Punitivität: Unterschied zwischen den Versionen

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*Simon, Jonathan 1997: »Gewalt, Rache und Risiko. Die Todesstrafe im neoliberalen Staat«, in: Trotha, Trutz von (Hrsg.): <i>Soziologie der Gewalt</i>. Sonderheft&nbsp;37 der <i>Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie</i>, Opladen, Seite 277 bis 301.
*Simon, Jonathan 1997: »Gewalt, Rache und Risiko. Die Todesstrafe im neoliberalen Staat«, in: Trotha, Trutz von (Hrsg.): <i>Soziologie der Gewalt</i>. Sonderheft&nbsp;37 der <i>Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie</i>, Opladen, Seite 277 bis 301.
+ *Thiel, Stephanie 2005: <i>Zu sozialpsychologischen Grundlagen rechtspopulistischer Wahlen am Beispiel einer Law-and-Order-Bewegung</i>, unveröffentlichte Diplomarbeit, Universität Hamburg.
+ *Thiel, Stephanie 2005: <i>Zu sozialpsychologischen Grundlagen rechtspopulistischer Wahlen am Beispiel einer Law-and-Order-Bewegung</i>, unveröffentlichte Diplomarbeit, Universität Hamburg.
+ *Western, Bruce und Katherine Beckett 1999: »How Unregulated is the U.S. Labor Market? The Penal System as a Labor Market Institution«, <i>American Journal of Sociology</i>&nbsp;104, Heft&nbsp;4, Seite 1030 bis 1060.
+*Western, Bruce und Katherine Beckett 1999: »How Unregulated is the U.S. Labor Market? The Penal System as a Labor Market Institution«, <i>American Journal of Sociology</i>&nbsp;104, Heft&nbsp;4, Seite 1030 bis 1060.


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Version vom 12. März 2006, 23:53 Uhr

Under Constructivism


Zum Begriff Punitivität: Definition, Etymologie, Geschichte

Punitivität ist eine Form der sozialen Kontrolle, die über folgende Wesensmerkmale verfügt:

  • die Zufügung von Schmerz (im Sinne von Verlust, Schaden, Leiden);
  • ein Individuum wird für den Bruch abstrakter Regeln, und zwar Gesetze, verantwortlich gemacht;
  • sie ist moralisierend;
  • sie beruht stärker auf Zwang als auf Freiwilligkeit;
  • sie beinhaltet den Transfer von sozialen Kontrollfunktionen auf einen dritten Akteur, also etwa auf das Kriminaljustizsystem des Staats (Cohen 1994).

Somit unterscheidet sich die Punitivität systematisch von anderen Formen der sozialen Kontrolle, etwa der kompensatorischen, der versöhnenden und der therapeutisch ausgerichteten sozialen Kontrolle.
Der Begriff Punitivität stammt von den lateinischen Begriffen poena (Strafe) bzw. punire (bestrafen) ab. Trotzdem handelt sich hierbei um einen relativ aktuellen Begriff, zu dem sich in den letzten zehn Jahren eine gewaltige Menge an Forschungsliteratur angehäuft hat.
Eine häufig geäußerte Ansicht zum Thema ist, daß die Zeit des liberalen Sanktionsklimas vorbei sei und Repression und Kontrolle die neuen Paradigmen der Spätmoderne seien. Bürger, Politiker, Richter etc. würden immer punitiver – vor allem und zuerst in den USA und in Großbritannien, wobei die anderen westlichen Länder diesen Wandel nachvollziehen würden oder dies schon täten: In der Bundesrepublik wurde zum Beispiel der überraschende Wahlerfolg der Schillpartei bei der Bürgerschaftswahl in Hamburg im Jahr 2001 als ein deutliches Anzeichen dafür betrachtet.

Der Begriff Punitivität wird häufig synonym mit Begriffen wie Sanktionsmentalität, Strafeinstellungen, Strafbedürfnis, oder Straflust verwendet; häufig ohne daß ein klares Bild über die Bedeutung des Begriffes vorliegt.
Bei der Punitivität handelt es sich nicht um ein eindimensionales und einheitliches Konzept, vielmehr zerfällt es in verschiedene, sich wechselseitig beeinflussende Dimensionen. Kury et al. (2004) unterscheiden zwischen drei konzeptuellen Hauptebenen von Punitivität: individuelle, gesellschaftliche und justizielle Punitivität.

