Mord (Version 2): Unterschied zwischen den Versionen

 
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Der internationale Vergleich von Kriminalitätsraten ist für seine Fallstricke bekannt. Die unterschiedlichen Definitionen dessen, was Mord im Gegensatz zu anderen Tötungsdelikten ausmacht, sind auch keine Erleichterung. So verzichtet man heute auf den Versuch, Mordraten zu vergleichen und befasst sich lieber mit der viel weiteren Kategorie der vorsätzlichen Tötungsdelikte (Homicide; Homizid). Da sich auch dort Abgrenzungsprobleme ergeben, verschiebt man das Problem zwar nur und verbaut sich zudem die Möglichkeit eines internationalen Vergleichs extremer Formen vorsätzlicher Tötungen, doch werden die Statistiken dadurch nicht völlig wertlos. Den relativ besten Eindruck von den Größenverhältnissen und Entwicklungstendenzen bei vorsätzlichen Tötungsdelikten vermittelt die ''Global Study on Homicide'' des Büros Vereinten Nationen zur Drogen- und Verbrechensbekämpfung (UNODC 2011), die ihre Daten aus nationalen und internationalen sowie polizeilichen und medizinischen Quellen schöpfte und dadurch einige der Verzerrungen, die sich aus selektiven Polizeistatistiken ergeben könnten, ausbügeln konnte.  
Der internationale Vergleich von Kriminalitätsraten ist für seine Fallstricke bekannt. Die unterschiedlichen Definitionen dessen, was Mord im Gegensatz zu anderen Tötungsdelikten ausmacht, sind auch keine Erleichterung. So verzichtet man heute auf den Versuch, Mordraten zu vergleichen und befasst sich lieber mit der viel weiteren Kategorie der vorsätzlichen Tötungsdelikte (Homicide; Homizid). Da sich auch dort Abgrenzungsprobleme ergeben, verschiebt man das Problem zwar nur und verbaut sich zudem die Möglichkeit eines internationalen Vergleichs extremer Formen vorsätzlicher Tötungen, doch werden die Statistiken dadurch nicht völlig wertlos. Den relativ besten Eindruck von den Größenverhältnissen und Entwicklungstendenzen bei vorsätzlichen Tötungsdelikten vermittelt die ''Global Study on Homicide'' des Büros Vereinten Nationen zur Drogen- und Verbrechensbekämpfung (UNODC 2011), die ihre Daten aus nationalen und internationalen sowie polizeilichen und medizinischen Quellen schöpfte und dadurch einige der Verzerrungen, die sich aus selektiven Polizeistatistiken ergeben könnten, ausbügeln konnte.  


*Weltweit starben im Jahr 2010 nach der besten verfügbaren Schätzung 468 000 Menschen durch vorsätzliche Tötungsdelikte. Die Homizidrate lag damit im weltweiten Durchschnitt bei 6,9 Tötungsdelikts-Opfern pro 100.000 Einwohnern.
*Weltweit starben im Jahr 2010 nach der besten verfügbaren Schätzung 468 000 Menschen durch vorsätzliche Tötungsdelikte. Die Homizidrate lag damit im weltweiten Durchschnitt bei 6,9 Tötungsdelikts-Opfern pro 100.000 Einwohnern. Besonders gefährdet: junge Männer (21/100.000).
 
*Überhaupt sind Homizide überwiegend Männersache: 80 Prozent aller Täter und aller Opfer sind männlich.
 
*Schußwaffen spielen bei 40% aller Taten eine Rolle (in Europa: 21%).


*Die UNO sieht eine klare Verbindung zwischen Homizidraten und der Kluft zwischen Arm und Reich. In Ländern mit (laut Gini- oder Human Development Index) besonders krassen Unterschieden sind Homizide um ein Vielfaches häufiger als in Ländern mit einer gleichmäßigeren Verteilung des Wohlstands.
*Die UNO sieht eine klare Verbindung zwischen Homizidraten und der Kluft zwischen Arm und Reich. In Ländern mit (laut Gini- oder Human Development Index) besonders krassen Unterschieden sind Homizide um ein Vielfaches häufiger als in Ländern mit einer gleichmäßigeren Verteilung des Wohlstands.
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*Sogar ohne dramatische gesellschaftliche Verwerfungen können sich die Homizid-Raten innerhalb von ein bis zwei Dekaden erheblich verändern. Zwischen Ende der 1950er und Ende der 1970er Jahre stieg z.B. in entwickelten westlichen Ländern das Risiko, Opfer eines tödlichen Gewaltverbrechens zu werden, um 60%. Andererseits sank dasselbe Risiko in New York City von 1993 bis 2002 um 69% (vgl. Hess 2004).
*Sogar ohne dramatische gesellschaftliche Verwerfungen können sich die Homizid-Raten innerhalb von ein bis zwei Dekaden erheblich verändern. Zwischen Ende der 1950er und Ende der 1970er Jahre stieg z.B. in entwickelten westlichen Ländern das Risiko, Opfer eines tödlichen Gewaltverbrechens zu werden, um 60%. Andererseits sank dasselbe Risiko in New York City von 1993 bis 2002 um 69% (vgl. Hess 2004).


*Homizide sind überwiegend Männersache und werden häufig mit Schusswaffen begangen. 80 Prozent aller Täter und aller Opfer sind männlich. Schußwaffen spielen bei 40% aller Taten eine Rolle (in Europa: 21%).
*Ausnahmefall Nicaragua: das Land ist arm und liegt in demselben Drogenkorridor von Süd- nach Nordamerika, der die gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen staatlichen und nicht-staatlichen Gruppen und Banden in Ländern wie Honduras und El Salvador befeuert. Dennoch liegt die Homizidrate (13/100.000) hier niedriger als bei den Nachbarn. Die relative Immunität gegen exorbitante Gewalt korreliert hier mit einer besseren Regierungsführung, einer vergleichsweise funktionsfähigen Justiz und einer weniger in feindselige ethnische oder soziale Lager gespaltenen Gesellschaftsstruktur (Logan 2009).  
 
