Punitivität

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Definition, Begriffsgeschichte, Etymologie

Punitivität ist eine Form der sozialen Kontrolle, die über folgende Wesensmerkmale verfügt:

  • die Zufügung von Schmerz (im Sinne von Verlust, Schaden, Leiden);
  • ein Individuum wird für den Bruch abstrakter Regeln, und zwar Gesetze, verantwortlich gemacht;
  • sie ist moralisierend;
  • sie beruht stärker auf Zwang als auf Freiwilligkeit;
  • sie beinhaltet den Transfer von sozialen Kontrollfunktionen auf einen dritten Akteur, also etwa auf das Kriminaljustizsystem des Staats (Cohen 1994).

Somit unterscheidet sich die Punitivität systematisch von anderen Formen der sozialen Kontrolle, etwa der kompensatorischen, der versöhnenden und der therapeutisch ausgerichteten sozialen Kontrolle (ibid.).
Der Begriff Punitivität stammt von den lateinischen Begriffen poena (Strafe) bzw. punire (bestrafen). Trotzdem handelt sich hierbei um einen relativ aktuellen Begriff, zu dem sich in den letzten zehn Jahren aber eine gewaltige Menge an Forschungsliteratur angehäuft hat.

Der Begriff wird häufig synonym mit Begriffen wie Sanktionsmentalität, Strafeinstellungen, Strafbedürfnis, oder Straflust verwendet; häufig ohne daß ein klares Bild über die Bedeutung des Begriffes vorliegt.
Bei der Punitivität handelt es sich nicht um ein eindimensionales und einheitliches Konzept, vielmehr zerfällt es in verschiedene, sich wechselseitig beeinflussende Dimensionen. Kury et al. (2004) unterscheiden zwischen drei konzeptuellen Hauptebenen von Punitivität: individuelle, gesellschaftliche und justizielle Punitivität.
Erstere stellt eine Mikroperspektive der Punitivität dar, in der sich »persönliche Annahmen, Einstellungen, Werte, Konzepte und auch Emotionen« einzelner Personen manifestieren.
Gesellschaftliche Punitivität ist im Gegensatz dazu die Makroperspektive, die sich überindividuell in der gesellschaftlichen Auseinandersetzung, vor allem in den Massenmedien, zeigt.
Als letztes nennen Kury et al. die justizielle Punitivität, also die tatsächliche Sanktionspraxis des Justizapparates, in der sich selbstredend auch Strafmentalitäten ausdrücken.
Zweifellos sind auch noch weitere Dimensionen des Konzeptes denkbar, zum Beispiel eine legislative oder exekutive Form der Punitivität.

Empirische Indikatoren des Konzepts

  • Indikatoren auf individueller Ebene:
  • Indikatoren auf gesellschaftlicher Ebene:
    • Inhalte der Medienberichterstattunug (Inhaltsanalyse, Diskursanalyse)
    • Programme der Parteien und Reden der Politiker (Inhaltsanalyse, Diskursanalyse)
  • Indikatoren auf justizieller Ebene:
    • Anträge der Staatsanwaltschaft und das Maß der verhängten Strafen
    • Zahl der Gefängnisinsassen (Strafvollzugsstatistik)
  • Indikatoren auf exekutiver Ebene:
    • Art und Dichte des polizeilichen Vorgehens (z. B. Brechmitteleinsätze)
    • Merkmale des Strafvollzugs, Umfang von Hafterleichterungen (z. B. No frills-Gefängnisse, Chain gangs etc.)
    • Paradigmen der Kriminalwissenschaft
  • Indikatoren auf legislativer Ebene:
    • Inhalte der Strafgesetze (z. B. Three strike laws)
    • Begründung neuer Gesetze und angemeldeter Strafforderungen


Deutungsansätze für Punitivität

  • Punitivität als Denial bzw Acting out: Garland (2001) deutet ein verschärftes Sanktionsklima als Reaktion auf den in den letzten Jahrzehnten augenscheinlich gewordenen Kriminalitätsanstieg. Im harten und expressiven Strafen zeige sich der Versuch des Staates, seine traditionelle, aber mittlerweile illusorisch gewordene Rolle als Beschützer seiner Bürger vor Feinden nicht nur von außen, sondern auch von innen symbolisch zu bekräftigen und seine Macht gegenüber den Feinden von innen zu demonstrieren.
  • Punitivität als autoritäre Aggression (The Authoritarian Personality, Autoritarismusforschung: cf. Adorno et al. 1950; Rippl et al. 2000)
  • Punitivität als gruppenbezogenene Menschenfeindlichkeit (cf. Mansel 2004)
  • Punitivität als Governing thru crime (cf. Simon 1997)
  • Punitivität als Penal populism (cf. Bottoms)

