Tötologie

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Tötologie (von David Grossmans Begriff der killology; vgl. Grossman 1995, 1999) ist die Wissenschaft von den Voraussetzungen und Prozessen, die in Menschen die Fähigkeit und Bereitschaft hervorbringen, trotz ursprünglich vorhandener Tötungshemmungen andere Menschen in unbestimmter Anzahl mit einem Minimum an Schuldgefühlen vom Leben zum Tode zu befördern.

In den ersten Lebensjahren lernen Menschen den Umgang mit Aggressionen und dass sie nicht töten sollen (Akquisitionslernen). Angehörige der staatlichen Zwangsstäbe lernen später, auf Befehl zu töten. Dazu müssen sie in gewissem Maße verlernen, was sie vorher gelernt hatten (Extinktionslernen). Extinktionslernen ist deshalb schwieriger, weil Menschen dazu tendieren, unter Stress wieder auf das ursprünglich Erlernte zurückzufallen (Grossman sieht darin das Problem der nicht-schießenden Soldaten in früheren Kriegen wie z.B. dem amerikanischen Bürgerkrieg oder dem Ersten Weltkrieg).

Troy Duster (1973) nennt die folgenden Bedingungen für "Massenmord ohne Schuldgefühl":

  • Die allgemeinste Bedingung ist es, dass den Opfern der Status von gleichwertigen Menschen abgesprochen wird (Semantische und hierarchisch-administrative Abwertung der Kultur oder Rasse der - künftigen - Opfer; räumliche Trennung)
  • (1) Herstellung einer Verbindung zwischen dem Wohlergehen der Gesellschaft und dem Vertrauen in ihr organisiertes Gewaltinstrument (Armee, Polizei) - erhöhtes Vertrauen in die Richtigkeit obrigkeitlichen Handelns
  • (2) Ideologie von der Überlegenheit des organisatorischen Willens gegenüber der Qualität individueller Handlungsgründe
  • (3) Verbindung zwischen den Resten individueller Verantwortlichkeit und der Organisation und ihren Regeln: "Loyalität gegenüber der Organisation wird wichtiger als jede andere Erwägung, jede andere Loyalität, jede andere Moral und Verletzung dieser Loyalität führt zur Ächtung" (S. 80).
  • (4) "Viertens haben Organisationen genauso wie der einzelne Polizist oder Soldat, der Schuld vermeiden kann, indem er die Deckung der Organisation sucht, ihre Strategien, Schuldvorwürfe zu vermeiden. Die wirkungsvollsten davon sind Heimlichkeit und Absonderung, gewöhnlich beide kombiniert" (S. 81 f.).
  • (5) "Die fünfte Bedingung ist die Existenz einer (buchstäblich) 'Ziel'- Population. Man braucht eine Population zum Ausrotten, eine verletzliche Population, eine Population mit geringerer Feuerkraft (oder besser ohne jede Feuerkraft)" (S. 82).
  • (6) Motivation zur Begehung von Massenmord, vor allem durch die Beschwörung des "nationalen Interesses" durch höchste Regierungsmitglieder und Polizei- bzw. Militärchefs (S. 83).

Harald Welzer (2005b) skizziert die Bedingungen ganz ähnlich wie Troy Duster.

