Brasilien hat heute (2017) fast 200 Millionen Einwohner und ist damit nach China, Indien, den USA und Indonesien das fünft-bevölkerungsreichste Land der Erde. Was die Zahl der Gefangenen angeht, so liegt Brasilien mit seinen 660 000 Gefangenen - und einem Anstieg der Population um 160 Prozent seit dem Jahr 2000 - auf dem vierten Platz nach den USA, China und Russland. Die 1400 Gefängnisse des Landes bieten allerdings nur Platz für 380 000 Menschen. Fast die Hälfte der Inhaftierten - deren Zahl monatlich um mehrere Tausend zunimmt - sind Untersuchungshäftlinge. Die Überfüllung der maroden Gebäude mit katastrophalen hygienischen Verhältnissen nimmt auch wegen der quälend langsam arbeitenden Justiz stetig zu. Meist sind die Insassen dunkelhäutig, arm und ungebildet. Einer von Kriminalität und Kriminalitätsfurcht geplagten Bevölkerung gelten sie als Abschaum. Bei einer Umfrage im November 2016 stimmten 57% der Aussage zu: "Nur ein toter Verbrecher ist ein guter Verbrecher." In gewisser Weise sorgt das Gefängnis dafür auch. Das Aids-Risiko ist 10x so hoch wie draußen, das Tbc-Risiko 30x. Und es gibt Massaker der Gefangenen unter- und gegeneinander. - Ein Politiker, nämlich der Staatssekretär für Jugendangelegenheiten, Bruno Júlio, der anlässlich des letzten Massakers erklärte: Das müssten die Gefangenen öfter machen. Sie sollten ruhig jede Woche ein Massaker verüben, musste dafür allerdings seinen Hut nehmen.

Und damit sind wir bei dem Anlass des heutigen Vortrags und der sich daran anschließenden Diskussion. Richter Luis Carlos Valois ist DER für den Strafvollzug im Bundesstaat Amazonas zuständige Richter.

Neujahr 2017 gegen 15 Uhr. Gefangene bringen den Müll aus den Zellen. Nun brechen in allen vier Zellenblöcken Gewaltorgien aus. Erst nach 17 Stunden konnten die 12 Geiseln (Aufseher) aus dem Gefängnis Anísio Jobim, Manaus, befreit werden. Was sie erlebten, hat viele von ihnen kündigen lassen: Massaker, herausgeschnittene Herzen, abgetrennte und aufgespießte Köpfe, abgeschnittene und im Gelände verstreute Gliedmaßen.

Insgesamt 56 Gefangene wurden bestialisch ermordet. In zwei weiteren Haftanstalten in Amazonas kam es Neujahr und am 2. Januar zu weiteren Zusammenstößen zwischen Gefangenen und vier Toten. Zu den 60 Toten im Bundesstaat Amazonas kamen kurz darauf 31 weitere Tote im benachbarten Bundesstaat Roraima (Monte Cristo nahe Boa Vista). Tags darauf dann wieder Manaus mit vier Toten. Dann noch zwei Tote in Gefängnissen in Paraíba: insgesamt mindestens 100 getötete Gefangene in den ersten 10 Tagen des Jahres 2017. "Normalerweise" kommt jeden Tag ein Gefangener durch Homizid ums Leben in ganz Brasilien, im Jahr also etwa 365 (2016: 372).

Privatfirma Umanizzare. Verwaltung von 5 Gefängnissen in Amazonas. In Tocantins zwei weitere Gefängnisse. 2000 Angestellte, auf Wachstumskurs. Privatisierung bringt dem Staat allerdings keine Ersparnisse, sondern Mehrkosten. Umgerechnet 119 Millionen Euro hat Umanizzare eingenommen - einen Aufseher bezahlt es mit 590 Euro im Monat. Ausbildung: 1 Monat. Für die Sicherheit ist aber die Polizei zuständig, und die kümmert sich nicht um die Intrerna in den Zellenblöcken.

Faktisch bestimmen Drogenkartelle die Zuteilung von Zellenraum, Privilegien, Waffen und Drogen. Auch interne Streitigkeiten werden von den lokalen Führern der Kartelle geschlichtet.

Wenn es nicht einen Bandenkrieg gibt. In Manaus standen sich das Rote Kommando (CV) und die Familie des Nordens (FDN) einerseits und das Erste Kommando der Hauptstadt (PCC) gegenüber. Nachdem im September 2016 ein Waffenstillstand zwischen den beiden Blöcken zusammengebrochen war, schickt sich gegenwärtig das PCC an, seinen Machtbereich nach Norden auszudehnen. In den Gefängnissen haben sie ihre Kommandozentralen, bei denen es um die Kontrolle um die Schmuggelrouten von Kolumbien und Peru nach Norden geht. Und über den Eingang zu den Zellen waren in großen blauen Buchstaben FDN und CV gemalt. Mit dem Sicherheitssekretär von Amazonas hatten sich die einsitzenden Kartellbosse darauf geeinigt, dass sie für Ruhe und Sicherheit in dem faktisch nicht überwachten Zuchthaus sorgen würden, wenn sie im Gegenzug nicht in ein (strenger kontrolliertes) Bundesgefängnis verlegt würden. Die Ausbreitungsstrategie des PCC wird für den Zusammenbruch des Waffenstillstands verantwortlich gemacht.

Temer: "schreckliches Unglück". Doch das war kein plötzlich hereinbrechendes Gewitter.

656 000 Gefangene. 1400 Gefängnisse. Kapazität nur 380 000. Seit 2000: Anstieg der Population um 160 Prozent. Heute nach USA, China und Russland viertgrößte Gefängnispopulation der Welt. Marode Gebäude mit katastrophalen hygienischen Verhältnissen. Jeden Monat kommen 3000 Gefangene hinzu. Der Abfluss ist stockend. Denn die Justiz ist quälend langsam. 41 % U-Haft, in Amazonas 58%. Meist Schwarz, sehr jung, nur Grundschule, wenn überhaupt.

Bevölkerung apathisch. Hat andere Sorgen. Verbrecher gelten als lebensunwert. Nur ein Toter Verbrecher ist ein guter Verbrecher. Zustimmungsrate 57%. November 2016 Umfrage.

Der Staatssekretär für Jugendangelegenheiten, Bruno Júlio: Sie müssten das öfter machen. Jede Woche ein Massaker sollten sie verüben.

Schulen des Verbrechens. Rekrutierung. 70% Rückfall. Risiko TBC 30x höher als draußen, Aids: 10x.

Sofortmaßnahme. Bau von 5 neuen Gefängnissen mit zusammen 1000 Plätzen. Damit ist für 0,4% der fehlenden Plätze gesorgt.

Dahinter steht die Erosion des Gewaltmonopols. Konkurrierende Ordnungsformen der Gewalt.

Hinter der Erosion des Gewaltmonopols steht die Drogenökonomie. Hinter der wiederum das Drogenverbot.

Prohibition wie in den USA in den 1920er Jahren, nur weltweit und länger. Die eine hat 13 Jahre gedauert. Die neue dauert schon ein Jahrhundert. Und zerstört ganze Staaten und Gesellschaften. Buch von Valois: o direito penal das drogas.


  • Rüb, Matthias (FAZ 11.01.2017) Massaker hinter Gittern.