  • Die individuelle Punitivität stellt eine Mikroperspektive der Punitivität dar, in der sich persönliche Annahmen, Einstellungen, Werte und die Emotionen einzelner Personen manifestieren.
  • Gesellschaftliche Punitivität ist im Gegensatz dazu die Makroperspektive, die sich überindividuell in der gesellschaftlichen Auseinandersetzung, vor allem in den Massenmedien, zeigt.
  • Die justizielle Punitivität, also die tatsächliche Sanktionspraxis des Justizapparates, ist selbstredend auch Ausdruck der Strafmentalität.

Zweifellos sind auch noch weitere Dimensionen des Konzeptes denkbar, zum Beispiel eine legislative oder exekutive Form der Punitivität.

Bei einer Untersuchung, die Punitivität zu Gegenstand hat, kann es nicht genügen, sich auf lediglich eine der genannten Dimensionen zu konzentrieren. Die verschiedenen Dimensionen sind wechselseitig miteinander verbunden und eine Veränderung auf der einen Ebene kann, muß aber nicht zwingend mit einer Veränderung auf der anderen Ebene einhergehen. So legt Reuband (1980) nahe, daß eine Veränderung auf legislativer Ebene (Abschaffung der Todesstrafe in der Bundesrepublik Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg) eine Veränderung auf gesellschaftlicher Ebene bewirkt hat (beständiges Sinken der Zustimmung zur Todesstrafe in wiederholten Querschnittsuntersuchungen).

Empirische Indikatoren des Konzepts Punitivität

Empirische Indikatoren, die eine Messung von Punitivität möglich machen (nach Lautmann und Klimke 2004), finden sich auf allen konzeptuellen Ebenen (wobei die Einordnung in dieser Form nicht in jedem Fall zwingend ist):

  • Indikatoren auf individueller Ebene:
  • Indikatoren auf gesellschaftlicher Ebene:
    • Inhalte der Medienberichterstattung
      (Inhaltsanalyse, Diskursanalyse)
    • Programme der Parteien und Reden der Politiker
      (Inhaltsanalyse, Diskursanalyse)
  • Indikatoren auf justizieller Ebene:
    • Anträge der Staatsanwaltschaft und das Maß der verhängten Strafen
    • Zahl der Gefängnisinsassen
  • Indikatoren auf exekutiver Ebene:
    • Art und Dichte des polizeilichen Vorgehens
      (z. B. Brechmitteleinsätze, Zero tolerance-Strategien)
    • Merkmale des Strafvollzugs, Umfang von Hafterleichterungen
      (z. B. No frills-Gefängnisse, Chain gangs, Boot camps, Hochsicherheitsgefängnisse, Todesstrafe etc.)
    • Paradigmen der Kriminalwissenschaft
  • Indikatoren auf legislativer Ebene:
    • Inhalte der Strafgesetze
      (z. B. Three strike laws, Truth in sentencing, Megan’s law etc.)
    • Begründung neuer Gesetze und angemeldeter Strafforderungen

Diese Indikatoren können nicht einzeln Punitivität darstellen und verfügen jeweils über eigene Problematiken, die bei einer Untersuchung berücksichtigt werden müssen.

So schlägt sich etwa im Anzeigeverhalten der Bevölkerung auch deren Strafverlangen nieder. Da aber erstens das Anzeigeverhalten auch von anderen Bedürfnissen, Interessen, Einstellungen und situativen Faktoren abhängt und man zweitens schwer unterscheiden kann, inwiefern mit einer gestiegenen Zahl von Anzeigen eine gestiegene Zahl anzeigbarer Delikte einhergeht, ist dieser Indikator eher als problematisch zu erachten.

Auch ein »hard indicator« wie die Gefängnispopulation ist nicht grundsätzlich eindeutig: so variiert deren Größe in den USA von Bundesstaat zu Bundesstaat und befindet sich in einigen auch auf westeuropäischem Niveau (Albrecht 2004).

