Neutralisationstechniken: Unterschied zwischen den Versionen

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Der Straftäter gibt an, nicht aus Eigeninteresse sondern im Interesse anderer gehandelt zu haben und kann somit die Normen in bestimmten Situationen missachten, ohne sie generell ablehnen zu müssen. Indem er anderen Normen - z.B. bezüglich der Verpflichtung Freunden oder der Familie gegenüber - Vorrang einräumt, kann er noch größeres Unrecht verhindern oder höheren Zielen dienen. Der Delinquent befindet sich in einem Rollenkonflikt, den er auf Kosten der gesellschaftlich anerkannten Normen lösen kann, auch wenn er diese Normen eigentlich nicht ablehnt. Die abweichenden Normen werden in diesem Fall nur für dringlicher erachtet (auch politisch motivierte Taten - wie z.B. von der RAF begangen - können hier angeführt werden).
Der Straftäter gibt an, nicht aus Eigeninteresse sondern im Interesse anderer gehandelt zu haben und kann somit die Normen in bestimmten Situationen missachten, ohne sie generell ablehnen zu müssen. Indem er anderen Normen - z.B. bezüglich der Verpflichtung Freunden oder der Familie gegenüber - Vorrang einräumt, kann er noch größeres Unrecht verhindern oder höheren Zielen dienen. Der Delinquent befindet sich in einem Rollenkonflikt, den er auf Kosten der gesellschaftlich anerkannten Normen lösen kann, auch wenn er diese Normen eigentlich nicht ablehnt. Die abweichenden Normen werden in diesem Fall nur für dringlicher erachtet (auch politisch motivierte Taten - wie z.B. von der RAF begangen - können hier angeführt werden).


====Kritik====
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Version vom 2. Oktober 2007, 10:40 Uhr

Techniken der Neutralisierung: Eine Theorie der Delinquenz (Gresham M. Sykes, David Matza)

Unter Neutralisierungstechniken (auch Neutralisationsthese genannt) versteht man Strategien jugendlicher Straftäter, die den Widerspruch zwischen verinnerlichten gesellschaftlichen Normen und ihrer Delinquenz neutralisieren sollen. Sykes und Matza haben auf der Grundlage kognitiver Gleichgewichtstheorien (z.B. Anna Freud) fünf unterschiedliche Techniken definiert.


Etymologie

Neutralisierung:

Der Begriff „Neutralisierung“ geht auf das lateinische Wort „neutral“ = sächlich, parteilos, unparteiisch (15. Jahrhundert) zurück und bedeutet soviel wie Ausgleich von entgegen gesetzten Kräften und Spannungen. Das Verb „neutralisieren“ steht für „unwirksam machen“, „ausgleichen“ und „für neutral erklären“.

Techniken:

Das Wort „Technik“ kommt aus dem Griechischen („technikos“) und bedeutet Herstellungsverfahren, Arbeitsweise, Kunstfertigkeit, Geschicklichkeit und Handhabung.

Neutralisierungstechniken

Der Begriff „Neutralisierungstechniken“ bedeutet demnach eine Fertigkeit, mit der man Dinge ausgleichen bzw. unwirksam machen kann. Er bezieht sich in diesem Zusammenhang auf bestimmte Techniken, mit denen man die gesamtgesellschaftlichen Normen wirksam ausschalten oder neutralisieren kann.


Definition

Die Neutralisierungsthese abweichenden Verhaltens (Techniken der Neutralisierung: Eine Theorie der Delinquenz) wurde 1957 von Graham M. Sykes und David Matza entwickelt. Sie wendet sich gegen die Annahme der Subkulturtheorie, die davon ausgeht, dass jugendliche Delinquente Subkulturen angehören, deren soziale Normen von den gesellschaftlichen Normen abweichen. Nach der Subkulturtheorie werden diese abweichenden Normen von den Jugendlichen verinnerlicht und sind für ihr abweichendes Verhalten verantwortlich. Sykes und Matza kritisierten diesen Ansatz und entwickelten einen Gegenentwurf, der von einem gesellschaftlichen Normsystem ausgeht, das im Prinzip von allen Mitgliedern der Gesellschaft anerkannt wird. Die Ursache abweichenden Verhaltens liegt daher weniger an unterschiedlich hoher Normakzeptanz als viel mehr an einer hohen Flexibilität des Normsystems. Die Theorie der Neutralisierungstechniken erklärt nun das Paradox, dass kriminelle Jugendliche einerseits die herrschenden Normen und Werte verinnerlicht haben und deswegen nach ihren Taten auch Schuldgefühle haben, dass sie aber andererseits gleichzeitig diese Normen missachten. Um eine Tat trotz dieses Widerspruchs zu ermöglichen (Neutralisation) und sie im Nachhinein zu rechtfertigen (Rationalisierung), müssen die Täter unterschiedliche Neutralisierungstechniken ausbilden bzw. erlernen. Hier besteht ein Zusammenhang mit den Lerntheorien (z.B. Sutherland, Theorie der Differentiellen Assoziation), denn sowohl Verbrechen selbst, als auch für Verbrechen günstige Motive und Rationalisierungen, müssen erlernt werden.

