Neutralisationstechniken

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Unter Neutralisierungstechniken versteht man kognitive Strategien zur Überwindung innerer Hemmungen (= moralischer Bedenken) gegenüber der Begehung von Straftaten. Grasham M. Sykes und David Matza identifizierten auf der Grundlage kognitiver Gleichgewichtstheorien (z.B. Anna Freud) am Beispielsfall jugendlicher Straftäter fünf solcher Techniken, nämlich das Bestreiten der Verantwortung, des Unrechts der Handlung und des Vorhandenseins eines Opfers sowie die Verdammung der Verdammenden und die Berufung auf eine höhere Instanz.

Die Neutralisierungsthese abweichenden Verhaltens (Techniken der Neutralisierung: Eine Theorie der Delinquenz) wurde 1957 von Sykes und Matza entwickelt. Sie wendet sich gegen die Annahme der Subkulturtheorie, die davon ausgeht, dass jugendliche Delinquente Subkulturen angehören, deren soziale Normen von den gesellschaftlichen Normen abweichen. Nach der Subkulturtheorie werden diese abweichenden Normen von den Jugendlichen verinnerlicht und sind für ihr abweichendes Verhalten verantwortlich. Sykes und Matza kritisierten diesen Ansatz und entwickelten einen Gegenentwurf, der von einem gesellschaftlichen Normsystem ausgeht, das im Prinzip von allen Mitgliedern der Gesellschaft anerkannt wird. Die Ursache abweichenden Verhaltens liegt daher weniger an unterschiedlich hoher Normakzeptanz als viel mehr an einer hohen Flexibilität des Normsystems. Die Theorie der Neutralisierungstechniken erklärt nun das Paradox, dass kriminelle Jugendliche einerseits die herrschenden Normen und Werte verinnerlicht haben und deswegen nach ihren Taten auch Schuldgefühle haben, dass sie aber andererseits gleichzeitig diese Normen missachten. Um eine Tat trotz dieses Widerspruchs zu ermöglichen (Neutralisation) und sie im Nachhinein zu rechtfertigen (Rationalisierung), müssen die Täter unterschiedliche Neutralisierungstechniken ausbilden bzw. erlernen. Hier besteht ein Zusammenhang mit den Lerntheorien (z.B. Sutherland, Theorie der Differentiellen Assoziation), denn sowohl Verbrechen selbst, als auch für Verbrechen günstige Motive und Rationalisierungen, müssen erlernt werden.


Etymologie

Der Begriff „Neutralisierung“ geht auf das lateinische Wort „neutral“ = sächlich, parteilos, unparteiisch (15. Jahrhundert) zurück und bedeutet soviel wie Ausgleich von entgegen gesetzten Kräften und Spannungen. Das Verb „neutralisieren“ steht für „unwirksam machen“, „ausgleichen“ und „für neutral erklären“. - Das Wort „Technik“ kommt aus dem Griechischen („technikos“) und bedeutet Herstellungsverfahren, Arbeitsweise, Kunstfertigkeit, Geschicklichkeit und Handhabung. Der Begriff „Neutralisierungstechniken“ bedeutet demnach eine Fertigkeit, mit der man Dinge ausgleichen bzw. unwirksam machen kann. Er bezieht sich in diesem Zusammenhang auf bestimmte Techniken, mit denen man die gesamtgesellschaftlichen Normen wirksam ausschalten oder neutralisieren kann.

Fünf Techniken

Alle fünf Neutralisierungstechniken sind jeweils einzeln oder in Kombination anwendbar. Sie werden innerhalb eines Interaktionsprozesses gelernt und sind, nach Sykes und Matza, die Vorbedingungen für abweichendes Verhalten.

Ablehnung der Verantwortung (Denial of Responsibility)

Das delinquente Handeln wird auf Ursachen zurückgeführt, die außerhalb der Kontrollmöglichkeit des Individuums liegen. Der Täter fühlt sich als Spielball fremder Mächte und ist nicht selbst für seine Taten verantwortlich. Er versucht die Tat z.B. durch den Einfluss falscher Freunde, einer benachteiligten Wohngegend oder häuslicher Probleme zu rechtfertigen. Indem der Delinquent lernt, sich mehr getrieben als handelnd zu sehen, bereitet er den Weg für die Abweichung vom herrschenden normativen System ohne die Notwendigkeit eines frontalen Angriffes auf die Normen selbst.