Ein populärer empirischer Indikator für Punitivität ist die Messung der Strafeinstellungen von Befragten. Hierzu werden vielfach Standardfragen verwendet, deren Validität angezweifelt werden kann (cf. z. B. Sessar 2001; Obergfell-Fuchs und Kury 2004; Green 2006). Hutton (2005) vergleicht in einer schottischen Untersuchung, die sowohl eine [Face-to-Face-Befragung|Quantitative Methoden], [Fokusgruppen|Qualitative Methoden] als auch eine Art [Deliberative poll|Qualitative Methoden] umfaßte, neben den Ergebnissen der unterschiedlichen Erhebungsmethoden und den Auswirkungen von Zusatzinformationen zum Entstehung und Tathergang eines Verbrechens in Fragebögen auch »individualist« und »structuralist accounts« von Verbrechen (cf. Garland 2002). Während die individualistischen Darstellungen eine Moralgeschichte erzählen und eine einzelne Sanktion notwendig machen (der Befragte bekommt eine Rolle als Richter zugewiesen), beleuchten die strukturellen Darstellungen eher die Umstände von Kriminalität, wobei dann Themen wie gesellschaftliche Ungerechtigkeit, Bildung etc. bedeutsam werden (der Befragte bekommt hier die Rolle eines Sozialreformers oder Politikers). Beide Arten der Darstellung folgen vollkommen unterschiedlichen Logiken und sind miteinander inkompatibel, was die sich stark unterscheidenden Ergebnisse von Umfragen zu Strafeinstellungen erklären kann: Während Umfragen, bei denen Kriminalität ohne Zusatzinformationen auf einer strukturelle abgefragt werden, eher eine punitive öffentliche Meinung erzeugen, resultieren Methoden, die den Befragten die Möglichkeit zu Dialog geben, Zusatzinformationen geben und die Darstellung der Kriminalität individuell einfassen, eher in liberalen Einstellungen.

Deutungsansätze für Punitivität

In der Kriminologie finden sich – abgesehen von den unterschiedlichen Befunden bezüglich einer Zunahme der Repressionsneigung – auch verschiedene Ansätze, wie die Punitivität zu deuten sei, das heißt, woher die Zunahme komme und wie man mit ihr umgehen könne.
Die Ursache einer zunehmend punitiveren Kriminalpolitik wird häufig als Strategie von Politikern gesehen: Punitive soziale Kontrolle wird und wurde von populistischen Politikern auf die Agenda gesetzt, da diese als Erfolgsgarant im Kampf um Wählerstimmen gilt (Becker und Reddig 2004; Beckett und Sasson 2004). Sie ist sogar in der Lage, dem Staat aus seiner Legitimationskrise zu helfen, in die er in der Spätmoderne durch das weit verbreitete Mißtrauen gegenüber Regierungen und ihren Experten und seinem Rückzug aus seinen vormaligen Haupttätigkeitsbereichen Wirtschafts- und Sozialpolitik, geraten ist. Die von Kriminalität hervorgerufene Angst und Empörung und die damit einhergehenden Rufe nach staatlichen Maßnahmen zur Verbrechensbekämpfung helfen dem Staat wieder auf (Sack 2004), und zwar aus seiner Legitimationskrise. Kriminalität wird zur Regierungsstrategie, Simon (1997) bezeichnete dies als Governing through crime.


  • Punitivität als Denial bzw Acting out: Garland (2001) deutet ein verschärftes Sanktionsklima als Reaktion auf den in den letzten Jahrzehnten augenscheinlich gewordenen Kriminalitätsanstieg. Im harten und expressiven Strafen zeige sich der Versuch des Staates, seine traditionelle, aber mittlerweile illusorisch gewordene Rolle als Beschützer seiner Bürger vor Feinden nicht nur von außen, sondern auch von innen symbolisch zu bekräftigen und seine Macht gegenüber den Feinden von innen zu demonstrieren.
  • Punitivität als autoritäre Aggression (The Authoritarian Personality, Autoritarismusforschung: cf. Adorno et al. 1950; Rippl et al. 2000)
  • Punitivität als gruppenbezogenene Menschenfeindlichkeit (cf. Mansel 2004)

Fazit

Literatur

+ *Adorno, Theodor W., Else Frenkel-Brunswik, Daniel J. Levinson und R. Nevitt Sanford 1950: The Authoritarian Personality, New York.

  • Albrecht, Hans-Jörg 2004: »Öffentliche Meinung, Kriminalpolitik und Kriminaljustiz«, in: Walter, Michael, Harald Kania und Hans-Jörg Albrecht (Hrsg.): Alltagsvorstellungen von Kriminalität. Individuelle und gesellschaftliche Bedeutung der Kriminalitätsbilder für die Lebensgestaltung, Münster, Seite 491 bis 520.
  • Becker, Melanie und Melanie Reddig 2004: »Punitivität und Rechtspopulismus«, in: Lautmann, Rüdiger, Daniela Klimke und Fritz Sack (Hrsg.): Punitivität. Achtes Beiheft zum Kriminologischen Journal, Weinheim, Seite 173 bis 192.
  • Beckett, Katherine und Theodore Sasson 2004: The Politics of Injustice. Crime and Punishment in America, 2. Auflage, Thousand Oaks, CA/London/Neu Delhi.
  • Cohen, Stanley 1994: »Social Control and the Politics of Reconstruction«, in: Nelken, David (Hrsg.): The Futures of Criminology, London/Thousand Oaks, CA/New Delhi, Seite 63 bis 88.

