Neutralisationstechniken: Unterschied zwischen den Versionen

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====Etymologie====
==Etymologie==


Der Begriff „Neutralisierung“ geht auf das lateinische Wort „neutral“ = sächlich, parteilos, unparteiisch (15. Jahrhundert) zurück und bedeutet soviel wie Ausgleich von entgegen gesetzten Kräften und Spannungen. Das Verb „neutralisieren“ steht für „unwirksam machen“, „ausgleichen“ und „für neutral erklären“. - Das Wort „Technik“ kommt aus dem Griechischen („technikos“) und bedeutet Herstellungsverfahren, Arbeitsweise, Kunstfertigkeit, Geschicklichkeit und Handhabung. Der Begriff „Neutralisierungstechniken“ bedeutet demnach eine Fertigkeit, mit der man Dinge ausgleichen bzw. unwirksam machen kann. Er bezieht sich in diesem Zusammenhang auf bestimmte Techniken, mit denen man die gesamtgesellschaftlichen Normen wirksam ausschalten oder neutralisieren kann.
Der Begriff „Neutralisierung“ geht auf das lateinische Wort „neutral“ = sächlich, parteilos, unparteiisch (15. Jahrhundert) zurück und bedeutet soviel wie Ausgleich von entgegen gesetzten Kräften und Spannungen. Das Verb „neutralisieren“ steht für „unwirksam machen“, „ausgleichen“ und „für neutral erklären“. - Das Wort „Technik“ kommt aus dem Griechischen („technikos“) und bedeutet Herstellungsverfahren, Arbeitsweise, Kunstfertigkeit, Geschicklichkeit und Handhabung. Der Begriff „Neutralisierungstechniken“ bedeutet demnach eine Fertigkeit, mit der man Dinge ausgleichen bzw. unwirksam machen kann. Er bezieht sich in diesem Zusammenhang auf bestimmte Techniken, mit denen man die gesamtgesellschaftlichen Normen wirksam ausschalten oder neutralisieren kann.


====Fünf Techniken====   
==Fünf Techniken==   


Alle fünf Neutralisierungstechniken sind jeweils einzeln oder in Kombination anwendbar. Sie werden innerhalb eines Interaktionsprozesses gelernt und sind, nach Sykes und Matza, die Vorbedingungen für abweichendes Verhalten.  
Alle fünf Neutralisierungstechniken sind jeweils einzeln oder in Kombination anwendbar. Sie werden innerhalb eines Interaktionsprozesses gelernt und sind, nach Sykes und Matza, die Vorbedingungen für abweichendes Verhalten.  


=====Ablehnung der Verantwortung (Denial of Responsibility)=====
===Ablehnung der Verantwortung (Denial of Responsibility)===


Das delinquente Handeln wird auf Ursachen zurückgeführt, die außerhalb der Kontrollmöglichkeit des Individuums liegen. Der Täter fühlt sich als Spielball fremder Mächte und ist nicht selbst für seine Taten verantwortlich. Er versucht die Tat z.B. durch den Einfluss falscher Freunde, einer benachteiligten Wohngegend oder häuslicher Probleme zu rechtfertigen. Indem der Delinquent lernt, sich mehr getrieben als handelnd zu sehen, bereitet er den Weg für die Abweichung vom herrschenden normativen System ohne die Notwendigkeit eines frontalen Angriffes auf die Normen selbst.
Das delinquente Handeln wird auf Ursachen zurückgeführt, die außerhalb der Kontrollmöglichkeit des Individuums liegen. Der Täter fühlt sich als Spielball fremder Mächte und ist nicht selbst für seine Taten verantwortlich. Er versucht die Tat z.B. durch den Einfluss falscher Freunde, einer benachteiligten Wohngegend oder häuslicher Probleme zu rechtfertigen. Indem der Delinquent lernt, sich mehr getrieben als handelnd zu sehen, bereitet er den Weg für die Abweichung vom herrschenden normativen System ohne die Notwendigkeit eines frontalen Angriffes auf die Normen selbst.


=====Verneinung des Unrechts (Denial of Injury)=====  
===Verneinung des Unrechts (Denial of Injury)===


Ebenso wie das Strafrecht lange Zeit zwischen Verbrechen, die mala in se und mala prohibita sind, unterschieden hat, macht dies auch der Delinquent. Eine Handlung wird zwar als illegitim (d.h. Regel oder Gesetze verletzend), nicht aber als unmoralisch angesehen. Indem der Täter sich darauf beruft, dass er keinen (großen) Schaden angerichtet hat oder niemand konkret geschädigt wurde (besonders bei Verkehrsdelikten, Sachbeschädigung oder Versicherungsbetrug), rechtfertigt er seine Tat. Durch die Verneinung des Unrechts wird die Verbindung zwischen der Handlung und deren Konsequenzen unterbrochen. Auch in der gesellschaftlichen Betrachtungsweise gibt es Taten, die nicht unbedingt als unmoralisch angesehen werden, aber strafrechtlich verfolgt werden müssen.
Ebenso wie das Strafrecht lange Zeit zwischen Verbrechen, die mala in se und mala prohibita sind, unterschieden hat, macht dies auch der Delinquent. Eine Handlung wird zwar als illegitim (d.h. Regel oder Gesetze verletzend), nicht aber als unmoralisch angesehen. Indem der Täter sich darauf beruft, dass er keinen (großen) Schaden angerichtet hat oder niemand konkret geschädigt wurde (besonders bei Verkehrsdelikten, Sachbeschädigung oder Versicherungsbetrug), rechtfertigt er seine Tat. Durch die Verneinung des Unrechts wird die Verbindung zwischen der Handlung und deren Konsequenzen unterbrochen. Auch in der gesellschaftlichen Betrachtungsweise gibt es Taten, die nicht unbedingt als unmoralisch angesehen werden, aber strafrechtlich verfolgt werden müssen.


