Der starke Kriminalitätsrückgang in New York in den 1990er Jahren rief diverse Erklaerungsansaetze auf den Plan. Als Ursachen wurden unter anderem genannt: die gute wirtschaftliche Entwicklung, die hohen Gefangenenzahlen, das Abflauen der Crack-Epidemie, die Liberalisierung der Abtreibung in den 1970er Jahren - und schliesslich und endlich auch die Reorganisation und Effizienzsteigerung der New Yorker Polizei. Gerade der letztgenannte Aspekt sorgte fuer heftige Diskussionen.

So ist zum Beispiel Loik Wacquant ueberzeugt, dass "die in den 1990er Jahren in New York angewandte Polizeistrategie weder notwendig noch ausreichend ist, um die Senkung der Kriminalität in dieser Stadt zu erklären" (2006: 622).

Ebenso ueberzeugt ist Henner Hess (2004: 110) von der entgegengesetzten Ansicht, "dass dem Faktor Polizeistrategie ... eine herausragende Bedeutung zukommt" (2004: 110).

Die Argumentation von Loik Wacquant

Wacquant (2006: 623 ff.) sieht die Ursachen fuer den Rueckgang der Kriminalitaetsraten in sechs Faktoren:

  • 1 Direkte und indirekte Folgen des Rueckgangs der Arbeitslosigketit erklaeren rund 30% des Rueckgangs der Kriminalitaet.
  • 2 Direkte und indirekte Folgen des Rueckgangs der Crackepidemie einschliesslich der Stabilisierung des Drogenmarktes und des Trends von Crack zu Cannabis erklaeren ebenfalls rund 30% des Rueckgangs der Kriminalitaet.
  • 3 Demographischer Wandel im Sinne der Abnahme des Anteils junger Leute in der New Yorker Bevoelkerung erklaert "mindestens ein Zehntel des Rückgangs der Angriffe auf Personen in diesem Zeitraum." Immerhin wurden im Laufe der 1990er Jahre nahezu 100.000 Unruhestifter aus der problematischen Altersgruppe der 18-24-Jährigen ausser Gefecht gesetzt, und zwar zur Haelfte durch Einsperrung und zur anderen Haelfte durch Aids (19.000 aids-tote Heroinkonsumenten von 1987 und 1997; 14.000 toedliche Überdosierungen; 4.150 Mordopfer durch Gangsterkollegen etc. ... summa summarum ca. 43.000 im Laufe eines Jahrzehnts, also ebenso viele wie jährlich aus New York City in die Gefängnisse eingewiesen werden.
  • 4 Anstieg des Bevölkerungsanteils von gut integrierten Frauen durch Immigration aus der Dominikanischen Republik, aus China und Russland etc., die über ethnische Nischen und Integrationsmöglichkeiten verfügen und "den öffentlichen Raum zurückerobern und die kriminellen Aktivitäten im Freien unterbinden"
  • 5 Lerneffekte im Sinne des „Syndroms des kleinen Bruders“, "aufgrund dessen die nach 1975-1980 geborene neue Generation von Jugendlichen sich von den harten Drogen und dem damit assoziierten gefährlichen Lebensstil abgewandt hat, um nicht dem gleichen makabren Schicksal zu verfallen, das ihre großen Brüder, Cousins und Freunde ereilt hatte, die an der Front des „Straßenkriegs“ am Ende der 1980er Jahre gefallen waren: unkontrollierbare Drogenabhängigkeit, Freiheitsentzug, gewaltsamer und verfrühter Tod". Verstärkung dieser Rückzugsbewegung der Jugendlichen aus der räuberischen Straßenökonomie durch Bürgerinitiativen und ähnliches.
  • 6 Statistisches Gesetz der Regression zum Durchschnitt hin: es war zu erwarten, dass die ungewöhnliche Faktorenkombination, die einen außergewöhnlichen Kriminalitätsanstieg hervorbrachte, früher oder später wieder in Richtung auf den Durchschnitt zurückgehen würde. Der atypischen Phase von 1975-1990 folgte der Rückgang auf ein Niveau, auf dem die Kriminalität schon ein Vierteljahrhundert früher war.

Die Argumentation von Henner Hess

Nach Hess waren von entscheidender Bedeutung:

(1) Die Aktivierung der Polizei durch

  • Stärkung der Revierleitung
  • Definition von Problembereichen (Schusswaffengebrauch, Jugendgewalt in den Schulen und auf der Straße, Drogendealer, häusliche Gewalt, Unsicherheit im öffentlichen Raum und Kfz-bezogene Kriminalität) und Aktionsplänen mit konkreten Zielen in Bezug auf die Reduktion der Kriminalitätsbelastung
  • Strategie-Meetings mit konkreter Evaluation und Rechenschaftslegung (Crime Control Strategy Meetings = Compstat Meetings = Computerized Statistic Meetings)

Literatur

  • Hess, Henner (2004) Broken Windows. Zur Diskussion um die Strategei des New York Police Department. Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft (ZStW) 116.2004: 66-110.
  • Wacquant, Loik (2006) Die Wissenschaftsmythen des einheitlichen Sicherheitsdiskurses. In: Bittlingmayer, Uwe H.; Bauer, Ullrich, Hg.: Die "Wissensgesellschaft". Mythos, Ideologie oder Realität?. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften: 615-634 ISBN 3-531-14535-5.
  • Zimring, Frank E. (2006) The Great American Crime Decline. New York etc.: Oxford University Press.