Verneinung des Unrechts (Denial of Injury)

Ebenso wie das Strafrecht lange Zeit zwischen Verbrechen, die mala in se und mala prohibita sind, unterschieden hat, macht dies auch der Delinquent. Eine Handlung wird zwar als illegitim (d.h. Regel oder Gesetze verletzend), nicht aber als unmoralisch angesehen. Indem der Täter sich darauf beruft, dass er keinen (großen) Schaden angerichtet hat oder niemand konkret geschädigt wurde (besonders bei Verkehrsdelikten, Sachbeschädigung oder Versicherungsbetrug), rechtfertigt er seine Tat. Durch die Verneinung des Unrechts wird die Verbindung zwischen der Handlung und deren Konsequenzen unterbrochen. Auch in der gesellschaftlichen Betrachtungsweise gibt es Taten, die nicht unbedingt als unmoralisch angesehen werden, aber strafrechtlich verfolgt werden müssen.

Ablehnung des Opfers (Denial of Victim)

Auch wenn der Täter die Verantwortung für seine Tat anerkennt und sich bewusst ist, dass seine Handlungen Schaden oder Unrecht bewirken, kann er sein Verhalten neutralisieren indem er das Opfer herabwürdigt. Das Opfer wird zum "Übeltäter" und der Täter zum "Rächer". Gesellschaftlich anerkannte Vorbilder sind beispielsweise Robin Hood oder der knallharte Cop. Der Delinquente unterscheidet zudem zwischen angemessenen und unangemessenen Zielen und Opfern. Gleiches kann auch bei abwesenden, abstrakten oder unbekannten Opfern zutreffen. Die Funktion besteht darin, eine soziale Distanz zwischen Opfer und Täter zu schaffen.

Verdammung der Verdammenden (Condemnation of the Condemners)

Der Delinquent verschiebt die Aufmerksamkeit von seinen eigenen abweichenden Handlungen auf die Motive und Verfehlungen derjenigen, die seine Taten verurteilen. Dies kann zu Sarksasmus gegen Personen, die soziale Normen durchsetzen und verkörpern verhärten. Der Polizei oder der Justiz wird vorgeworfen aus persönlichen Gründen gehandelt zu haben, die nichts mit der Tat an sich zu tun haben. Durch den Angriff anderer, kann die moralische Verwerflichkeit des eingenen Tuns besser verdrängt werden.

Berufung auf höhere Instanzen (Appeal to Higher Loyalties)

Der Straftäter kann sich darauf berufen, nicht für sich selbst gehandelt zu haben, sondern im höheren Interesse für eine wichtige, bedeutende Gruppe. So würde beispielsweise aus einem kleinen Unrech ein universelles Recht werden. Der Delinquente sieht sich in einem Konflikt beziehungweise Dilemma verstrickt, das er zu gunsten der kleineren Gruppe und auf Kosten der Gesetzesübertretung lösen muss.Die abweichenden Normen werden in diesem Fall nur für dringlicher erachtet (auch politisch motivierte Taten - wie z.B. von der RAF begangen - können hier angeführt werden).

Kritik

Sykes und Matza kritisieren an ihrer Theorie selbst, dass sie wenig Aufschluss darüber liefert, in welchen Situationen welche Neutralisierungstechniken konkret aktualisiert werden und wie die Techniken sozialstrukturell in der Gesellschaft verteilt sind. Sie nehmen an, dass bestimmte Techniken für bestimmte Delikte prädestiniert sind und regen weitere Forschung in diese Richtung an. Ein weiterer Kritikpunk ist die Tatsache, dass bis heute empirisch nicht eindeutig nachgewiesen werden konnte, ob die Neutralisierungstechniken wirklich vor der abweichenden Handlung ausgebildet werden oder ob sie nur im Nachhinein als Rechtfertigung dienen. In diesem Fall wären sie keine Theorie zur Erklärung, wie und warum abweichendes Verhalten entsteht. Die bisherige neutralisierungstheoretische Forschung zur Verhaltenswirksamkeit von Rechenschaften konnte keinen kausalen Zusammenhang zwischen Neutralisierungstechniken und abweichendem Verhalten nachweisen. Fritsche (2003) konnte aber mithilfe eines Experiments erstmals die Wirkung präbehavioraler Rechenschaft auf beobachtetes normwidriges Verhalten zeigen. Maruna und Copes hingegen sehen die Wichtigkeit der Neutralisierungsthese eher in Bezug auf sekundäre Devianz (Lemert 1951) und nicht als ursächliche Erklärung für primäre Devianz.

