Diskussion:Punitivität

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Pre-emptive edit war-Erklärung:

Damit das mal klar ist: Wer diesen Artikel hier verändern möchte, der legt sich mit mir an!

Verbessert werden kann lediglich der Punitivität (alt)-Artikel.

Liebe IP, das ist aber nicht gerade im Sinne der Wiki-Konventionen. Es gibt hier keine Besitztümer und keine "eigenen" Artikel. Das musste ich hier an dieser Stelle einmal klarstellen. -- Kruwi 12:09, 16. Mai 2008 (CEST) (Admin.)

Das sehe ich genauso wie Kruwi. Es geht doch um die gemeinsame Erstellung immer inhaltsreicherer Beiträge. Und zwei Beiträge zu einem Begriff kann doch nur eine (sehr, sehr)vorläufige Notmaßnahme darstellen. Ziel kann doch nur sein, einen optimalen Artikel zu basteln. Aus den beiden vorhandenen und dann immer weiter, ist doch eigentlich klar, meint: Sebastian. 17.05.08.


Alter Artikel

[ lat. poena = Strafe, punire: strafen ]
Punitivität = die verallgemeinerte Haltung oder Tendenz, mit belastenden Sanktionen auf wahrgenommene Normabweichungen zu reagieren.


Kriminaltheoretisch:
die Tendenz, vergeltende Sanktionen vorzuziehen und versöhnende zu vernachlässigen. Archaische Rache- und Vergeltungsimpulse fordern Verschärfung der Sanktionen.
Gefahr einer neuen Kultur der Intoleranz, deren Rechtsstrafen vormoderner oder nichtmoderner Gesellschaften ähneln.


Gegenwärtig erleben wir eine Renaissance der Punitivität.
Bundesverfassungsrichter Winfried Hassemer sagt dazu: „Nicht die Strafe verlangt in unseren Tagen Nachdenken und Rechtfertigung, sondern die Frage nach ihr und Kritik an ihr [. . .] Dass Strafe sein muss, ist den Leuten normalerweise nicht nur klar und einleuchtend, sondern spricht ihnen auch aus dem Herzen, Strafe passt. Heute muß man vielmehr erklären, warum wir auf ein bestimmtes Problem nicht mit Strafe antworten.“ (Stehr, 2000, S. 104)


Zu einer Bestandsaufnahme der „machtvollen Tendenz“ in Richtung auf Punitivität lud der Arbeitskreis Junger KriminologInnen (AJK) vom 11. bis 13.09.2003 zu einem Symposium in Hamburg ein – Thema: „Die neue Straflust“.


Der Ruf nach härteren Strafen flackert allerorts auf. Bevölkerung und Politik sind sich einig: Es muß mehr und härter bestraft werden.
Die Politik greift damit Punitivierungen in den Bevölkerungsmeinungen auf, die einen zu laschen Umgang mit Straftätern und eine überbordende Kriminalitätsbedrohung anklagen. Auch angeheizt durch Medienberichterstattungen zu spektakulären Verbrechen artikulieren sich Strafbedürfnisse als Ausdruck von Kriminalitätsfurcht. Nur Wissenschaft und Instanzen zögern (noch), ist ihr Personal doch zu liberalen Zeiten ins Amt gekommen.
Parolen wie „Wegschließen, und zwar für immer“ oder „Raus, und zwar sofort“ waren vom Bundeskanzler ebenso wie auf der politischen Rechte zu hören und wurden nur von wenigen Journalisten kritisiert. Kriminalitätsfurcht wird seitdem als ein die Wahlen mitentscheidendes Thema behandelt.
Punitivität befindet sich also auf dem Vormarsch. Sie besteht nicht nur aus einer Oberfläche von Stimmungen und Wahlkampftaktik, sondern wurzelt in den sozioökonomischen Entwicklungen der Gegenwart (Schlagwörter: Neoliberalismus, Globalisierung, Deregulierung etc.), und sie artikuliert sich in Verbindungen mit anderen Formen des Abgrenzens (z.B. Exklusion, Ghettosierung, Gewalt).
Die pragmatische Kriminologie hat Erfolg mit den Konzepten wie Nulltoleranz, Privatisierung usw.
Die kritische Kriminologie antwortet mit Konzepten wie Responsibilisierung, Gouvernementalität etc.
Die Wiederentdeckung der Strafdrohung, des Strafvollzuges und der Säuberung öffentlicher Orte fordern eine Kriminologie heraus, die nicht einfach mitmachen will.


Von der Drogenpolitik- über die Jugendpolitik bis hin zur Ausländerpolitik zieht sich die Bereitschaft, von einer problemlösenden zu einer strafenden Politik überzugehen.
Die Kriminalpolitik wird immer mehr zur Lösung von Problemen herangezogen, bei denen andere Instanzen sich zurückziehen oder schlicht versagen.


Die Punitivität kann in verschiedenen Kontinuen gefasst werden, deren Polaritäten in u.a. Tabelle veranschaulicht sind:


Relation (Vergeltung) Restitution (Ausgleich)
rächend versöhnend
vorurteilsvoll vorurteilsfrei
autoritär liberal
rigide flexibel
repressiv permissiv
herrschaftsorientiert verständigungsorientiert
Strafverschärfung Entkriminalsisierung
Intervention Mediation
Segregation Integration
Legalität Abolition


Indikatoren für Punitivität mit empirischer Relevanz:
(empirischer Gehalt des Konzepts Punitivität)


