Soziale Normen: Unterschied zwischen den Versionen

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Als „soziale Normen“ (lat. Socius = Gefährte; lat. Norma = Winkelmaß, Richtschnur, Regel) werden im Unterschied zu technischen Normen (z.B. DIN, ISO) Beurteilungsmaßstäbe und verbindliche Vorschriften für menschliches Verhalten bezeichnet, die gesellschaftlichen Ursprungs und für menschliches Miteinander unerlässlich sind.  
Als '''soziale Normen''' (lat. Socius = Gefährte; lat. Norma = Winkelmaß, Richtschnur, Regel) werden im Unterschied zu technischen Normen (z.B. DIN, ISO) Beurteilungsmaßstäbe und verbindliche Vorschriften für menschliches Verhalten bezeichnet, die gesellschaftlichen Ursprungs und für menschliches Miteinander unerlässlich sind.  
 
 


==='''Definition(en)'''===
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: ‚Soziale Normen‘ sind mit Sanktionen verbundene Aufforderungen von Alter an Ego, in bestimmten wiederkehrenden Situationen ein bestimmtes Verhalten zu zeigen. (Korthals-Beyerlein 1979: 98) <br>
: ‚Soziale Normen‘ sind mit Sanktionen verbundene Aufforderungen von Alter an Ego, in bestimmten wiederkehrenden Situationen ein bestimmtes Verhalten zu zeigen. (Korthals-Beyerlein 1979: 98) <br>
:Normen sind allgemein geltende und in ihrer Allgemeinheit verständlich mitteilbare Vorschriften für menschliches Handeln, die sich direkt oder indirekt an weitverbreiteten Wertvorstellungen orientieren [...]. Normen suchen menschliches Verhalten in Situationen festzulegen [...]. Damit schaffen sie Erwartbarkeiten. Sie werden durch Sanktionen abgesichert. (Bahrdt 2000: 49)
:Normen sind allgemein geltende und in ihrer Allgemeinheit verständlich mitteilbare Vorschriften für menschliches Handeln, die sich direkt oder indirekt an weitverbreiteten Wertvorstellungen orientieren [...]. Normen suchen menschliches Verhalten in Situationen festzulegen [...]. Damit schaffen sie Erwartbarkeiten. Sie werden durch Sanktionen abgesichert. (Bahrdt 2000: 49)
===Die Entstehung von Normen===
Hans Jürgen Kerner (s. Kleines Kriminologisches Wörterbuch, 437) geht davon aus, dass menschliches Verhalten grundsätzlich an bestimmten Handlungsmustern ausgerichtet ist, welche sich über lange Entwicklungszeiträume hinweg bilden. Allem Anschein nach werden diese Muster mit je unterschiedlicher Häufigkeit tatsächlich befolgt. Auf diese Weise bilden sie statistische Normen oder auch das gesellschaftlich faktische Normale.


==='''Exkurs: Abgrenzung von (sozialen) Normen zu Werten'''===
==='''Exkurs: Abgrenzung von (sozialen) Normen zu Werten'''===
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:(f) nach der Allgemeinheit ihres Geltungsanspruches (= Adressatenkreis): allgemeine/generelle Normen vs. Partikular-/Rollennormen <br>
:(f) nach der Allgemeinheit ihres Geltungsanspruches (= Adressatenkreis): allgemeine/generelle Normen vs. Partikular-/Rollennormen <br>
Popitz (2006) identifiziert drei Grundkonstrukte, die in allen Gesellschaften vorkommen: Allgemeine sowie reziproke und nicht-reziproke Partikularnormen bilden das primäre soziale Gehäuse, die normative Struktur einer Gesellschaft. Generelle Normen sind solche, die für ihre Mitglieder ungeachtet ihrer Geschlechts-, Alters- und Positionsunterschiede in gleicher Weise gelten (Gleichrangigkeit und Gleichberechtigung aller Gesellschaftsmitglieder im Gegensatz zu allen Nicht-Mitgliedern). Partikulare Normen spalten die Mitglieder einer Gesellschaft anhand bestimmter Merkmalskategorien auf, d.h. sie basieren auf der (biologischen/sozialen) Ungleichheit der Menschen. Je differenzierter eine Gesellschaft ist, desto wahrscheinlicher ist ein gewisses Maß an Norm- bzw. Rollenkonflikten.  
[[Heinrich Popitz|Popitz]] (2006) identifiziert drei Grundkonstrukte, die in allen Gesellschaften vorkommen: Allgemeine sowie reziproke und nicht-reziproke Partikularnormen bilden das primäre soziale Gehäuse, die normative Struktur einer Gesellschaft. Generelle Normen sind solche, die für ihre Mitglieder ungeachtet ihrer Geschlechts-, Alters- und Positionsunterschiede in gleicher Weise gelten (Gleichrangigkeit und Gleichberechtigung aller Gesellschaftsmitglieder im Gegensatz zu allen Nicht-Mitgliedern). Partikulare Normen spalten die Mitglieder einer Gesellschaft anhand bestimmter Merkmalskategorien auf, d.h. sie basieren auf der (biologischen/sozialen) Ungleichheit der Menschen. Je differenzierter eine Gesellschaft ist, desto wahrscheinlicher ist ein gewisses Maß an Norm- bzw. Rollenkonflikten.  