Anwendungsbereich

Obwohl Sykes und Matza an der Erklärung von Jugenddelinquenz interessiert waren, eignen sich die Neutralisierungstechniken auch für andere Bereiche abweichenden Verhaltens. Schon 1974 generalisierte Karl-Dieter Opp die Neutralisierungsthese generell auf Verhalten, das von sozialen Normen abweicht und auch auf einen größeren Täterkreis, der sich nicht nur auf Jugendliche beschränkt. Einige empirische Studien zu Mord, Vergewaltigung, Genozid oder abweichendem Freizeitverhalten behandeln Neutralisierungstechniken, besondere Bedeutung haben sie allerdings im Bereich der Wirtschaftskriminalität. Hier gibt es zahlreiche Studien, die sich mit der Neutralisierungsthese beschäftigen, wie zum Beispiel der Aufsatz von Roland Hefendehl (2005) über den Fall Ackermann (Vorstandsvorsitzender der Deutschen Bank).

Womöglich ist die Frage, ob Täter Neutralisationstechniken anwandten, weniger fruchtbar als diejenigen, aus welcher Quelle sie sie bezogen. Die von Sykes und Matza beschriebenen Jugendlichen bezogen ihre Neutralisationstechniken - also ihre Interpretationen der Situation, die sie subjektiv zur Tat berechtigten - vor allem aus ihrer Gruppe (Peer-Group, Bande, Freundeskreis). Sie waren weder ganz allein noch waren sie aber auch von den herrschenden Normen gedeckt.

Von hier aus lässt sich in Anlehnung an Weilbach (2008) ein Drei-Stufen-Modell konstruieren:

  • Auf der ersten Stufen liefert niemand die Legitimation für strafbares Handeln - vom Täter selbst abgesehen. Er sieht sich als Verteidiger höchster Werte, aber als völlig allein (Typ Amokläufer).
  • Auf der zweiten Stufe liefert die persönliche Bezugsgruppe - etwa der Freundeskreis, die Schulclique, die Bande - die Legitimation. Der Täter verteidigt die Gruppennormen, verhält sich aber abweichend gegenüber den herrschenden Normen.
  • Auf der dritten Stufe verletzt das Handeln zwar moralische (und rechtliche) Normen, doch die herrschende Meinung der Gesamtgesellschaft (= die Herrschenden) liefert die Legitimation zur Tat (Typ NS-Täter). Es bedarf des Nonkonformismus, um nicht delinquent zu werden.

Literatur

  • Fritsche, I. (2003). Entschuldigungen, Rechtfertigungen und die Verletzung sozialer Normen. Weinheim, Basel, Berlin, Beltz Verlag.
  • Hefendehl, R. (2005). Neutralisationstechniken bis in die Unternehmensspitze. Eine Fallstudie am Beispiel Ackermann. In: Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform (MschrKrim 88). Köln, Carl Heymanns Verlag.
  • Maruna, S. und H. Copes (2005). What have we learned from five decades of neutralization research? In: Crime and Justice. A review of research. Volume 32. Chicago, London, The University of Chicago Press.
  • Opp, K.-D. (1974). Abweichendes Verhalten und Gesellschaftsstruktur. Darmstadt, Luchterhand.
  • Sutherland, E. H. (1968). Die Theorie der differentiellen Kontakte. In: Kriminalsoziologie. F. Sack und R. König. Frankfurt am Main, Akademische Verlagsgesellschaft.
  • Sykes, G. M. und D. Matza (1968). Techniken der Neutralisierung. Eine Theorie der Delinquenz. In: Kriminalsoziologie. F. Sack und R. König. Frankfurt am Main, Akademische Verlagsgesellschaft.
  • Welzer, Harald (2005) Täter. Wie aus ganz normalen Menschen Massenmörder werden. 4. Aufl. Frankfurt: Fischer.
  • Weilbach, Karl (2008) "Es sieht so aus, als würde ich der Wolf sein". Eine Fallanalyse zur Amoktat von Zug (CH) aus kriminologischer Sicht. Hamburg (Dissertation).