  • Inhalte der Strafgesetze
  • Begründung neuer Gesetze und angemeldeter Strafforderungen
  • Programme der Parteien und Reden der Politiker
  • Zahl der Gefängnisinsassen
  • Merkmale des Strafvollzugs, Umfang von ‚Hafterleichterungen’
  • Art und Dichte des polizeilichen Vorgehens
  • Anträge der Staatsanwaltschaft und das Maß der verhängten Strafen
  • Tendenziosität der Berichterstattung in den Medien
  • Anzeigeverhalten der Bevölkerung
  • Strafwünsche der Bevölkerung
  • Paradigmen der Kriminalwissenschaft


Denklinien:

  1. Émile Durkheim – geht von der Grundannahme aus, dass Strafhärte kein Anzeichen eines überzeugenden politischen Systems darstellt, sondern als Symptom für Autoritätsverlust und unangepasste Kontrollmaßnahmen interpretiert werden sollte. (Garland, 2001).
  2. Autoritarismus (Theodore W. Adorno, Milton Rokeach)
    Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit (“GMF“, Wilhelm Heitmeyer)
  3. Zivilisationstheorie von Norbert Elias:
    Elias geht davon aus, daß die Affekte unvermittelter Aggression zwischen Kontrahenten zur Moderne hin gedämpft und in rechtlichen Verfahren absorbiert werden. (John Pratt, 1990).
  4. in „The culture of Control” (2001) spricht David Garland vom Wandel vom Wohlfahrtsstaat (etwa 1890-1970) zum Strafstaat in der high crime society (seither).
    Bei Garland spaltet sich die Kriminalpolitik in der Folge auf: in eine der relativen „Normalisierung“ von Kriminalität und des Umgangs mit ihr - „Kriminologie des Selbst“ und in eine Kriminalpolitik der Dramatisierung und Dämonisierung, eine der moralischen Panik über besonders verabscheuungswürdige Verbrechen, die vorzugsweise gegenüber „unschuldigen Opfern“ gerichtet sind.
  5. Jock Young – zur Soziologie der Rachsucht (vindictiveness) im Rahmen einer kulturellen Kriminologie.
  6. Joachim J. Savelsberg – Religiöser Puritanismus und Punitivität.
  7. Bestrafen als eine unter mehreren Möglichkeiten – Helga Cremer-Schäfer: Verbrechen & Strafe sowie Schwäche & Fürsorge.
  8. Strafrecht als symbolisches Mittel der Politik.
    Susanne Krasmann „Gouvernementalité“ (2003)

zu empfehlen: Axel Groenemeyer (siehe Literaturliste)


Literatur:

Cremer-Schäfer, Helga; Steinert, Heinz: Straflust und Repression. Zur Kritik der populistischen Kriminologie. (1998).
Dölling, Dieter [u.a.]: Täter-Opfer-Ausgleich in Deutschland. Bestandsaufnahmen und Perspektiven. Bonn 1998.
Durkheim, Émile: Two Laws of Penal Evolution. In: Economy and Society 2; S. 285-307. (1973).
Garland, David: The Limits of the Sovereign State: Strategies of Crime Control in Contemporary Society. In: British Journal of Criminology, Vol. 35, No.4, 1996, S. 445-471.
Garland, David: The culture of control. Crime and Social Order in Contemporary Society. (Oxford Universitiy press, 2001).
Groenemeyer, Axel: Punitivität im Kontext – Globale Konvergenzen der Kriminalpolitik oder Pfadabhängigkeit der Konstruktion abweichenden Verhaltens. In: Soziale Probleme Gesundheit und Politik Nr. 3; (2003).
Hallswoth, Simon: Rethinking the Punitive Turn. Economics of Exess and the Criminology of the Other.in: Punishment and Society 2/2;S. 145-160;(2000).
Mead, George H.: Punitive Justice. (1918).
Nogala, Detlef: Soziohysterie und Punitivität. Beitrag zum Symposium d. AJK;(2003).
Pratt, John: Norbert Elias and the Civilized prison. In: British Journal of Sociology 50. S. 271-296.(1990).
Savelsberg, Joachim J.: Knowledge, Domination and Criminal Punishment Revisited. In: Punishment & Society 1/1; S. 45-70.(1999).
Simon, Jonathan: Gewalt, Rache und Risiko. Die Todesstrafe im neoliberalen Staat. S. 279-301 in: Trotha, T. von (Hg.): Soziologie der Gewalt. (Sonderheft 37 der Kölner Zeitschrift f. Soziologie u. Sozialpsychologie). (Opladen, 1997).
Stehr, Johannes: Welche Funktionen haben staatliche Strafen und der Ruf nach Bestrafung der Jugend? In: Bettinger [u.a.]: Gefährdete Jugend? Jugend, Kriminalität und der Ruf nach Strafe. Opladen 2002, S. 103-116.
Taylor, Ian: Crime in Context: A Critical Criminology of Market Societies. Cambridge 1999.
Wacquant, Loic: Elend hinter Gittern.(2000).
Weber, Hartmut-Michael: Lebenslange Freiheitsstrafe in der Bundesrepublik: Abschaffungsperspektiven gegenüber positiver Reform. In: Knut Papendorf [u.a.] (Hrsg.):’Kein schärfer Schwert, denn das für Freiheit streitet!’ Eine Festschrift für Thomas Mathiessen. Bielefeld: 1993.
Young, Jock: Zur Soziologie der Rachsucht (vindictiveness) im Rahmen einer kulturellen Kriminologie. (2003).


Vgl.: Globalisierung, Gouvernementalité, Neolibralismus, Vindictiveness


Achtung: Einen wesentlich ausführlicheren Beitrag zur „Punitivität“ findet sich in einer Abhandlung (Abstract) von Prof. Dr. Fritz Sack.
KrimJ; 36 Jhg. 2004; (8. Beiheft)
Fritz Sack brachte das Konzept und die Diskussion der „Punitivität“ aus dem Angelsächsischen mit, um es auch für die deutsche Diskussion verfügbar zu machen