Mord (Version 2): Unterschied zwischen den Versionen

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== Mord als Sonderfall des Tötens ==
== Mord als Sonderfall des Tötens ==


Was den Mord angeht, so kann man sich als Grundregel merken: nur Menschen können morden. Erdbeben und Überschwemmungen können vieltausendfach pflanzliches, tierisches und menschliches Leben vernichten, aber nicht ermorden. Katzen bringen Vögel und Mäuse um, aber sie ermorden sie nicht. Jemanden ermorden zu können, ist sozusagen ein Monopol - ein negatives Privileg - einer einzigen, nämlich unserer eigenen Spezies: das Subjekt des Mordens ist der Mensch. Das heißt nicht, dass Menschen immer morden, wenn sie töten. Der Mensch tötet weitaus mehr, als dass er mordet: er tötet pflanzliches Leben schon beim Unkrautjäten im Balkonkasten und er tötet tierisches Leben schon bei der Bekämpfung von Mücken, Motten und Silberfischen. Dass er das zielgerichtet, planvoll und mit voller Absicht tut, macht aus dem Töten noch keinen Mord. Nicht alles, was lebt, kommt überhaupt als Objekt eines Mordes in Frage. Es muss schon "jemand" sein. Mit anderen Worten: jeder Mord erfordert mindestens einen Menschen als Subjekt und mindestens einen Menschen als Objekt.  
Was den Mord angeht, so kann man sich als Grundregel merken: nur Menschen können morden. Erdbeben und Überschwemmungen können vieltausendfach pflanzliches, tierisches und menschliches Leben vernichten, aber nicht ermorden. Katzen bringen Vögel und Mäuse um, aber sie ermorden sie nicht. Jemanden ermorden zu können, ist sozusagen ein Monopol - ein negatives Privileg - einer einzigen, nämlich unserer eigenen Spezies: das Subjekt des Mordens ist der Mensch. Das heißt nicht, dass Menschen immer morden, wenn sie töten. Der Mensch tötet weitaus mehr, als dass er mordet: er tötet pflanzliches Leben schon beim Unkrautjäten im Balkonkasten und er tötet tierisches Leben schon bei der Bekämpfung von Mücken, Motten und Silberfischen. Dass er das zielgerichtet, planvoll und mit voller Absicht tut, macht aus dem Töten noch keinen Mord. Das gilt auch für die Tötung von jährlich 25 Millionen Tieren für die Pelzindustrie, von mehreren Milliarden Hühnern und rund 360 Millionen Schweinen, Schafen, Ziegen und Rindern für die Fleischerzeugung allein in der Europäischen Union (European Commission 2008). Nicht alles, was lebt, kommt als Objekt eines Mordes in Frage. Es muss schon "jemand" sein. Mit anderen Worten: jeder Mord erfordert mindestens einen Menschen als Subjekt und mindestens einen Menschen als Objekt einer Tötung.