Fünf Techniken der Neutralisierung

Alle fünf Neutralisierungstechniken sind jeweils einzeln oder in Kombination anwendbar. Sie werden innerhalb eines Interaktionsprozesses gelernt und sind, nach Sykes und Matza, die Vorbedingungen für abweichendes Verhalten.

Ablehnung der Verantwortung (Denial of Responsibility)

Das delinquente Handeln wird auf Ursachen zurückgeführt, die außerhalb der Kontrollmöglichkeit des Individuums liegen. Der Täter fühlt sich als Spielball fremder Mächte und ist nicht selbst für seine Taten verantwortlich. Er versucht die Tat z.B. durch den Einfluss falscher Freunde, einer benachteiligten Wohngegend oder häuslicher Probleme zu rechtfertigen. Da der Delinquent sich von anderen Umständen zu seiner Tat getrieben fühlt, macht er eine Abweichung vom herrschenden normativen System für sich möglich, ohne die Normen selbst abzulehnen.

Verneinung des Unrechts (Denial of Injury)

Ebenso wie das Strafrecht lange Zeit zwischen Verbrechen, die mala in se und mala prohibita sind, unterschieden hat, macht dies auch der Delinquent. Eine Handlung wird zwar als illegitim (d.h. Regel oder Gesetze verletzend), nicht aber als unmoralisch angesehen. Indem der Täter sich darauf beruft, dass er keinen (großen) Schaden angerichtet hat oder niemand konkret geschädigt wurde (besonders bei Verkehrsdelikten, Sachbeschädigung oder Versicherungsbetrug), rechtfertigt er seine Tat. Durch die Verneinung des Unrechts wird die Verbindung zwischen der Handlung und deren Konsequenzen unterbrochen. Auch in der gesellschaftlichen Betrachtungsweise gibt es Taten, die nicht unbedingt als unmoralisch angesehen werden, aber strafrechtlich verfolgt werden müssen.

Ablehnung des Opfers (Denial of Victim)

Auch wenn der Täter die Verantwortung für seine Tat anerkennt und sich bewusst ist, dass seine Handlungen Schaden oder Unrecht bewirken, kann er sein Verhalten neutralisieren indem er das Opfer herabwürdigt. Das Opfer wird vom Täter praktisch zum Verursacher der Tat gemacht, an dem der Täter nur Gerechtigkeit oder Rache übt, wenn auch mit illegitimen Mitteln. Das Opfer wird dabei abgewertet in dem ihm zum Beispiel ethnische Minderwertigkeit oder eigenes kriminelles Verhalten zugeschrieben wird. Gleiches kann auch bei abwesenden, abstrakten oder unbekannten Opfern zutreffen.

Verdammung der Verdammenden (Condemnation of the Condemners)

Der Delinquent verschiebt die Aufmerksamkeit von seinen eigenen abweichenden Handlungen auf die Motive und Verfehlungen derjenigen, die seine Taten verurteilen. Er lenkt von seinen Taten ab, indem er Strafjustiz, Polizei und Öffentlichkeit in ihrer Rechtschaffenheit anzweifelt und als Heuchler oder am Eigennutz orientierten Interessensvertreter oder Machthaber ansieht. Dadurch kann die Berechtigung negativer Sanktionen auf das eigene delinquente Verhalten angezweifelt und die Verwerflichkeit der eigenen Handlung verdrängt werden.