+ *Cremer-Schäfer, Helga und Heinz Steinert 1998: Straflust und Repression. Zur Kritik der populistischen Kriminologie, Münster.

  • Garland, David 2001: The Culture of Control. Crime and Social Order in Contemporary Society, Chicago, IL.
  • Garland, David 2002: »The Cultural Uses of Capital Punishment« (Rezension zu Austin Sarat, When the State Kills, Pinceton, NJ 2001), Punishment & Society 4, Heft 4, Seite 459 bis 487.
  • Green, David A. 2006: »Public Opinion versus Public Judgment about Crime. Correcting the ›Comedy of Errors‹«, British Journal of Criminology 46, Heft 1, Seite 131 bis 154.
  • Hutton, Neil 2005: »Beyond Populist Punitiveness?«, Punishment & Society 7, Heft 3, Seite 243 bis 258.

+ *Krasmann, Susanne 2003: Die Kriminalität der Gesellschaft. Zur Gouvernementalität der Gegenwart, Konstanz.

  • Kury, Helmut, Harald Kania und Joachim Obergfell-Fuchs 2004: »Worüber sprechen wir, wenn wir über Punitivität sprechen? Versuch einer konzeptionellen und empirischen Begriffsbestimmung«, in: Lautmann, Rüdiger, Daniela Klimke und Fritz Sack (Hrsg.): Punitivität. Achtes Beiheft zum Kriminologischen Journal, Weinheim, Seite 51 bis 88.
  • Lautmann, Rüdiger und Daniela Klimke 2004: »Punitivität als Schlüsselbegriff als Schlüsselbegriff für eine Kritische Kriminologie«, in: Lautmann, Rüdiger, Daniela Klimke und Fritz Sack (Hrsg.): Punitivität. Achtes Beiheft zum Kriminologischen Journal, Weinheim, Seite 9 bis 29.
  • Obergfell-Fuchs, Joachim und Helmut Kury 2004: »Strafeinstellungen der Bevölkerung«, in: Walter, Michael, Harald Kania und Hans-Jörg Albrecht (Hrsg.): Alltagsvorstellungen von Kriminalität. Individuelle und gesellschaftliche Bedeutung der Kriminalitätsbilder für die Lebensgestaltung, Münster, Seite 457 bis 485.

+ *Pratt, John 2000: »The Return of the Wheelbarrow Men; or, the Arrival of Postmodern Penality?«, British Journal of Criminology 40, Seite 127 bis 145.

  • Reuband, Karl-Heinz 1980: »Sanktionsverlangen im Wandel. Die Einstellung zur Todesstrafe in der Bundesrepublik Deutschland seit 1950«, Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 32, Heft 4, Seite 535 bis 558.

+ *Reuband, Karl-Heinz 2003: »Steigende Repressionsneigung im Zeitalter der ›Postmoderne‹? Das Sanktionsverlangen der Bundesbürger 1989 und 2002 im Vergleich«, Neue Kriminalpolitik 15, Heft 1, Seite 15 bis 20. + *Rippl, Susanne, Christian Seipel und Angela Kindervater (Hrsg.) 2000: Autoritarismus: Kontroversen und Ansätze der aktuellen Autoritarismusforschung, Opladen.

  • Sack, Fritz 2004: »Wie die Kriminalpolitik dem Staat aufhilft. Governing through crime als neue politische Strategie«, in: Lautmann, Rüdiger, Daniela Klimke und Fritz Sack (Hrsg.): Punitivität. Achtes Beiheft zum Kriminologischen Journal, Weinheim, Seite 30 bis 50.
  • Sessar, Klaus 2001: »Soziale Konstruktion und Bedeutung von Strafeinstellungen«, in: Kriminologisches Bulletin 27, Heft 1, Seite 7 bis 24.
  • Simon, Jonathan 1997: »Gewalt, Rache und Risiko. Die Todesstrafe im neoliberalen Staat«, in: Trotha, Trutz von (Hrsg.): Soziologie der Gewalt. Sonderheft 37 der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Opladen, Seite 277 bis 301.

+ *Thiel, Stephanie 2005: Zu sozialpsychologischen Grundlagen rechtspopulistischer Wahlen am Beispiel einer Law-and-Order-Bewegung, unveröffentlichte Diplomarbeit, Universität Hamburg. +*Western, Bruce und Katherine Beckett 1999: »How Unregulated is the U.S. Labor Market? The Penal System as a Labor Market Institution«, American Journal of Sociology 104, Heft 4, Seite 1030 bis 1060.

Weblinks