Staatsverbrechen und der heimliche Lehrplan der Kriminologie: Unterschied zwischen den Versionen

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Die Kriminologie sammelt Informationen über Straftaten, Rechtsbrecher und soziale Kontrolle und versucht diese Phänomene zu beschreiben und zu erklären. Sie will dies solide tun, d.h. mit wissenschaftlichen Methoden und so objektiv wie möglich. In der Praxis muss sie allerdings Schwerpunkte setzen und darf sich nicht zu weit von dem entfernen, was im Weltbild ihrer Adressaten als wichtig und richtig erscheint. Das relativiert den eigenen Anspruch an objektive Erkenntnis in erheblichem Masse. Wie stark diese Bornierung wirkt, lehrt vor allem die Historie. Man denke an die Grenzen der Erkenntnis und ihre Verschiebung in den Jahren zwischen 1871 und 1971. Im Deutschen Kaiserreich waren die massgeblichen Mentalitäten andere als in der Weimarer Republik. Auch im sogenannten Dritten Reich wurde Kriminologie betrieben, auch damals beobachtete man die Entwicklungslinien zahlreicher Delikte - und doch sorgte der seinerzeitige Bezugsrahmen dafür, dass die bedeutendsten Verbrechen der damaligen Zeit komplett ausgeblendet blieben. Trotz subjektiv sorgfältigster Beobachtung der Deliktsentwicklungen und trotz erster Erkundungen des Dunkelfeldes blieben die meisten und die schwersten Delikte ausgeblendet oder unsichtbar.
Die Kriminologie sammelt Informationen über Straftaten, Rechtsbrecher und soziale Kontrolle und versucht diese Phänomene zu beschreiben und zu erklären. Sie will dies solide tun, d.h. mit wissenschaftlichen Methoden und so objektiv wie möglich. In der Praxis muss sie allerdings Schwerpunkte setzen und darf sich nicht zu weit von dem entfernen, was im Weltbild ihrer Adressaten als wichtig und richtig erscheint. Das relativiert den eigenen Anspruch an objektive Erkenntnis in erheblichem Masse. Wie stark diese Bornierung wirkt, lehrt vor allem die Historie. Man denke an die Grenzen der Erkenntnis und ihre Verschiebung in den Jahren zwischen 1871 und 1971. Im Deutschen Kaiserreich waren die massgeblichen Mentalitäten andere als in der Weimarer Republik - und wieder andere gab es dann im sogenannten Dritten Reich. Auch im NS-Staat wurde Kriminologie betrieben, auch damals beobachtete man die Entwicklungslinien zahlreicher Delikte - und doch sorgte der seinerzeitige Bezugsrahmen dafür, dass die bedeutendsten Verbrechen der damaligen Zeit aus Lehrwerken und Forschungen und aus der wissenschaftlichen Wahrnehmung insgesamt komplett ausgeblendet blieben. Trotz subjektiv sorgfältigster Beobachtung der Deliktsentwicklungen und trotz erster Erkundungen des Dunkelfeldes blieben also die meisten und die schwersten Delikte ausserhalb der Grenzen des Diskurses.
 
Aus heutiger Sicht lag der entscheidende Grund in dem historisch gewachsenen Bezugssystem der Kriminologie. Die Kriminologie hatte ihren Ursprung ja in dem Versuch, den staatlichen Stellen beim Umgang mit einer anschwellenden Menge von Delikten zur Seite zu stehen. Die vom Industrieproletariat und mehr noch vom Subproletariat ausgehenden Bedrohungen der etablierten Ordnung - die Rede war von den ''dangerous classes'', den ''criminal classes'' und einer anwachsenden ''Armee von Verbrechern'' -  sollten durch Kenntnis der Ursachen dieser Erscheinungen unter Kontrolle gebracht werden. Ein Mittel dazu sah man in der wissenschaftlich fundierten Modernisierung der Kriminalpolitik (von der Effektivierung der Gesetzgebung bis hin zum Strafvollzug).
 
 
 


Aus heutiger Sicht lag der entscheidende Grund in dem historisch gewachsenen Bezugssystem der Kriminologie. Die Kriminologie hatte ihren Ursprung ja in dem Versuch, den staatlichen Stellen beim Umgang mit einer anschwellenden Menge von Delikten zur Seite zu stehen. Die vom Industrieproletariat und mehr noch vom Subproletariat ausgehenden Bedrohungen der etablierten Ordnung - die Rede war von den ''dangerous classes'' -  wollten vorbeugend und sanktionierend unter Kontrolle gebracht werden. Das war angesichts


aus heutiger Sicht den kriminellen Cha Zu der Zeit ihrer Entstehung hatte sie mit Staatsverbrechen weniger Probleme als heute. Die Zunft interessierte sich zwar nur eher am Rande dafür, doch im Prinzip zumindest kam man damit zurecht. Der Grund war wohl, dass Taten und Täter nicht aus der normalen Konfiguration von kriminellem Akteur und staatlicher Macht herausfielen. Während des gesamten 19. Jahrhunderts verstand man unter Staatsverbrechen nämlich ein Delikt, "welches gegen den Staat begangen wird" (Krünitz 1836: 380). Mit anderen Worten: man stand vor einer Erscheinung, die - wie alle anderen Delikte auch - von Machtunterworfenen kam und gegen die Machthaber gerichtet war. Die spezifische Differenz zu anderen Tattypen bestand nur in dem Umstand, dass sich die so verstandenen Staatsverbrechen eben direkt gegen die Herrscher und/oder das Herrschaftssystem richteten (und nicht nur im Zuge der Verletzung anderer Geseelschaftsmitglieder indirekt das Gewaltmonopol des Staates missachteten).
aus heutiger Sicht den kriminellen Cha Zu der Zeit ihrer Entstehung hatte sie mit Staatsverbrechen weniger Probleme als heute. Die Zunft interessierte sich zwar nur eher am Rande dafür, doch im Prinzip zumindest kam man damit zurecht. Der Grund war wohl, dass Taten und Täter nicht aus der normalen Konfiguration von kriminellem Akteur und staatlicher Macht herausfielen. Während des gesamten 19. Jahrhunderts verstand man unter Staatsverbrechen nämlich ein Delikt, "welches gegen den Staat begangen wird" (Krünitz 1836: 380). Mit anderen Worten: man stand vor einer Erscheinung, die - wie alle anderen Delikte auch - von Machtunterworfenen kam und gegen die Machthaber gerichtet war. Die spezifische Differenz zu anderen Tattypen bestand nur in dem Umstand, dass sich die so verstandenen Staatsverbrechen eben direkt gegen die Herrscher und/oder das Herrschaftssystem richteten (und nicht nur im Zuge der Verletzung anderer Geseelschaftsmitglieder indirekt das Gewaltmonopol des Staates missachteten).
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