Berufung auf höhere Instanzen (Appeal to Higher Loyalties)

Der Straftäter gibt an, nicht aus Eigeninteresse sondern im Interesse anderer gehandelt zu haben und kann somit die Normen in bestimmten Situationen missachten, ohne sie generell ablehnen zu müssen. Indem er anderen Normen - z.B. bezüglich der Verpflichtung Freunden oder der Familie gegenüber - Vorrang einräumt, kann er noch größeres Unrecht verhindern oder höheren Zielen dienen. Der Delinquent befindet sich in einem Rollenkonflikt, den er auf Kosten der gesellschaftlich anerkannten Normen lösen kann, auch wenn er diese Normen eigentlich nicht ablehnt. Die abweichenden Normen werden in diesem Fall nur für dringlicher erachtet (auch politisch motivierte Taten - wie z.B. von der RAF begangen - können hier angeführt werden).

Kritik

Sykes und Matza kritisieren an ihrer Theorie selbst, dass sie wenig Aufschluss darüber liefert, in welchen Situationen welche Neutralisierungstechniken konkret aktualisiert werden und wie die Techniken sozialstrukturell in der Gesellschaft verteilt sind. Sie nehmen an, dass bestimmte Techniken für bestimmte Delikte prädestiniert sind und regen weitere Forschung in diese Richtung an. Ein weiterer Kritikpunk ist die Tatsache, dass bis heute empirisch nicht eindeutig nachgewiesen werden konnte, ob die Neutralisierungstechniken wirklich vor der abweichenden Handlung ausgebildet werden oder ob sie nur im Nachhinein als Rechtfertigung dienen. In diesem Fall wären sie keine Theorie zur Erklärung, wie und warum abweichendes Verhalten entsteht. Die bisherige neutralisierungstheoretische Forschung zur Verhaltenswirksamkeit von Rechenschaften konnte keinen kausalen Zusammenhang zwischen Neutralisierungstechniken und abweichendem Verhalten nachweisen. Fritsche (2003) konnte aber mithilfe eines Experiments erstmals die Wirkung präbehavioraler Rechenschaft auf beobachtetes normwidriges Verhalten zeigen. Maruna und Copes hingegen sehen die Wichtigkeit der Neutralisierungsthese eher in Bezug auf sekundäre Devianz (Lemert 1951) und nicht als ursächliche Erklärung für primäre Devianz.


Ausblick

Obwohl Sykes und Matza an der Erklärung von Jugenddelinquenz interessiert waren, eignen sich die Neutralisierungstechniken auch für andere Bereiche abweichenden Verhaltens. Schon 1974 generalisierte Karl-Dieter Opp die Neutralisierungsthese generell auf Verhalten, das von sozialen Normen abweicht und auch auf einen größeren Täterkreis, der sich nicht nur auf Jugendliche beschränkt. Einige empirische Studien zu Mord, Vergewaltigung, Genozid oder abweichendem Freizeitverhalten behandeln Neutralisierungstechniken, besondere Bedeutung haben sie allerdings im Bereich der Wirtschaftskriminalität. Hier gibt es zahlreiche Studien, die sich mit der Neutralisierungsthese beschäftigen, wie zum Beispiel der Aufsatz von Roland Hefendehl (2005) über den Fall Ackermann (Vorstandsvorsitzender der Deutschen Bank).


Literatur

Fritsche, I. (2003). Entschuldigungen, Rechtfertigungen und die Verletzung sozialer Normen. Weinheim, Basel, Berlin, Beltz Verlag.

Hefendehl, R. (2005). Neutralisationstechniken bis in die Unternehmensspitze Eine Fallstudie am Beispiel Ackermann. In: Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform (MschrKrim 88). Köln, Carl Heymanns Verlag.

Maruna, S. und H. Copes (2005). What have we learned from five decades of neutralization research? In: Crime and Justice. A review of research. Volume 32. Chicago, London, The University of Chicago Press.

Opp, K.-D. (1974). Abweichendes Verhalten und Gesellschaftsstruktur. Darmstadt, Luchterhand.

Sutherland, E. H. (1968). Die Theorie der differentiellen Kontakte. In: Kriminalsoziologie. F. Sack und R. König. Frankfurt am Main, Akademische Verlagsgesellschaft.

Sykes, G. M. und D. Matza (1968). Techniken der Neutralisierung. Eine Theorie der Delinquenz. In: Kriminalsoziologie. F. Sack und R. König. Frankfurt am Main, Akademische Verlagsgesellschaft.