Strafvollzug in Brasilien

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Zahlen

  • Brasilien hat rund 200 Mio. Einwohner und liegt damit nach China, Indien, den USA und Indonesien auf Platz 5.
  • Gefangenenrate: 307 pro 100.000 Einwohner (Deutschland: 78).
  • Haftplätze: 380.000 in insgesamt 1400 Gefängnissen
  • Inhaftierte: 660.000 Gefangene, davon 41% U-Haft, im Bundesstaat Amazonas 58%.
  • Anstieg der Gefangenenzahlen um 160% seit 2000.
  • Justiz: quälend langsam.
  • Haftbedingungen: marode Gebäude, katastrophale Hygiene
  • Ansteckungs-Risiken: Aids 10 mal höher als in der Gesamtbevölkerung, Tbc: 30x

Massaker im Bundesstaat Amazonas 2017

Unser Gast - Richter Valois - ist zuständige für alle Strafvollzugssachen im Bundesstaat Amazonas. Fläche 1,5 Mio. km2 (mehr als 4x so große wie D). Bevölkerung gerade mal 5% der deutschen (4 vs. 82 Mio.). Faktisch ist es nicht der Staat, der im Innern der Gefängnisse für Ruhe und Sicherheit sorgt. Wenn aber - wie im Jahre 2016 - der Friede zwischen Banden zerbricht, dann kann es blutigen Auseinandersetzungen innerhalb der Gefängnisse und zwischen den Gefangenen kommen. Wie am Neujahrstag des Jahres 2017.

Gefangene ermordeten andere Gefangene auf bestialische Weise. 56 Gefangene wurden im Gefängnis Anísio Jobim in der Nähe von Manaus getötet und verstümmelt, d.h. Köpfe und Gliedmaßen wurden abgetrennt, Herzen herausgeschnitten. In den nächsten Tagen kam es in anderen Anstalten zu ähnlichen Vorfällen. In zwei weiteren Haftanstalten in Amazonas kam es Neujahr und am 2. Januar zu weiteren Zusammenstößen zwischen Gefangenen und vier Toten. Zu den 60 Toten im Bundesstaat Amazonas kamen kurz darauf 31 weitere Tote im benachbarten Bundesstaat Roraima (Monte Cristo nahe Boa Vista). Tags darauf dann wieder Manaus mit vier Toten. Dann noch zwei Tote in Gefängnissen in Paraíba. Bis zum 10. Januar waren damit 100 Gefangene getötet worden soviel wie in normalen Zeiten in Brasilien innerhalb von 100 Tagen.

Reaktion der Politik: Präsident Michel Temer: "schreckliches Unglück". Doch das war kein plötzlich hereinbrechendes Gewitter. - Am Vorabend war ein Ultimatum der Gefangenen abgelaufen. Und das System des Strafvollzugs in Brasilien ist seit langem schon ein Pulverfass, das auf einen Funken wartete.

Das Massaker hatte am Neujahrstag gegen 15 h begonnen. Richter Valois wurde nachts aus dem Bett geholt, weil er auch unter den Gefangenen als ein Mann galt, dem man vertrauen konnte. Ihm war es zu verdanken, dass erst drei und dann die weiteren 9 Aufseher aus ihrer Geiselhaft befreit werden konnten.

Richter Valois wurde mitgeteilt, dass ein Gefangener ihn zu töten beabsichtige. Es könnte aber auch Gefahr von der Polizei ausgehen. Als Richter sieht es sich nicht als Erfüllungsgehilfe einer weitgehend korrupten Polizei, sondern als deren Kontrolleur. Er ist engagiert in der Organisation LEAP - Law Enforcement Against Prohibition - und ist in Brasilien sehr bekannt. 50.000 oder 70.000 Followers in den sozialen Netzwerken können Schutz bedeuten - aber auch das Gegenteil. Seine Kinder haben Personenschutz. Die Polizisten, die diesen Personenschutz ausüben, genießen das Vertrauen von Richter Valois. Er selbst zieht es vor, auf den Personenschutz zu verzichten. Er denkt aber über seinen Beruf nach und über einen längeren Auslandsaufenthalt. Er war zwar schon brasilianischer Jiu-Jitsu-Champion, aber im Falle eines Falles geht es nicht immer um den unbewaffneten Nahkampf à la Jackie Chan.


Interne Verhältnisse

Privatfirma Umanizzare. Verwaltung von 5 Gefängnissen in Amazonas. In Tocantins zwei weitere Gefängnisse. 2000 Angestellte, auf Wachstumskurs. Privatisierung bringt dem Staat allerdings keine Ersparnisse, sondern Mehrkosten. Umgerechnet 119 Millionen Euro hat Umanizzare eingenommen - einen Aufseher bezahlt es mit 590 Euro im Monat. Ausbildung: 1 Monat. Für die Sicherheit ist aber die Polizei zuständig, und die kümmert sich nicht um die Intrerna in den Zellenblöcken.

