New York: Unterschied zwischen den Versionen

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In der Wissenschaft vertritt Loik Wacquant die Position, dass "im Gegensatz zu den Behauptungen der Promotoren und Importeure des „Bratton-Modells“ die in den 1990er Jahren in New York angewandte Polizeistrategie weder notwendig noch ausreichend ist, um die Senkung der Kriminalität in dieser Stadt zu erklären" (2006: 622), während Henner Hess in seiner Analyse zu dem entgegengesetzten Ergebnis gelangt, "dass dem Faktor Polizeistrategie (...) eine herausragende Bedeutung zukommt" (2004: 110).   
In der Wissenschaft vertritt Loik Wacquant die Position, dass "im Gegensatz zu den Behauptungen der Promotoren und Importeure des „Bratton-Modells“ die in den 1990er Jahren in New York angewandte Polizeistrategie weder notwendig noch ausreichend ist, um die Senkung der Kriminalität in dieser Stadt zu erklären" (2006: 622), während Henner Hess in seiner Analyse zu dem entgegengesetzten Ergebnis gelangt, "dass dem Faktor Polizeistrategie (...) eine herausragende Bedeutung zukommt" (2004: 110).   


== Die Argumentation von Loik Wacquant ==


Nach Wacquant (2006: 623 ff.) die Aktivitäten von Polizei und Justiz für den Rückgang der Gewalt-Kriminalität keine besondere Rolle. Maßgeblich waren stattdessen folgende sechs Faktoren:
(1) Der direkte und indirekte Einfluss des raschen Rückgangs der Arbeitslosigkeit in einer wirtschaftlich günstigen Phase erklärt einen erheblichen Teil (30%?) des Rückgangs der Kriminalität
(2) Ungeachtet fortbestehender Armut in den urbanen Problemgebieten erklärt die positive Wirtschaftsentwicklung dieser Zeit und deren direkter und indirekter Die positive Wirtschaftsentwicklung verschaffte "Millionen junger Leute, die bis dahin zur Tatenlosigkeit oder zum illegalen 'Business' verurteilt waren, tatsächlich Arbeit (..) und ein Einkommen (...). Auf die Schwarzen hatte das Klima der wirtschaftlichen Euphorie einen indirekten Einfluss, indem es ihre Hoffnungen auf soziale Mobilität in der Zukunft erhöhte und einen wachsenden Anteil von Heranwachsenden dazu ermutigte, eine akademische Laufbahn einzuschlagen, was die Wahrscheinlichkeit, als Opfer oder Täter in die gewalttätige Straßenkriminalität involviert zu werden, stark reduziert hat (Karmen 2001: 209-213). Ungeachtet des Fortbestands der Unterbe-schäftigung und des äußerst niedrigen Lohnniveaus in den neuen Dienstleistungssektoren erklärt der direkte und indirekte Einfluss des raschen Rückgangs der Arbeitslosigkeit 30% des Rückgangs der Kriminalität auf nationaler Ebene (Bernstein und Houston 2000).
Ein zweiter Faktor ist die zweifache Veränderung des Drogenhandels. Zum einen hat sich der Massenhandel mit Crack in den armen Vierteln strukturiert und stabilisiert, so dass der Rückgriff auf die Gewalt als Regulierungsinstrument der Konkurrenz zwischen rivali-sierenden Gangs unvermittelt zurückgegangen ist.14 Am Ende der 1980er Jahre erlebte dieser Handel ein explosives Wachstum, und da es für den Zugang so gut wie keine Barrie-ren gab, tauchten ständig neue, häufig junge und autonome Unternehmer auf, die sich mör-
14 Eine ergreifende Beschreibung des Alltags im Crack-Handel in East Harlem findet sich in Philippe Bourgois (2001) und aus Sicht der Polizisten in Robert Jackall (1997).
