Rechtsstaat: Unterschied zwischen den Versionen

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Der '''Rechtsstaat''' ist die mittels Gesetzen organisierte Form politischer Herrschaft (John Adams: [http://www.quotecounterquote.com/2010/08/government-of-laws-and-not-of-men-is.html"rule of law, and not of men"]). Der abstrakt-generelle Charakter von Gesetzen soll vor allem dafür sorgen, dass alle Rechtsunterworfenen gleiche Rechte und Pflichten haben - nach dem Motto: ob Bettler oder Millionär, vor dem Gesetz sind alle gleich. Um die Einhaltung der rechtlichen Grenzen der öffentlichen Gewalt zu überprüfen, bedarf es einer unabhängigen Justiz. Damit sind die Existenz einer in der Verfassung kulminierenden Normenhierarchie, das Prinzip der Gleichheit aller Rechtssubjekte vor dem Gesetz und die Unabhängigkeit der Justiz die drei Pfeiler eines Rechtsstaats.  
Der '''Rechtsstaat''' ist die mittels Gesetzen organisierte Form politischer Herrschaft (John Adams: [http://www.quotecounterquote.com/2010/08/government-of-laws-and-not-of-men-is.html"rule of law, and not of men"]). Der abstrakt-generelle Charakter von Gesetzen soll vor allem dafür sorgen, dass alle Rechtsunterworfenen gleiche Rechte und Pflichten haben - nach dem Motto: ob Bettler oder Millionär, vor dem Gesetz sind alle gleich. Um die Einhaltung der rechtlichen Grenzen der öffentlichen Gewalt zu überprüfen, bedarf es einer unabhängigen Justiz. Damit sind die Existenz einer in der Verfassung kulminierenden Normenhierarchie, das Prinzip der Gleichheit aller Rechtssubjekte vor dem Gesetz und die Unabhängigkeit der Justiz die drei Pfeiler eines Rechtsstaats.  
   
 
 
'''Rechtsstaat''' = Legale Herrschaft, Herrschaft des Rechts (John Adams: rule of law, not of men). Zu den komplexen Traditionen, Gemeinsamkeiten und Unterschieden zwischen Rechtsstaat und rule of law und état de droit: Rosenfeld, Michel (2001) The Rule of Law and the Legitimacy of Constitutional Democracy, Southern California Law Review.
 
*Staatliche Organe unterstellen sich unterschiedlichen Rechtsideen bzw. Ideologien. Diese werden verstanden als vorpositives Recht, also Recht, das unabhängig von einer spezifischen Gesetzgebung besteht. Hierbei handelt es sich um ein Verständnis im Sinne des ''état de droit''.
*Die staatlichen Organe sind den positiven Gesetzen des Gesetzgebers unterworfen (Verständnis als ''Rechtsstaat'').
*Ein von der Vernunft abgeleitetes, universelles, globales, vorpositives Recht, das von allen – inklusive des Gesetzgebers – einzuhalten ist (rule of law).
 
'''Rule of Law''' ist eng verknüpft mit dem Common Law, das die Rechtsprechung der Richter neben positivem Recht an vorher ergangenen Präzedenzfällen orientiert (hochgradig flexibles Richterrecht). Für den Rechtsstaat dagegen ist das positive Gesetz der Hauptbezugspunkt (Richter als la bouche de la loi). Der Rechtsstaat richtet sich an alle drei Gewalten (Exekutive, Legislative, Judikative). Zwar richten sich in Großbritannien ebenfalls alle Gewalten an der Rule of Law aus, aber zumindest die Legislative ist von der Theorie her betrachtet nicht an diese gebunden. - In Deutschland existiert das Bundesverfassungsgericht mit dem Ziel, die Legislative zu kontrollieren, also festzustellen, ob Gesetze verfassungskonform sind. In Großbritannien ist die Legislative dagegen vollkommen souverän, richtet sich allerdings in der Praxis nach der Rule of Law (Kontrolle: Medien? Öffentlichkeit? Wahlniederlag?). - Im Gegensatz zur Rule of Law ist dem Rechtsstaat die Gewaltenteilung inhärent.
 
Das Word Justice Program/WJP (2016) versteht darunter ein durch folgende Phänomene gekennzeichnetes Rechtssystem: 
 
# The government and its officials and agents as well as individuals and private entities are accountable under the law.
# The laws are clear, publicized, stable and just; are applied evenly; and protect fundamental rights, including the security of persons and property.
# The process by which the laws are enacted, administered, and enforced is accessible, fair, and efficient.
# Justice is delivered timely by competent, ethical, and independent representatives and neutrals who are of sufficient number, have adequate resources and reflect the makeup of the communities they serve.
 