Wenn es nicht einen Bandenkrieg gibt. In Manaus standen sich das Rote Kommando (CV) und die Familie des Nordens (FDN) einerseits und das Erste Kommando der Hauptstadt (PCC) gegenüber. PCC: Gegründet 1993 im Gefängnis von Taubaté, 140 nordöstlich von Sao Paulo. Heute das mächtigste Kartell mit 13000 Mitgliedern, das seinen Einfluss auch nach Bolivien, Kolumbien und Paraguay ausgedehnt hat. Im paraguayischen Ciudad del Este im April 2017: 50 schwerbewaffnete mit gepanzerten Autos und Sturmgewehren und Sprengsätzen griffen gleichzeitig das Polzeipräsidium, das Regierungsgebäude der Region und den Sitz des Geldtransportunternehmens Prosegur an und steckten ein gutes Dutzend Autos an verschiedenen Stellen der Stadt an. Sie sprengten das Gebäude von Prosegur und erbeuteten 30 bis 40 Mio. Dollar. Mit Autos und Schnellbooten setzten sie sich ab. - Vereitelt wurde allerdings ein Überfall auf ein Gefängnis zur Befreiung des Kartellbosses Marcos Williams Herbas Camacho, genannt Marcola. Nachdem im September 2016 ein Waffenstillstand zwischen den beiden Blöcken zusammengebrochen war, schickt sich gegenwärtig das PCC an, seinen Machtbereich nach Norden auszudehnen. In den Gefängnissen haben sie ihre Kommandozentralen, bei denen es um die Kontrolle um die Schmuggelrouten von Kolumbien und Peru nach Norden geht. Und über den Eingang zu den Zellen waren in großen blauen Buchstaben FDN und CV gemalt. Mit dem Sicherheitssekretär von Amazonas hatten sich die einsitzenden Kartellbosse darauf geeinigt, dass sie für Ruhe und Sicherheit in dem faktisch nicht überwachten Zuchthaus sorgen würden, wenn sie im Gegenzug nicht in ein (strenger kontrolliertes) Bundesgefängnis verlegt würden. Die Ausbreitungsstrategie des PCC wird für den Zusammenbruch des Waffenstillstands verantwortlich gemacht.

Politik

  1. Vernichtung. Meist sind die Insassen dunkelhäutig, arm und ungebildet. Einer von Kriminalität und Kriminalitätsfurcht geplagten Bevölkerung gelten sie als Abschaum. Bei einer Umfrage im November 2016 stimmten 57% der Aussage zu: "Nur ein toter Verbrecher ist ein guter Verbrecher." In gewisser Weise sorgt das Gefängnis dafür auch. Das Aids-Risiko ist 10x so hoch wie draußen, das Tbc-Risiko 30x. Und es gibt Massaker der Gefangenen unter- und gegeneinander. - Ein Politiker, nämlich der Staatssekretär für Jugendangelegenheiten, Bruno Júlio, der anlässlich des letzten Massakers erklärte: Das müssten die Gefangenen öfter machen. Sie sollten ruhig jede Woche ein Massaker verüben, musste dafür allerdings seinen Hut nehmen.
  2. Expansion. Sofortmaßnahme. Bau von 5 neuen Gefängnissen mit zusammen 1000 Plätzen. Damit ist für 0,4% der fehlenden Plätze gesorgt.
  3. Kontraktion. Am 5. Mai wurde aus Genf berichtet, dass der Menschenrechtsausschuss der UNO Druck auf Brasilien ausgeübt und Brasilien zugesagt habe, seine Gefangenenpopulation bis 2019 um 10% zu verringern.

Gesamtbild

Die geringe Integrationskraft des Staates überlässt die Herrschaft weitgehend den ökonomischen Eliten einerseits und undomestizierten Zwangsstäben (souveräne Polizei, Giorgio Agamben) andererseits, die in einer Kultur des Ausnahmezustands straflos terrorisieren und sich von weiten Teilen der Bevölkerung unterstützt sehen. Everett Hughes: good people, dirty work. Verschärft wird die Situation durch die Konkurrenz mit alternativen Ordnungsformen der Gewalt in Gestalt von Banden, deren ökonomische Basis im Abenteuerkapitalismus des Drogenhandels zu suchen ist. Die Banden werden einerseits bekämpft, doch andererseits haben sie die Mittel für Korruption und Einschüchterung, so dass auch Gewaltorganisationen sui generis entstehen konnten, in denen sich Drogenhändler, illegal operierende Polizisten und Funktionsträger der öffentlichen Verwaltung zum eigenen Nutzen zusammenschließen.

Alles zusammen führt zur Tendenz zum Doppelstaat und zum institutionalisierten Ausnahmezustand sowie einem allgemeinen Hang zum Autoritarismus.

Musik

http://nadapop.com.br/13-musicas-para-discutir-o-sistema-prisional/

Weblinks und Literatur

  • Lessing, Benjamin (17.01.2017 Washington Post) Brazil's prison massacres are a frightening window into gang warfare.
  • Rüb, Matthias (FAZ 11.01.2017) Massaker hinter Gittern.
  • Valois, Luís Carlos (2016) O Direito Penal da Guerra às Drogas. Belo Horizonte: D'Plácido.
  • Welcome to the Middle Ages. Brazil's hellish penal system is overcrowded, violent and brutalising (18.01.2017, The Economist)
  • 2017 Brazil prison riots (en.wikipedia.org)