Fazit

Literatur

  • Adorno, Theodor W., Else Frenkel-Brunswik, Daniel J. Levinson und R. Nevitt Sanford 1950: The Authoritarian Personality, New York.
  • Becker, Melanie und Melanie Reddig 2004: »Punitivität und Rechtspopulismus«, in: Lautmann, Rüdiger, Daniela Klimke und Fritz Sack (Hrsg.): Punitivität. Achtes Beiheft zum Kriminologischen Journal, Weinheim, Seite 173 bis 192.
  • Beckett, Katherine und Theodore Sasson 2004: The Politics of Injustice. Crime and Punishment in America, 2. Auflage, Thousand Oaks, CA/London/Neu Delhi.
  • Cohen, Stanley 1994: »Social Control and the Politics of Reconstruction«, in: Nelken, David (Hrsg.): The Futures of Criminology, London/Thousand Oaks, CA/New Delhi, Seite 63 bis 88.
  • Cremer-Schäfer, Helga und Heinz Steinert 1998: Straflust und Repression. Zur Kritik der populistischen Kriminologie, Münster.
  • Garland, David 2001: The Culture of Control. Crime and Social Order in Contemporary Society, Chicago, IL.
  • Hutton, Neil 2004: »Beyond Populist Punitiveness?«, Punishment & Society 7, Heft 3, Seite 243 bis 258.
  • Krasmann, Susanne 2003: Die Kriminalität der Gesellschaft. Zur Gouvernementalität der Gegenwart, Konstanz.
  • Kury, Helmut, Harald Kania und Joachim Obergfell-Fuchs 2004: »Worüber sprechen wir, wenn wir über Punitivität sprechen? Versuch einer konzeptionellen und empirischen Begriffsbestimmung«, in: Lautmann, Rüdiger, Daniela Klimke und Fritz Sack (Hrsg.): Punitivität. Achtes Beiheft zum Kriminologischen Journal, Weinheim, Seite 51 bis 88.
  • Obergfell-Fuchs, Joachim und Helmut Kury 2004: »Strafeinstellungen der Bevölkerung«, in: Walter, Michael, Harald Kania und Hans-Jörg Albrecht (Hrsg.): Alltagsvorstellungen von Kriminalität. Individuelle und gesellschaftliche Bedeutung der Kriminalitätsbilder für die Lebensgestaltung, Münster, Seite 457 bis 485.
  • Pratt, John 2000: »The Return of the Wheelbarrow Men; or, the Arrival of Postmodern Penality?«, British Journal of Criminology 40, Seite 127 bis 145.
  • Reuband, Karl-Heinz 1980: »Sanktionsverlangen im Wandel. Die Einstellung zur Todesstrafe in der Bundesrepublik Deutschland seit 1950«, Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 32, Heft 4, Seite 535 bis 558.
  • Reuband, Karl-Heinz 2003: »Steigende Repressionsneigung im Zeitalter der ›Postmoderne‹? Das Sanktionsverlangen der Bundesbürger 1989 und 2002 im Vergleich«, Neue Kriminalpolitik 15, Heft 1, Seite 15 bis 20.
  • Rippl, Susanne, Christian Seipel und Angela Kindervater (Hrsg.) 2000: Autoritarismus: Kontroversen und Ansätze der aktuellen Autoritarismusforschung. Opladen.
  • Simon, Jonathan 1997: »Gewalt, Rache und Risiko. Die Todesstrafe im neoliberalen Staat«, in: Trotha, Trutz von (Hrsg.): Soziologie der Gewalt. Sonderheft 37 der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Opladen, Seite 277 bis 301.
  • Thiel, Stephanie 2005: Zu sozialpsychologischen Grundlagen rechtspopulistischer Wahlen am Beispiel einer Law-and-Order-Bewegung, unveröffentlichte Diplomarbeit, Universität Hamburg.

Weblinks