Konkret bedeutet das für die Kriminalpolitik:
 
#Normative und faktische Garantie der Menschen- und Bürgerrechte gegenüber staatlichem Handeln (insbesondere von Polizei, Justiz und Militär)
#Normative Ächtung und faktische Verhinderung von Korruption und Machtmissbrauch durch Akteure in Legislative, Exekutive und Judikative (vom Präsidenten bis zum Polizisten)
#Zugang zum Recht für alle Bürger (von Beschwerdemöglichkeiten bis zu gerichtlicher Überprüfung staatlicher Akte und Entschädigungen)
#Gesetzliche und effektive Verfahren - also Ermittlungsverfahren, Strafverfahren und Strafvollstreckungsverfahren (insbesondere ohne Einmischung von Politik, Polizei, Militär; due process) sowie eine erfolgreiche Kriminalitätskontrolle mit legalen Mitteln (geringe Kriminalitätsbelastung, geringe Homizidraten, keine gewaltsame Selbsthilfe)
 
Adressaten dieser Forderungen sind alle drei Staatsgewalten.
 
 
(1) Die '''Exekutive''' ist an die Gesetze und die Verfassung gebunden. Das schließt Korruption und außerrechtliche Eingriffe in Leib und Leben, Freiheit, Ehre, Eigentum und Vermögen der Bürger (in Gestalt von illegaler Polizeigewalt, Schutzgelderpressung etc.) aus. Sie kommen im funktionierenden Rechtsstaat nur als Skandale vor.
 
Die '''Polizei''' ist eine zivile Behörde. Sie hält sich auch gegenüber Unterprivilegierten, Verdächtigen und Kriminellen an die Gesetze. Sie diskriminiert niemanden. Als Organisation mit Gewaltlizenz, die einer besonders sorgfältigen Ausbildung und Aufsicht bedarf, existieren effektive interne und externe Kontrollen, die auch einen effektiven Beschwerdemechanismus einschließen. Bürgern steht der Rechtsweg zur gerichtlichen Überprüfung der Rechtmäßigkeit von Verwaltungshandeln nicht nur in der Theorie offen.
 
(2) Die '''Judikative''' muss für Bürger zugänglich sein und qualifizierte und unabhängige Arbeit leisten. Urteile sind überprüfbar (Instanzenzug, Revision, Wiederaufnahme), Fehlurteile werden nicht vertuscht, sondern korrigiert und Justizopfer werden entschädigt (Fehlurteile, verfassungswidrige Straftatbestände).
 
Es gibt effiziente Ermittlungen ohne Ansehen der Person. Das Personal ist gut ausgebildet, unabhängig und respektiert. Es gibt keine willkürlichen Verhaftungen und/oder Verfahrenseinstellungen.
 
Die Sanktionen sind maßvoll und der Strafvollzug achtet die Menschenwürde. Grausame Behandlung ist ausgeschlossen und Gewalt zwischen Gefangenen wird verhindert. - Eine anspruchsvolle Konzeption von Rechtsstaatlichkeit könnte die Freiheitsstrafe, das Gefängnis als Ort ihres Vollzugs und die Institution der Kriminalstrafe selbst auf den Prüfstand stellen.
 
(3) Der '''Gesetzgeber''' hat bei der Strafgesetzgebung die Freiheitsrechte und Justizgrundrechte der Bürger zu respektieren. Das heißt: es dürfen nur Rechtsgüter geschützt werden, keine Weltanschauungen. Es gelten das Bestimmtheitsgebot, das Rückwirkungsverbot, das Ultima-Ratio-Prinzip, der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz.
 
::Ein "starkes" Rechtsstaatsverständnis würde die Strafgesetzgebung direkt in den Vergleich mit der Verfassung zwingen: für vorkonstitutionelle Strafgesetze gälte die Vermutung der Verfassungswidrigkeit. Es wäre in jedem Fall zu prüfen und zu begründen, warum welche Rechtsgüter überhaupt gegen welche Arten von Angriffen strafgesetzlich geschützt werden dürfen/müssen (Rechtsgutslehre) und bei welchen davon in concreto auch der strafrechtliche Schutz erforderlich, geeignet und verhältnismäßig ist; nicht notwendige Gesetze sind "überflüssige Herrschaft" und damit - so schon Tocqueville - "tyrannisch"; die Notwendigkeitsprüfung erfolgt schon im Gesetzgebungsprozess und ist nach Verabschiedung des Gesetzes auch verfassungsgerichtlicher Überprüfung zugänglich.
 