*Ausnahmefall Nicaragua: das Land ist arm und liegt in demselben Drogenkorridor von Süd- nach Nordamerika, der die gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen staatlichen und nicht-staatlichen Gruppen und Banden in Ländern wie Honduras und El Salvador befeuert. Dennoch liegt die Homizidrate (13/100.000) hier seit vielen Jahren schon um ein Vielfaches niedriger als bei den Nachbarn. Die relative Immunität gegen exorbitante Gewalt korreliert hier mit einer besseren Regierungsführung, einer vergleichsweise funktionsfähigen Justiz und einer weniger in feindselige ethnische oder soziale Lager gespaltenen Gesellschaftsstruktur (Logan 2009).  


*Ausnahmefall Brasilien: das Land hat eine hohe, aber nicht exorbitante Homizidrate von 25/100.000. Es gibt aber einen Bundesstaat (Alagoas), der eine Homizidrate von 60/100.000 aufweist und dessen Hauptstadt Maceió auf eine Rate von 107 kommt. Das Hauptmerkmal von Alagoas und seiner Hauptstadt Maceió ist extreme soziale Ungleichheit. Elend und Luxus leben nebeneinander. Riesige Zuckerrohrplantagen und Rinderherden kennzeichnen eine Gesellschaft, in der die Plantagenarbeiter ihre Zwiste mit der Faust und mit Messern oder Macheten austragen und in der die Oberschicht der Bestrafung entgeht, indem sie verschwiegene und billige Auftragskiller nutzt. Während Verbesserungen der Lebensverhältnisse und der Polizeiarbeit seit 1998 einen Rückgang der Homizide in Rio um zwei Fünftel und Sao Paulo um zwei Drittel bewirkten, wanderten gewalttätige Drogen- und Waffenhändlerbanden in Gegenden aus, die gleichsam noch auf ihre postmoderne Erschließung warteten, gleichzeitig aber auch alte Gewaltstrukturen aufwiesen: unter anderem in Alagoas fanden sie Gelegenheiten der Landerschließung, des illegalen Tropenholzmarktes, schlecht bewachte Grenzen für Waffen und Drogen sowie eine hochgradig korrupte Polizei (Waiselfisz 2011).
*Ausnahmefall Brasilien: das Land hat eine hohe Homizidrate (25). Verbesserungen der Lebensverhältnisse und der Polizeiarbeit bewirkten seit 1998 einen Rückgang der Homizide in Rio um zwei Fünftel und Sao Paulo um zwei Drittel. In anderen Bundesstaaten wie etwa Alagoas trafen die aus den Metropolen verdrängten Drogen- und Waffenhändlerbanden auf überkommene Gewaltstrukturen sowie einen illegalen Tropenholzmarkt, schlecht bewachte Grenzen und eine korrupte Polizei (Waiselfisz 2011). In Alagoas stieg die Homizidrate auf 60, in der Hauptstadt Maceió auf 107.
 
*Auch die Alterspyramide spielt eine Rolle: je höher der Anteil junger Menschen, desto höher die Homizidraten. Insbesondere junge Männer haben eher Waffen, beteiligen sich an Straßenkriminalität und geraten leichter in körperliche Auseinandersetzungen (weltweit werden in jedem Jahr 21 von 100.000 jungen Männern Opfer vorsätzlicher Tötungsdelikte).


== Mord als Abweichung ==
== Mord als Abweichung ==
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*Trube-Becker, Elisabeth (1974). Frauen als Mörder. München: Goldmann.
*Trube-Becker, Elisabeth (1974). Frauen als Mörder. München: Goldmann.
*[http://www.unodc.org/documents/data-and-analysis/statistics/Homicide/Globa_study_on_homicide_2011_web.pdf UNO (2011) United Nations Office on Drugs and Crime (UNODC). Global Study on Homicide. Trends, Context, Data, abgerufen am 02.05.2012 (PDF 7,1 MB, englisch, Internationale Studie zu den Tötungsdelikten vom Büro der Vereinten Nationen für Drogen- und Verbrechensbekämpfung].
*[http://www.unodc.org/documents/data-and-analysis/statistics/Homicide/Globa_study_on_homicide_2011_web.pdf UNO (2011) United Nations Office on Drugs and Crime (UNODC). Global Study on Homicide. Trends, Context, Data, abgerufen am 02.05.2012 (PDF 7,1 MB, englisch, Internationale Studie zu den Tötungsdelikten vom Büro der Vereinten Nationen für Drogen- und Verbrechensbekämpfung].
*[https://www.unodc.org/documents/data-and-analysis/statistics/GSH2013/2014_GLOBAL_HOMICIDE_BOOK_web.pdf United Nations ... 2013 (2014)]


*Veiel, Andres (2007) Der Kick: Ein Lehrstück über Gewalt: München, Deutsche Verlags-Anstalt (DVA).
*Veiel, Andres (2007) Der Kick: Ein Lehrstück über Gewalt: München, Deutsche Verlags-Anstalt (DVA).
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== Weblinks ==
== Weblinks ==
*[http://www.heise.de/tp/artikel/22/22490/1.html über Frank, Warum Menschen töten]
*[http://www.heise.de/tp/artikel/22/22490/1.html über Frank, Warum Menschen töten]
*[http://www.equalitytrust.org.uk/resources/publications/research-digest-1-violent-crime-web Equality Trust (2012) Research digest: Income inequality and violent crime]
== Siehe auch ==
*[[Mord (Version 1)]]
*[[Handbook3]]
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