  • (1) Er meint, man müsse - als allgemeinste Voraussetzung - lediglich eine einzige soziale Koordinate verschieben, nämlich eine radikale Trennung zwischen zwei Personengruppen konstruieren, dann sei alles andere nur noch eine Frage der Technik: "Die Täter müssen diese Trennung so stark empfinden, daß sie die Vertreter der anderen Gruppe nicht mehr als Menschen wahrnehmen. Das klingt nach viel Aufwand. Aber das Erschreckende ist, daß sich solche Differenzen durch geschickte Propaganda und die Praxis alltäglicher Ausgrenzung relativ schnell und leicht aufbauen lassen."
  • (2) Zweitens müssen Menschen zu Mördern erzogen werden. Auch das ist leichter als gedacht, wenn sie "früh genug entsprechend gedrillt werden".
  • (3) Rätselhafter sei die Frage, wie man erwachsene Menschen zu Massenmördern machen könne, die davor bereits eine ganz andere Art von Erziehung genossen hätten. Es bedürfe dafür aber keiner besonderen Veranlagung. Fast jeder Mensch sei in der Lage, zu einem Töter von wehrlosen Menschen zu werden, auch von Kindern. Es habe bei allen Massenmorden immer nur wenig Menschen gegeben, die sich geweigert hätten, Wehrlose zu töten. Doch das seien immer nur erschreckend wenige gewesen: "Daher glaube ich, daß die allermeisten Menschen potentielle Massenmörder sind. Weder Bildung noch Religion, noch sonst irgend etwas macht einen offensichtlich dagegen immun, sich für das Morden zu entscheiden." Die Persönlichkeitstests der Hauptkriegsverbrecher nach dem Zweiten Weltkrieg ergaben "kaum Auffälliges. In der Regel rangierten die Massenmörder irgendwo im Durchschnittsbereich. Bei den meisten ließen sich keine sadistischen Neigungen feststellen." Welzer hält Zygmunt Baumanns Begriff der „Rationalität des Bösen“ für treffend: "Personen, die an einem Genozid mitwirken, darf man sich nicht einfach als Berserker vorstellen. Es sind denkende Wesen. Sie sind in der Lage, rationale Begründungen für ihr Morden zu entwickeln, und das tun sie in der Regel auch." Zwischen der Erteilung des Schießbefehles und der Ausführung liegt häufig ein längerer Zeitraum - Zeit für Reflexion und Rationalisierung: "In der Regel werden bei Völkermorden anfangs Männer getötet. Erst später kommen Frauen und schließlich Kinder an die Reihe. Es ist ein schrittweiser Annäherungsprozeß. Das Töten von Kindern fällt am schwersten, selbst wenn man sie für kleine Untermenschen hält. Da braucht es meist eine ganze Reihe von Argumenten. Einer der Täter berichtete, er habe ausschließlich Kinder erschossen, während andere nur die Mütter getötet hätten: 'Ich wußte, daß die Kinder ohne ihre Mütter sowieso nicht überlebensfähig wären, und ich habe sie daher erlöst, indem ich sie tötete', sagte er ...Im Rahmen seiner Wahrnehmung war der Kindermord tatsächlich sinnvoll."
  • (4) Tötungsmoral. Der Massenmord erfordert eine Art von Moral in dem Sinne, dass man sich sagen muss, dass das Töten für etwas gut ist, z.B. für das Wohlergehen der Gesellschaft: "Man kann töten und gleichzeitig anständig bleiben: 'Ich will das ja nicht. Es wird ja nur von mir verlangt.' So kann man sich von der Rolle distanzieren, die man meint einnehmen zu müssen. Man tut ja nur seine Pflicht. Diese Art von Moral war die Voraussetzung, die es vielen Menschen erst ermöglicht hat, Wehrlose zu töten."
  • (5) Tötungsmanagement. Den Glauben, dass es autoritär auftretende Führer brauche, um Leute zu Massenmorden zu bewegen, teilt Welzer nicht: "Manchmal sind es gerade vergleichsweise sanfte Vorgesetzte, die für die Organisation von Massenexekutionen zuständig sind. In vielen Fällen werden die Tötungsbefehle gar nicht explizit erteilt, sondern eher allgemein gehalten, als sogenannte Rahmenbefehle. Den potentiellen Tätern läßt man einen relativ großen Spielraum. Es wäre ja, zynisch gesprochen, vom Tötungsmanagement her auch gar nicht sinnvoll, die Leute zum Töten zu zwingen. So ein Prozeß läuft nicht reibungslos ab, wenn man Personen dazu verpflichtet, die massive Schwierigkeiten damit haben. Die schießen dann womöglich daneben, erleiden einen Nervenzusammenbruch oder müssen sich übergeben. Das Interessante ist: Es finden sich immer genügend Leute, die sich zum Töten bereit erklären. ... Stellen Sie sich folgende Situation vor: Ein Vorgesetzter erteilt Ihnen einen sehr unangenehmen Auftrag. Wenn Ihnen dieser Mensch sympathisch ist und er gleichzeitig glaubwürdig zum Ausdruck bringt, daß er selbst mit diesem Auftrag auch nicht recht glücklich ist, aber halt dafür sorgen muß, daß er erfüllt wird, dann ist das doch viel motivierender als ein knallharter Befehl. Das weckt Solidarität. Dieses Prinzip machen sich übrigens seit langem auch Manager aus der Privatwirtschaft zunutze: Viele haben erkannt, daß ein gewisser Handlungsspielraum für die Untergebenen bei arbeitsteiligen Projekten meist zu besseren Resultaten führt als simple Befehlsketten."
  • (6) Die Eigendynamik des "Wenn schon - denn schon": "Sobald man einige Schritte vorwärts gegangen ist, wird es immer schwieriger, wieder zurück an den Anfang zu gehen. Man müßte dann ja alle bisherigen Schritte in Frage stellen. Da geht man lieber in die ursprüngliche Richtung weiter. Auch bis zum bitteren Ende." Zögern taucht allerdings oft dann auf, wenn man Menschen erschießen soll, die man persönlich kennt. Insofern ist es gut, Kontakte zu fördern, wenn man Massenmorde verhindern will - auch wenn das kein sicheres Rezept ist.
  • (7) Existenzangst und Lustgewinn. Dass Menschen manchmal Spaß an der Beobachtung der Qualen anderer haben, erklärt Welzer mit der großen Unsicherheit der menschlichen Existenz: "Vielleicht läßt sich die Lust am Beobachten der Qualen anderer daher nicht zuletzt als Ausdruck solcher Ängste verstehen. Das Betrachten des Leids anderer dokumentiert: Ich bin davongekommen. Man kann eine Exekution dann vielleicht sogar genießen, sich daran ergötzen."
  • (8) Coping. Massenmörder haben oft wenig Probleme mit der seelischen Bewältigung ihrer Taten.