=====Ablehnung des Opfers (Denial of Victim)=====  
===Ablehnung des Opfers (Denial of Victim)===  


Auch wenn der Täter die Verantwortung für seine Tat anerkennt und sich bewusst ist, dass seine Handlungen Schaden oder Unrecht bewirken, kann er sein Verhalten neutralisieren indem er das Opfer herabwürdigt. Das Opfer wird zum "Übeltäter" und der Täter zum "Rächer". Gesellschaftlich anerkannte Vorbilder sind beispielsweise Robin Hood oder der knallharte Cop. Der Delinquente unterscheidet zudem zwischen angemessenen und unangemessenen Zielen und Opfern. Gleiches kann auch bei abwesenden, abstrakten oder unbekannten Opfern zutreffen. Die Funktion besteht darin, eine soziale Distanz zwischen Opfer und Täter zu schaffen.
Auch wenn der Täter die Verantwortung für seine Tat anerkennt und sich bewusst ist, dass seine Handlungen Schaden oder Unrecht bewirken, kann er sein Verhalten neutralisieren indem er das Opfer herabwürdigt. Das Opfer wird zum "Übeltäter" und der Täter zum "Rächer". Gesellschaftlich anerkannte Vorbilder sind beispielsweise Robin Hood oder der knallharte Cop. Der Delinquente unterscheidet zudem zwischen angemessenen und unangemessenen Zielen und Opfern. Gleiches kann auch bei abwesenden, abstrakten oder unbekannten Opfern zutreffen. Die Funktion besteht darin, eine soziale Distanz zwischen Opfer und Täter zu schaffen.


=====Verdammung der Verdammenden (Condemnation of the Condemners)=====
===Verdammung der Verdammenden (Condemnation of the Condemners)===


Der Delinquent verschiebt die Aufmerksamkeit von seinen eigenen abweichenden Handlungen auf die Motive und Verfehlungen derjenigen, die seine Taten verurteilen. Dies kann zu Sarksasmus gegen Personen, die soziale Normen durchsetzen und verkörpern verhärten. Der Polizei oder der Justiz wird vorgeworfen aus persönlichen Gründen gehandelt zu haben, die nichts mit der Tat an sich zu tun haben. Durch den Angriff anderer, kann die moralische Verwerflichkeit des eingenen Tuns besser verdrängt werden.
Der Delinquent verschiebt die Aufmerksamkeit von seinen eigenen abweichenden Handlungen auf die Motive und Verfehlungen derjenigen, die seine Taten verurteilen. Dies kann zu Sarksasmus gegen Personen, die soziale Normen durchsetzen und verkörpern verhärten. Der Polizei oder der Justiz wird vorgeworfen aus persönlichen Gründen gehandelt zu haben, die nichts mit der Tat an sich zu tun haben. Durch den Angriff anderer, kann die moralische Verwerflichkeit des eingenen Tuns besser verdrängt werden.


=====Berufung auf höhere Instanzen (Appeal to Higher Loyalties)=====  
===Berufung auf höhere Instanzen (Appeal to Higher Loyalties)===  


Der Straftäter kann sich darauf berufen, nicht für sich selbst gehandelt zu haben, sondern im höheren Interesse für eine wichtige, bedeutende Gruppe. So würde beispielsweise aus einem kleinen Unrech ein universelles Recht werden. Der Delinquente sieht sich in einem Konflikt beziehungweise Dilemma verstrickt, das er zu gunsten der kleineren Gruppe und auf Kosten der Gesetzesübertretung lösen muss.Die abweichenden Normen werden in diesem Fall nur für dringlicher erachtet (auch politisch motivierte Taten - wie z.B. von der RAF begangen - können hier angeführt werden).
Der Straftäter kann sich darauf berufen, nicht für sich selbst gehandelt zu haben, sondern im höheren Interesse für eine wichtige, bedeutende Gruppe. So würde beispielsweise aus einem kleinen Unrech ein universelles Recht werden. Der Delinquente sieht sich in einem Konflikt beziehungweise Dilemma verstrickt, das er zu gunsten der kleineren Gruppe und auf Kosten der Gesetzesübertretung lösen muss.Die abweichenden Normen werden in diesem Fall nur für dringlicher erachtet (auch politisch motivierte Taten - wie z.B. von der RAF begangen - können hier angeführt werden).


