nicht recht glücklich ist, aber halt dafür sorgen muß, daß er erfüllt wird, dann ist das doch viel motivierender als ein knallharter Befehl. Das weckt Solidarität. Dieses Prinzip machen sich übrigens seit langem auch Manager aus der Privatwirtschaft zunutze: Viele haben erkannt, daß ein gewisser Handlungsspielraum für die Untergebenen bei arbeitsteiligen Projekten meist zu besseren Resultaten führt als simple Befehlsketten." - Ist man erst einmal dabei, dann hört man nicht irgendwann auf, weiter zu töten: "Sobald man einige Schritte vorwärts gegangen ist, wird es immer schwieriger, wieder zurück an den Anfang zu gehen. Man müßte dann ja alle bisherigen Schritte in Frage stellen. Da geht man lieber in die ursprüngliche Richtung weiter. Auch bis zum bitteren Ende." Zögern taucht allerdings oft dann auf, wenn man Menschen erschießen soll, die man persönlich kennt. Insofern ist es gut, Kontakte zu fördern, wenn man Massenmorde verhindern will - auch wenn das kein sicheres Rezept ist. - Dass Menschen manchmal Spaß an der Beobachtung der Qualen anderer haben, erklärt Welzer mit der großen Unsicherheit der menschlichen Existenz: "Vielleicht läßt sich die Lust am Beobachten der Qualen anderer daher nicht zuletzt als Ausdruck solcher Ängste verstehen. Das Betrachten des Leids anderer dokumentiert: Ich bin davongekommen. Man kann eine Exekution dann vielleicht sogar genießen, sich daran ergötzen." - Auch hätten Massenmörder wenig Probleme damit, das alles seelisch zu bewältigen.




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*Grossman, David (1995) On Killing: The Psychological Cost of Learning to Kill in War and Society
*Grossman, David (1995) On Killing: The Psychological Cost of Learning to Kill in War and Society
*Grossman, David (1999) Warum töten wir? Kinder sind wie Soldaten: man kann sie lehren, Menschen umzubringen. Der Militärpsychologe Dave Grossman hält Videospiele für ein gutes Training. DIE ZEIT Nr. 39, 23. 09. 1999. Sektion "Leben", S. 5.
*Grossman, David (1999) Warum töten wir? Kinder sind wie Soldaten: man kann sie lehren, Menschen umzubringen. Der Militärpsychologe Dave Grossman hält Videospiele für ein gutes Training. DIE ZEIT Nr. 39, 23. 09. 1999. Sektion "Leben", S. 5.
*Welzer,  Harald (2005) Täter - Wie aus ganz normalen Menschen Massenmörder werden. Frankfurt: Fischer (2. Aufl. 2007)
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