Neutralisationstechniken: Unterschied zwischen den Versionen

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Unter Neutralisierungstechniken versteht man kognitive Strategien zur Überwindung innerer Hemmungen gegenüber der Begehung von Straftaten. Gresham Sykes und David Matza identifizierten auf der Grundlage kognitiver Gleichgewichtstheorien (z.B. Anna Freud) am Beispielsfall jugendlicher Straftäter fünf solcher Techniken, nämlich die Ablehnung der Verantwortung, des Unrechts, des Opfers, die Verdammung der Verdammenden und die Berufung auf eine höhere Instanz.
Unter Neutralisierungstechniken versteht man kognitive Strategien zur Überwindung innerer Hemmungen gegenüber der Begehung von Straftaten. Gresham Sykes und David Matza identifizierten auf der Grundlage kognitiver Gleichgewichtstheorien (z.B. Anna Freud) am Beispielsfall jugendlicher Straftäter fünf solcher Techniken, nämlich die Ablehnung der Verantwortung, des Unrechts, des Opfers, die Verdammung der Verdammenden und die Berufung auf eine höhere Instanz.
Die Neutralisierungsthese abweichenden Verhaltens (Techniken der Neutralisierung: Eine Theorie der Delinquenz) wurde 1957 von [[Graham M. Sykes]] und [[David Matza]] entwickelt. Sie wendet sich gegen die Annahme der [[Subkulturtheorie]], die davon ausgeht, dass jugendliche Delinquente Subkulturen angehören, deren soziale Normen von den gesellschaftlichen Normen abweichen. Nach der [[Subkulturtheorie]] werden diese abweichenden Normen von den Jugendlichen verinnerlicht und sind für ihr abweichendes Verhalten verantwortlich. Sykes und Matza kritisierten diesen Ansatz und entwickelten einen Gegenentwurf, der von einem gesellschaftlichen Normsystem ausgeht, das im Prinzip von allen Mitgliedern der Gesellschaft anerkannt wird. Die Ursache abweichenden Verhaltens liegt daher weniger an unterschiedlich hoher Normakzeptanz als viel mehr an einer hohen Flexibilität  des Normsystems. Die Theorie der Neutralisierungstechniken erklärt nun das Paradox, dass kriminelle Jugendliche einerseits die herrschenden Normen und Werte verinnerlicht haben und deswegen nach ihren Taten auch Schuldgefühle haben, dass sie aber andererseits gleichzeitig diese Normen missachten. Um eine Tat trotz dieses Widerspruchs zu ermöglichen (Neutralisation) und sie im Nachhinein zu rechtfertigen (Rationalisierung), müssen die Täter unterschiedliche Neutralisierungstechniken ausbilden bzw. erlernen. Hier besteht ein Zusammenhang mit den Lerntheorien (z.B. [[Edwin Sutherland|Sutherland]], [[Theorie der Differentiellen Assoziation]]), denn sowohl Verbrechen selbst, als auch für Verbrechen günstige Motive und Rationalisierungen, müssen erlernt werden.




====Etymologie====
====Etymologie====


=====Neutralisierung:=====
Der Begriff „Neutralisierung“ geht auf das lateinische Wort „neutral“ = sächlich, parteilos, unparteiisch (15. Jahrhundert) zurück und bedeutet soviel wie Ausgleich von entgegen gesetzten Kräften und Spannungen. Das Verb „neutralisieren“ steht für „unwirksam machen“, „ausgleichen“ und „für neutral erklären“. - Das Wort „Technik“ kommt aus dem Griechischen („technikos“) und bedeutet Herstellungsverfahren, Arbeitsweise, Kunstfertigkeit, Geschicklichkeit und Handhabung. Der Begriff „Neutralisierungstechniken“ bedeutet demnach eine Fertigkeit, mit der man Dinge ausgleichen bzw. unwirksam machen kann. Er bezieht sich in diesem Zusammenhang auf bestimmte Techniken, mit denen man die gesamtgesellschaftlichen Normen wirksam ausschalten oder neutralisieren kann.
 
Der Begriff „Neutralisierung“ geht auf das lateinische Wort „neutral“ = sächlich, parteilos, unparteiisch (15. Jahrhundert) zurück und bedeutet soviel wie Ausgleich von entgegen gesetzten Kräften und Spannungen. Das Verb „neutralisieren“ steht für „unwirksam machen“, „ausgleichen“ und „für neutral erklären“.
 
=====Techniken:=====
 
Das Wort „Technik“ kommt aus dem Griechischen („technikos“) und bedeutet Herstellungsverfahren, Arbeitsweise, Kunstfertigkeit, Geschicklichkeit und Handhabung.
 
=====Neutralisierungstechniken===== 
 
Der Begriff „Neutralisierungstechniken“ bedeutet demnach eine Fertigkeit, mit der man Dinge ausgleichen bzw. unwirksam machen kann. Er bezieht sich in diesem Zusammenhang auf bestimmte Techniken, mit denen man die gesamtgesellschaftlichen Normen wirksam ausschalten oder neutralisieren kann.
 