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derischen Territoriumskriegen auslieferten: Im Jahre 1991 hingen 670 der 2.161 registrier-ten Tötungsdelikte in New York mit dem Drogenhandel zusammen. Ein Jahrzehnt später hat sich die Nachfrage beruhigt, und der Sektor hat sich „oligopolisiert“, so dass die Zahl der Zwischenhändler gesunken ist und ihre Beziehungen weniger konfliktträchtig sind, was sich durch den Einbruch in der Zahl der mit der Droge verbundenen Tötungsdelikte mani-festiert hat – sie liegt 1998 unter 100 –, da der größere Teil dieser kriminellen Straßenge-walt eine Gewalt unter Kriminellen ist (Jacobs 2000). Zum anderen hat Crack die Gunst der Konsumenten verloren, die sich wieder anderen Drogen zugewandt haben, wie Marihuana (das in Form einer „blunt“ genannten Zigarre konsumiert wird), Heroin und Amphetamine, deren Handel weniger Gewalttätigkeiten generiert, weil er sehr viel mehr von Dealern, die innerhalb von Netzwerken operieren und sich gegenseitig kennen, als über einen anonymen Austausch an öffentlichen Orten betrieben wird (Cork 1999; Johnson et al. 2000).
Daneben hat sich die junge Bevölkerungsschicht (vor allem die Zahl der 18- bis 24-Jährigen) verringert, was fast automatisch zu einem Rückgang der Straßenkriminalität ge-führt hat, weil gerade diese Altersgruppe überall und immer am ehesten zu gewalttätigen Verstößen neigt; diese demographische Entwicklung ist allein für mindestens ein Zehntel des Rückgangs der Angriffe auf Personen in diesem Zeitraum verantwortlich (Fox 2000). Hinzu kommt, im Falle New Yorks, die makabre Statistik der außer Gefecht gesetzten po-tentiellen Kriminellen, entweder durch die Aids-Pandemie unter den Heroinkonsumenten (19.000 Todesfälle zwischen 1987 und 1997), eine Überdosis an Drogen (14.000 Todes-fälle), Ermordung durch ihre Gangsterkollegen (4.150) oder dadurch, dass sie hinter Gitter gebracht oder aus dem Land gejagt wurden (5.250), das ergibt eine Zahl von etwa 43.000 im Laufe eines Jahrzehnts eliminierten „Unruhestiftern“, gleich hoch wie die Zahl der aus der Stadt kommenden Häftlinge, die jedes Jahr in die Zuchthäuser im Norden des Staates gebracht werden, um dort ihre Strafe zu verbüßen (Karmen 2001: 242f). Dieser rezessive Effekt des Rückgangs der jungen und kriminellen Bevölkerungsschicht wurde obendrein noch verstärkt durch den starken Anstieg der Immigration, insbesondere von Frauen aus Ländern wie der Dominikanischen Republik, China und Russland. Immigranten aus diesen Ländern, die in den 1990er Jahren nach New York kamen, verfügten über „ethnische Ni-schen“, die ihre Integrierung in die lokale Ökonomie erleichterten, so dass sie durch ihre Handelsaktivitäten und ihren Konsum den im Abstieg begriffenen Zonen am Rande der großen Schwarzenghettos neuen Elan gegeben haben, wodurch deren Bewohner, „den öf-fentlichen Raum zurückerobern und die kriminellen Aktivitäten im Freien unterbinden konnten […]. Diese bei weitem unvorhergesehene Erfahrung des Multikulturalismus, die Menschen aus 121 Nationen dazu bringt, miteinander zu leben, scheint sehr gut funktioniert zu haben, in dem Sinne, dass sie den Anstieg der Verbrechensrate gebremst und sogar dazu beigetragen hat, den Prozeß umzukehren.“ (Karmen 2001: 225)
Aber es gibt nicht nur ökonomische und demographische Ursachen, und man muß un-ter den Kräften, die das Verbrechen in den Vereinigten Staaten beschnitten haben, auch einen Lerneffekt mitberücksichtigen, der von den Kriminologen „Syndrom des kleinen Bruders“ genannt wird, aufgrund dessen die nach 1975-1980 geborene neue Generation von Jugendlichen sich von den harten Drogen und dem damit assoziierten gefährlichen Lebens-stil abgewandt hat, um nicht dem gleichen makabren Schicksal zu verfallen, das ihre großen Brüder, Cousins und Freunde ereilt hatte, die an der Front des „Straßenkriegs“ am Ende der 1980er Jahre gefallen waren: unkontrollierbare Drogenabhängigkeit, Freiheitsentzug, ge-waltsamer und verfrühter Tod (Curtis 1998; Johnson et al. 2000). Dies beweisen die von