====Kritik====
==Kritik==


Sykes und Matza kritisieren an ihrer Theorie selbst, dass sie wenig Aufschluss darüber liefert, in welchen Situationen welche Neutralisierungstechniken konkret aktualisiert werden und wie die Techniken sozialstrukturell in der Gesellschaft verteilt sind. Sie nehmen an, dass bestimmte Techniken für bestimmte Delikte prädestiniert sind und regen weitere Forschung in diese Richtung an. Ein weiterer Kritikpunk ist die Tatsache, dass bis heute empirisch nicht eindeutig nachgewiesen werden konnte, ob die Neutralisierungstechniken wirklich vor der abweichenden Handlung ausgebildet werden oder ob sie nur im Nachhinein als Rechtfertigung dienen. In diesem Fall wären sie keine Theorie zur Erklärung, wie und warum abweichendes Verhalten entsteht. Die bisherige neutralisierungstheoretische Forschung zur Verhaltenswirksamkeit von Rechenschaften konnte keinen kausalen Zusammenhang zwischen Neutralisierungstechniken und abweichendem Verhalten nachweisen. Fritsche (2003) konnte aber mithilfe eines Experiments erstmals die Wirkung präbehavioraler Rechenschaft auf beobachtetes normwidriges Verhalten zeigen. Maruna und Copes hingegen sehen die Wichtigkeit der Neutralisierungsthese eher in Bezug auf sekundäre [[Devianz]] (Lemert 1951) und nicht als  ursächliche Erklärung für primäre [[Devianz]].
Sykes und Matza kritisieren an ihrer Theorie selbst, dass sie wenig Aufschluss darüber liefert, in welchen Situationen welche Neutralisierungstechniken konkret aktualisiert werden und wie die Techniken sozialstrukturell in der Gesellschaft verteilt sind. Sie nehmen an, dass bestimmte Techniken für bestimmte Delikte prädestiniert sind und regen weitere Forschung in diese Richtung an. Ein weiterer Kritikpunk ist die Tatsache, dass bis heute empirisch nicht eindeutig nachgewiesen werden konnte, ob die Neutralisierungstechniken wirklich vor der abweichenden Handlung ausgebildet werden oder ob sie nur im Nachhinein als Rechtfertigung dienen. In diesem Fall wären sie keine Theorie zur Erklärung, wie und warum abweichendes Verhalten entsteht. Die bisherige neutralisierungstheoretische Forschung zur Verhaltenswirksamkeit von Rechenschaften konnte keinen kausalen Zusammenhang zwischen Neutralisierungstechniken und abweichendem Verhalten nachweisen. Fritsche (2003) konnte aber mithilfe eines Experiments erstmals die Wirkung präbehavioraler Rechenschaft auf beobachtetes normwidriges Verhalten zeigen. Maruna und Copes hingegen sehen die Wichtigkeit der Neutralisierungsthese eher in Bezug auf sekundäre [[Devianz]] (Lemert 1951) und nicht als  ursächliche Erklärung für primäre [[Devianz]].


====Anwendungsbereich====
==Anwendungsbereich==


Obwohl Sykes und Matza an der Erklärung von [[Jugendkriminalität|Jugenddelinquenz]] interessiert waren, eignen sich die Neutralisierungstechniken auch für andere Bereiche abweichenden Verhaltens. Schon 1974 generalisierte Karl-Dieter Opp die Neutralisierungsthese generell auf Verhalten, das von sozialen Normen abweicht und auch auf einen größeren Täterkreis, der sich nicht nur auf Jugendliche beschränkt. Einige empirische Studien zu Mord, Vergewaltigung, Genozid oder abweichendem Freizeitverhalten behandeln Neutralisierungstechniken, besondere Bedeutung haben sie allerdings im Bereich der Wirtschaftskriminalität. Hier gibt es zahlreiche Studien, die sich mit der Neutralisierungsthese beschäftigen, wie zum Beispiel der Aufsatz von Roland Hefendehl (2005) über den Fall Ackermann (Vorstandsvorsitzender der Deutschen Bank).
Obwohl Sykes und Matza an der Erklärung von [[Jugendkriminalität|Jugenddelinquenz]] interessiert waren, eignen sich die Neutralisierungstechniken auch für andere Bereiche abweichenden Verhaltens. Schon 1974 generalisierte Karl-Dieter Opp die Neutralisierungsthese generell auf Verhalten, das von sozialen Normen abweicht und auch auf einen größeren Täterkreis, der sich nicht nur auf Jugendliche beschränkt. Einige empirische Studien zu Mord, Vergewaltigung, Genozid oder abweichendem Freizeitverhalten behandeln Neutralisierungstechniken, besondere Bedeutung haben sie allerdings im Bereich der Wirtschaftskriminalität. Hier gibt es zahlreiche Studien, die sich mit der Neutralisierungsthese beschäftigen, wie zum Beispiel der Aufsatz von Roland Hefendehl (2005) über den Fall Ackermann (Vorstandsvorsitzender der Deutschen Bank).
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