:(g) nach dem Grad ihrer Verbindlichkeit/Sanktionsstärke (Kann-, Soll- und Muss-Normen) <br>
:(g) nach dem Grad ihrer Verbindlichkeit/Sanktionsstärke (Kann-, Soll- und Muss-Normen) <br>
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Abweichungen sind nach Durkheim (1968) ein integrierender Bestandteil einer nicht-pathologischen Gesellschaft. Bei kollektiver Befolgung sozialer Normen und somit kollektivem konformen Verhalten gäbe es in Ermangelung von Abweichungen auch keine sozialen Normen mehr, da erst abweichendes Verhalten die Gültigkeit sozialer Normen in Erinnerung ruft (Normverdeutlichung) und einen Indikator für Normwandel darstellen kann.  
Abweichungen sind nach Durkheim (1968) ein integrierender Bestandteil einer nicht-pathologischen Gesellschaft. Bei kollektiver Befolgung sozialer Normen und somit kollektivem konformen Verhalten gäbe es in Ermangelung von Abweichungen auch keine sozialen Normen mehr, da erst abweichendes Verhalten die Gültigkeit sozialer Normen in Erinnerung ruft (Normverdeutlichung) und einen Indikator für Normwandel darstellen kann.  


''(Norm-/Werte-)Wandel:'' Der Geltungswandel von Normen geht einher mit einem Wandel von Überzeugungen und Verhaltensweisen in der Bevölkerung, d.h. es kommt auch zur Veränderung von Institutionen. Beide Wandlungen beginnen mit abweichenden Überzeugungen (moralische Unternehmer (Becker 1973); Normdistanz) oder Handlungen einzelner. Beide verstärken sich, weil sich die Betroffenen aneinander orientieren. Da aber die Häufigkeiten der Delikte oft nicht bekannt ist ([[Dunkelfeld]]), liegt die Vermutung nahe, dass der Überzeugungswandel wichtiger ist als der Wandel der Verhaltensweisen. <br>
''(Norm-/Werte-)Wandel:'' Der Geltungswandel von Normen geht einher mit einem Wandel von Überzeugungen und Verhaltensweisen in der Bevölkerung, d.h. es kommt auch zur Veränderung von Institutionen. Beide Wandlungen beginnen mit abweichenden Überzeugungen (moralische Unternehmer ([[Howard S. Becker|Becker]] 1973); Normdistanz) oder Handlungen einzelner. Beide verstärken sich, weil sich die Betroffenen aneinander orientieren. Da aber die Häufigkeiten der Delikte oft nicht bekannt ist ([[Dunkelfeld]]), liegt die Vermutung nahe, dass der Überzeugungswandel wichtiger ist als der Wandel der Verhaltensweisen. <br>
Die Entwicklung zur modernen Industriegesellschaft und die damit verbundene Rationalisierung immer umfassenderer Lebensbereiche führten zu einer zunehmenden Normierung des sozialen Handelns durch rechtliche Vorschriften. Vor dem Hintergrund der Krise alter Governance und Globalisierungstendenzen ist mit einer Bedeutungszunahme von transnationalen Normgenerierungsprozessen im Spannungsverhältnis von Staat, Wirtschaft und Zivilgesellschaft zu rechnen.
Die Entwicklung zur modernen Industriegesellschaft und die damit verbundene Rationalisierung immer umfassenderer Lebensbereiche führten zu einer zunehmenden Normierung des sozialen Handelns durch rechtliche Vorschriften. Vor dem Hintergrund der Krise alter Governance und Globalisierungstendenzen ist mit einer Bedeutungszunahme von transnationalen Normgenerierungsprozessen im Spannungsverhältnis von Staat, Wirtschaft und Zivilgesellschaft zu rechnen.