Die Wissenschaftsmythen des einheitlichen Sicherheitsdiskurses 625
den Gangs, die die marginalisierten Territorien von Los Angeles, Chicago, Detroit und Boston kontrollieren, zu Beginn der 1990er Jahre unterschriebenen „Waffenstillstands- und Friedensverträge“, die die Zahl der Ermordungen von jungen und armen Männern stark reduziert haben. Die in den marginalisierten Zonen der amerikanischen Städte ansässigen Organisationen – Kirchen, Schulen, verschiedene Vereinigungen, Stadtviertelclubs, Kol-lektive von Müttern, deren Kinder auf der Straße ermordet wurden, wie die MAD (Mothers Against Drugs) in Chicago und Mothers ROC (Mothers Reclaiming Our Children) in Los Angeles (Pattillo 1998; Wilson und Gilmore 1999) – haben sich ihrerseits mobilisiert und überall, wo sie dies noch konnten, ihre Fähigkeit der informellen sozialen Kontrolle akti-viert. Ihre Sensibilierungs- und Präventionskampagnen, wie die vom Grand Council of Guardians, der Vereinigung der farbigen Polizisten New Yorks, organisierte Operation „Take Back Our Community“, haben die Rückzugsbewegung der Jugendlichen aus der räuberischen Straßenökonomie begleitet und verstärkt. Im übrigen möchten wir mit Benja-min Bowling (1999) betonen, dass mit der Verbesserung der Wirtschaft die kollektiven Initiativen der Bewohner der armen Viertel im herrschenden Diskurs über den Rückgang der Kriminalität in den Vereinigten Staaten völlig verschleiert und sogar durch Rudolph Giuliani und William Bratton heftig herabgesetzt wurden.
Und schließlich waren die von den Vereinigten Staaten zu Beginn der 1990er Jahre ausgewiesenen Raten krimineller Gewalt unnormal hoch und hatten daher alle Chancen, aufgrund des statistischen Gesetzes der Regression zum Durchschnitt hin nach unten zu gehen, wenn es stimmt, dass die Kombination der Faktoren, die diese außerhalb der Norm hochschnellen ließ (wie der anfängliche Aufschwung des Crackhandels), nicht andauern konnte. Der Historiker Eric Monkkonen (2001) konnte zeigen, dass die Phase von 1975-1990 atypisch war, was die Tendenz zur Gewaltkriminalität in New York betrifft, indem er sie im zeitlichen Ablauf des 20. Jahrhunderts situierte: Zwischen 1900 und 1960 lag die Mordrate der symbolischen Hauptstadt Amerikas unter dem nationalen Durchschnitt; nach den Rassenunruhen der 1960er Jahre stieg sie auf das Dreifache der nationalen Rate infolge der rasanten Entwicklung des durch bewaffnete Konfrontationen regulierten Drogenhan-dels; ihr rascher Rückgang in den 1990er Jahren hat sie lediglich auf die Höhe des nationa-len Durchschnitts zurückfallen lassen, auf ein Niveau, auf dem sie bereits ein Vierteljahr-hundert früher situiert war.
Die Verbindung dieser sechs Faktoren genügt bei weitem, um den Rückgang der Ge-waltkriminalität in den Vereinigten Staaten zu erklären. Aber die lange, langsame Zeit der wissenschaftlichen Analyse ist nicht die schnelle, abgehackte Zeit der Politik und der Me-dien, und der Propagandaapparat Giulianis hat es verstanden, die unvermeidliche zeitliche Verzögerung der kriminologischen Untersuchung für sich zu nutzen, um mit ihrem vorge-fertigten Diskurs über die Effizienz der polizeilichen Repression, die als alleiniges Mittel gegen die angeborene Nachlässigkeit der gefährlichen Klassen wieder zu Ehren kam, die Erklärungslücke auszufüllen.


== Literatur ==
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