Essentiell für einen Rechtsstaat:
#'''Staatliche Organe müssen sich nach den Gesetzen richten'''
#'''Die Legislative muss sich an die Verfassung halten''' und insbesondere die '''Grundrechte''' und den Grundsatz der '''Verhältnismäßigkeit''' (in Bezug auf die Einschränkung von Rechten zum Wohle der Allgemeinheit) respektieren. Erforderlich sind auch Klarheit (Bestimmtheit) und Konsistenz von Gesetzen, Rückwirkungsverbot
#'''Rechtsschutz''' (Verfassungsgerichtsbarkeit und Sicherheit über den Rechtsweg), also '''Gewaltenteilung'''.
 
Ob darüber hinaus noch weitere Voraussetzungen erfüllt sein müssen, um von einem Rechtsstaat sprechen zu können, und wenn ja: welche, ist umstritten. Es gibt "thick" und "thin", "starke" und "schwache" Konzepte. Die schwachen begnügen sich mit Regelgebundenheit und Erwartungssicherheit ("rule through law"), die starken fordern bestimmte Bürgerfreiheiten und demokratische Rückkopplungsmechanismen, um überhaupt von einem Rechtsstaat sprechen zu können. Schwache Konzepte sagen: wenn diese zusätzlichen Voraussetzungen vorliegen, um so besser: dann handelt es sich eben bei jenen Glücksfällen um freiheitliche demokratische Rechtsstaaten.
 
Obwohl sicherlich keine ''demokratischen'' Rechtsstaaten, werden z.B die arabischen Emirate (und Singapur) aufgrund ihrer hohen Rechtssicherheit gelegentlich durchaus als ''Rechtsstaaten'' eingestuft, obwohl dort jedenfalls nach den Weberschen Kriterien wohl eher von einer (dem Rechtsstaat geradezu entgegengesetzten) Form traditionaler Herrschaft zu sprechen wäre (Thiery, Sehring, Muno). Denn rechtsstaatliche Kriminalpolitik bedeutet "rule of law, and not of men" (John Adams). Sie kann definitionsgemäß weder durch Berufung auf bloße Tradition noch durch das persönliche Charisma einer Führerfigur, sondern allein durch die Autorität des in Gesetzesform niedergeschriebenen Rechts Geltung und Befolgung beanspruchen.
 
Das "gesatzte Recht" wiederum gewinnt seine Autorität durch die Verfassungsmäßigkeit der einfachen Gesetze und dadurch, dass die Verfassungsprinzipien fundamentale Gerechtigkeitskriterien anerkennen und bekräftigen (Menschenrechte).
 
Man kann auch sagen:
#Bindung der Verwaltung an die Gesetze (Bestimmtheit, Rückwirkungsverbot, Gleichheit)
#Gerichtliche Überprüfbarkeit hoheitlicher Eingriffe (unabhängige Justiz, Gewaltenteilung)
#Legitimität der Gesetze (Grundrechte, Regierung nicht über, sondern unter der Verfassung und unter dem Gesetz, Normenhierarchie, Bürger nicht Mittel zum Zweck, sondern Subjekt nach Kant. '''Selbst der Verbrecher hat ein Recht auf ein faires Verfahren.
'''
Das Recht auf ein faires Verfahren (fair trial, due process) ist in Artikel 6 EMRK, Art. 18 der Amerikanischen Menschenrechtskonvention und Art. 14 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte, der von den meisten Staaten der Welt ratifiziert wurde, verankert.
 
:Artigo 18
:Toda  pessoa  pode  recorrer  aos  tribunais  para  fazer  respeitar  os  seus  direitos. Deve  poder  contar,  outros
sim,  com  processo  simples  e  breve,  mediante  o  qual  a justiça  a  proteja  contra  atos  de  autoridade  que  violem,  em  seu  prejuízo,  qualquer dos direitos fundamentais consagrados constitucionalmente.
 
:Declaración Americana de los Derechos y Deberes del Hombre,  Artículo XVIII:
::Toda persona puede ocurrir a los tribunales para hacer valer sus derechos.  Asimismo debe disponer de un procedimiento sencillo y breve por el cual la justicia lo ampare contra actos de la autoridad que violen, en perjuicio suyo, alguno de los derechos fundamentales consagrados constitucionalmente.
 
Während die ersten beiden Voraussetzungen auch in Nicht-Rechtsstaaten erfüllt sein können (''rule by law''), wird aus der Herrschaft durch Gesetze eine Herrschaft des Gesetzes (''rule of law''), wenn die Gesetze nach oben hin an eine Wertordnung und nach unten hin an die Freiheitsrechte der Bürger angebunden sind.
 
 
 
 
== Rechtsgleichheit ==
== Rechtsgleichheit ==
Um die Grenzen der Gleichheit vor dem Gesetz gab es immer schon Kontroversen und Konflikte (George Orwell: "All animals are equal, but some animals are more equal than others").
Um die Grenzen der Gleichheit vor dem Gesetz gab es immer schon Kontroversen und Konflikte (George Orwell: "All animals are equal, but some animals are more equal than others").
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