 
====Definition====
 
Die Neutralisierungsthese abweichenden Verhaltens (Techniken der Neutralisierung: Eine Theorie der Delinquenz) wurde 1957 von [[Graham M. Sykes]] und [[David Matza]] entwickelt. Sie wendet sich gegen die Annahme der [[Subkulturtheorie]], die davon ausgeht, dass jugendliche Delinquente Subkulturen angehören, deren soziale Normen von den gesellschaftlichen Normen abweichen. Nach der [[Subkulturtheorie]] werden diese abweichenden Normen von den Jugendlichen verinnerlicht und sind für ihr abweichendes Verhalten verantwortlich. Sykes und Matza kritisierten diesen Ansatz und entwickelten einen Gegenentwurf, der von einem gesellschaftlichen Normsystem ausgeht, das im Prinzip von allen Mitgliedern der Gesellschaft anerkannt wird. Die Ursache abweichenden Verhaltens liegt daher weniger an unterschiedlich hoher Normakzeptanz als viel mehr an einer hohen Flexibilität  des Normsystems. Die Theorie der Neutralisierungstechniken erklärt nun das Paradox, dass kriminelle Jugendliche einerseits die herrschenden Normen und Werte verinnerlicht haben und deswegen nach ihren Taten auch Schuldgefühle haben, dass sie aber andererseits gleichzeitig diese Normen missachten. Um eine Tat trotz dieses Widerspruchs zu ermöglichen (Neutralisation) und sie im Nachhinein zu rechtfertigen (Rationalisierung), müssen die Täter unterschiedliche Neutralisierungstechniken ausbilden bzw. erlernen. Hier besteht ein Zusammenhang mit den Lerntheorien (z.B. [[Edwin Sutherland|Sutherland]], [[Theorie der Differentiellen Assoziation]]), denn sowohl Verbrechen selbst, als auch für Verbrechen günstige Motive und Rationalisierungen, müssen erlernt werden.


====Fünf Techniken der Neutralisierung====  
====Fünf Techniken====


Alle fünf Neutralisierungstechniken sind jeweils einzeln oder in Kombination anwendbar. Sie werden innerhalb eines Interaktionsprozesses gelernt und sind, nach Sykes und Matza, die Vorbedingungen für abweichendes Verhalten.  
Alle fünf Neutralisierungstechniken sind jeweils einzeln oder in Kombination anwendbar. Sie werden innerhalb eines Interaktionsprozesses gelernt und sind, nach Sykes und Matza, die Vorbedingungen für abweichendes Verhalten.  
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Obwohl Sykes und Matza an der Erklärung von [[Jugendkriminalität|Jugenddelinquenz]] interessiert waren, eignen sich die Neutralisierungstechniken auch für andere Bereiche abweichenden Verhaltens. Schon 1974 generalisierte Karl-Dieter Opp die Neutralisierungsthese generell auf Verhalten, das von sozialen Normen abweicht und auch auf einen größeren Täterkreis, der sich nicht nur auf Jugendliche beschränkt. Einige empirische Studien zu Mord, Vergewaltigung, Genozid oder abweichendem Freizeitverhalten behandeln Neutralisierungstechniken, besondere Bedeutung haben sie allerdings im Bereich der Wirtschaftskriminalität. Hier gibt es zahlreiche Studien, die sich mit der Neutralisierungsthese beschäftigen, wie zum Beispiel der Aufsatz von Roland Hefendehl (2005) über den Fall Ackermann (Vorstandsvorsitzender der Deutschen Bank).
Obwohl Sykes und Matza an der Erklärung von [[Jugendkriminalität|Jugenddelinquenz]] interessiert waren, eignen sich die Neutralisierungstechniken auch für andere Bereiche abweichenden Verhaltens. Schon 1974 generalisierte Karl-Dieter Opp die Neutralisierungsthese generell auf Verhalten, das von sozialen Normen abweicht und auch auf einen größeren Täterkreis, der sich nicht nur auf Jugendliche beschränkt. Einige empirische Studien zu Mord, Vergewaltigung, Genozid oder abweichendem Freizeitverhalten behandeln Neutralisierungstechniken, besondere Bedeutung haben sie allerdings im Bereich der Wirtschaftskriminalität. Hier gibt es zahlreiche Studien, die sich mit der Neutralisierungsthese beschäftigen, wie zum Beispiel der Aufsatz von Roland Hefendehl (2005) über den Fall Ackermann (Vorstandsvorsitzender der Deutschen Bank).


====Literatur====
==Literatur==


*Fritsche, I. (2003). Entschuldigungen, Rechtfertigungen und die Verletzung sozialer Normen. Weinheim, Basel, Berlin, Beltz Verlag.
*Fritsche, I. (2003). Entschuldigungen, Rechtfertigungen und die Verletzung sozialer Normen. Weinheim, Basel, Berlin, Beltz Verlag.
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