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==='''Literatur'''===
==='''Literatur'''===
 
* Bahrdt, Hans Paul (2000): Schlüsselbegriffe der Soziologie. Eine Einführung mit Lehrbeispielen. München: C.H. Beck
Bahrdt, Hans Paul (2000): Schlüsselbegriffe der Soziologie. Eine Einführung mit Lehrbeispielen. München: C.H. Beck
* Becker, Howard (1973): Außenseiter. Zur Soziologie abweichenden Verhaltens. Frankfurt am Main: Fischer
 
* Bellebaum, Alfred (1983): Soziales Handeln und soziale Normen. Paderborn: Schöningh
Becker, Howard (1973): Außenseiter. Zur Soziologie abweichenden Verhaltens. Frankfurt am Main: Fischer
* Durkheim, Emile (1968): Kriminalität als normales Phänomen. In: Sack, Fritz / König, René (Hrsg.): Kriminalsoziologie. Frankfurt am Main: Akademische Verlagsgesellschaft, S. 3-8
 
* Eichner, Klaus (1981): Die Entstehung sozialer Normen. Opladen: Westdeutscher Verlag
Bellebaum, Alfred (1983): Soziales Handeln und soziale Normen. Paderborn: Schöningh
* Kaiser, Günther / Kerner, Hans-Jürgen / Sack, Fritz / Schellhoss, Harmut (Hg.): Kleines Kriminologisches Wörterbuch. üller, Heidelberg. 3. Auflage.
 
* Korthals-Beyerlein, Gabriele (1979): Soziale Normen. Begriffliche Explikation und Grundlagen empirischer Erfassung. München: Fink
Durkheim, Emile (1968): Kriminalität als normales Phänomen. In: Sack, Fritz / König, René (Hrsg.): Kriminalsoziologie. Frankfurt am Main: Akademische Verlagsgesellschaft, S. 3-8
* Meulemann, Heiner (2001): Soziologie von Anfang an. Eine Einführung in Themen, Ergebnisse und Literatur. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag
 
* Popitz, Heinrich (2006): Soziale Normen. Frankfurt am Main: Suhrkamp
Eichner, Klaus (1981): Die Entstehung sozialer Normen. Opladen: Westdeutscher Verlag
* Wesche, Steffen (2001): Gegenseitigkeit und Recht. Eine Studie zur Entstehung von Normen. Berlin: Duncker und Humblot
 
* Wiswede, Günter (1976): Soziologie konformen Verhaltens. Stuttgart u.a.: Kohlhammer
Korthals-Beyerlein, Gabriele (1979): Soziale Normen. Begriffliche Explikation und Grundlagen empirischer Erfassung. München: Fink
 
Meulemann, Heiner (2001): Soziologie von Anfang an. Eine Einführung in Themen, Ergebnisse und Literatur. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag
 
Popitz, Heinrich (2006): Soziale Normen. Frankfurt am Main: Suhrkamp
 
Wesche, Steffen (2001): Gegenseitigkeit und Recht. Eine Studie zur Entstehung von Normen. Berlin: Duncker und Humblot
 
Wiswede, Günter (1976): Soziologie konformen Verhaltens. Stuttgart u.a.: Kohlhammer


[[Kategorie:Grundbegriffe der Kriminologie]]
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