Nicht erst seit dem Irak-Krieg sind Marines in den USA dazu gedrillt worden, so effizient wie möglich zu töten. "Schon nach der Abkehr von der Wehrpflicht nach dem verlorenen Vietnamkrieg Ende 1972 und im Zuge der Umstrukturierung der amerikanischen Streitkräfte zur reinen Berufsarmee wurde die Ausbildung zum effizienten Töten - und nichts anderes ist das Soldatenhandwerk - bei den Landstreitkräften Heer und zumal bei de Marineinfanterie perfektioniert. Jder 'Marine' ist zuerst und zuvörderst ein 'Rifle Man', ein Gewehrschütze, und er lernt im 'Boot Camp' das Schießen mit seinem M-16-Sturmgewehr so extensiv und intensiv, dass es zum 'Muskelgedächtnis' wird: Die vielleicht allzumenschliche Hemmung, den Abzug zu ziehen, wird systematisch ausgetrieben. - Das macht einen 'marine' oder auch einen Heeressoldaten nicht zur homunikulushaften Tötungsmaschine, sondern zum effektiven Berufssoldaten, der seinen Job als Angehöriger der schlagkräftigsten Streitkräfte auf dem Globus professionell erledigt. Anders als etwa bei der Landung in der Normandie von 1944, als Tausende wehrpflichtige GIs trotz feindlichen Dauerbeschusses ihre Schießhemmungen nicht überwinden konnten, drücken die heutigen amerikanischen Berufssoldaten ab. Und zwar immer, wenn es sein muss, und sehr selten auch, wenn es niht hätte sein müssen" (Rüb 2008).

Literatur

  • Duster, Troy (1973) Bedingungen für Massenmord ohne Schuldgefühl. In: Heinz Steinert, Hg., Symbolische Interaktion. Arbeiten zu einer reflexiven Soziologie. Stuttgart: Ernst Klett, S. 76-87.
  • Grossman, David (1995) On Killing: The Psychological Cost of Learning to Kill in War and Society
  • Grossman, David (1999) Warum töten wir? Kinder sind wie Soldaten: man kann sie lehren, Menschen umzubringen. Der Militärpsychologe Dave Grossman hält Videospiele für ein gutes Training. DIE ZEIT Nr. 39, 23. 09. 1999. Sektion "Leben", S. 5.
  • Rüb, Matthias (2008) Hätten sie doch bloß das Nachwort verfilmt. FAZ 16.07.08: 38.
  • Welzer, Harald (2005) Täter - Wie aus ganz normalen Menschen Massenmörder werden. Frankfurt: Fischer (2. Aufl. 2007)
  • Welzer, Harald (2005) Ohne Moral lässt sich kein Genozid durchführen. FAS 04.09.2005, Nr. 25: 69
  • Wright, Evan (2008) Generation Kill. Berkeley Publ. Group (first edition June 2004). Das Buch wurde zu einer Serie beim amerikanischen Bezahlsender HBO verarbeitet. Der Autor berichtet über seine Erfahrungen als eingebundener Reporter während der US-Invasion des Irak (2003).

Siehe auch