Es gibt (seltene) Ausnahmen von dieser Regel. Man denke an Mordprozesse gegen Tiere oder an den Diskurs über Folter und Mord an Menschenaffen (Fischer 2005, Cavalieri & Singer 1994). Diese Ausnahmen zeigen zweierlei. Erstens, dass der Mord als soziale Tatsache nicht durch das Mensch-Sein von Täter und Opfer definiert ist, sondern letztlich nur durch die außerordentliche Verwerflichkeit, die einer Tötung zugeschrieben wird; die Menschen-Eigenschaft von Täter (= schuldfähiges Subjekt) und Opfer (= verbotenes Objekt der Tötung) gilt normalerweise als Voraussetzung dafür, eine Tötung als besonders empörend zu qualifizieren, doch können ausnahmsweise eben auch Tier-Mensch- oder Mensch-Tier-Tötungen ebenso starke Reaktionen auslösen wie kaltblütige Tötungen unter Menschen. Zweitens belegt die zunehmende Plausibilität der Ansicht, dass auch Tiere - und insbesondere die sog. Menschenaffen - Opfer von Folter und Mord sein können, die weitere Selbstrelativierung des Menschen im historischen Prozess und die daraus folgende allgemeine "Tendenz zur Inklusion" (Hess 2011).
Es gibt (seltene) Ausnahmen von dieser Regel. Man denke an Mordprozesse gegen Tiere oder an den Diskurs über Folter und Mord an Menschenaffen (Fischer 2005, Cavalieri & Singer 1994). Diese Ausnahmen zeigen zweierlei. Erstens, dass der Mord als soziale Tatsache nicht durch das Mensch-Sein von Täter und Opfer definiert ist, sondern letztlich nur durch die außerordentliche Verwerflichkeit, die einer Tötung zugeschrieben wird; die Menschen-Eigenschaft von Täter (= schuldfähiges Subjekt) und Opfer (= verbotenes Objekt der Tötung) gilt normalerweise als Voraussetzung dafür, eine Tötung als besonders empörend zu qualifizieren, doch können ausnahmsweise eben auch Tier-Mensch- oder Mensch-Tier-Tötungen ebenso starke Reaktionen auslösen wie kaltblütige Tötungen unter Menschen. Zweitens belegt die zunehmende Plausibilität der Ansicht, dass auch Tiere - und insbesondere die sog. Menschenaffen - Opfer von Folter und Mord sein können, die weitere Selbstrelativierung des Menschen im historischen Prozess und die damit zusammenhängende allgemeinere "Tendenz zur Inklusion" (Hess 2011).
   
   
Andererseits ist aber auch nicht jede Tötung eines Menschen durch einen Menschen ein Mord. Man denke an die Einnahme feindlicher Stellungen im Krieg, an die Vollstreckung von Todesstrafen, an die Tötung in Notwehr oder an den tödlichen Schuss auf einen Bankräuber zur Rettung von Geiseln. Man denke an fahrlässige Tötungen, an die Tötung auf Verlangen, an Abtreibungen oder Taten im Affekt. Man denke schließlich an vorsätzliche, rechtswidrige und schuldhaft begangene Tötungen, die vom Gesetz und von den Gerichten wie auch von der öffentlichen Meinung als Totschlags- und nicht als Mord-Fälle angesehen werden. Die Funktion der Kategorie des Mordes besteht darin, eine Grenze zu ziehen zwischen den Tötungen, die der Mensch an Artgenossen vornimmt, und die noch irgendwie als innerhalb der Gesellschaft angesehen werden (können und sollen) - und jenen, die von einer Grausamkeit und Gefährlichkeit sind, die ganz fundamentale Fragen der Existenz und des Wesens des Menschen, Gottes und des Bösen aufwerfen ("Wie kann ein Mensch zu einer solchen Tat in der Lage sein? Was muss das für ein Gott sein, der so etwas zulässt?"). Welche Eigenschaften eine Tat aufweisen muss, um der Extremkategorie dieser besonders verabscheuungswürdigen und kaum oder gar nicht nachvollziehbaren Mord-Taten zugeordnet zu werden, wird von jeder Epoche und jeder Rechtskultur anders beantwortet: was sie aber alle zu einen scheint ist die Überzeugung, dass die Existenz einer solchen Kategorie zur Benennung des Aller-Abscheulichsten, was der Mensch dem Menschen antun kann, in der Sprache und in der Verknüpfung solcher Fälle mit besonderen Rechtsfolgen einen klaren Ausdruck finden muss.


Der Mord ist also die exzeptionell verwerfliche Tötung. Generell erfordert die besondere Verwerflichkeit eine Tötung von Mensch gegen Mensch. Doch das ist meistens nur die notwendige und noch lange nicht die hinreichende Bedingung für das Vorliegen eines Mordes. Bei weitem nicht immer, wenn der Mensch einen Menschen tötet, mordet er. Weder die "Tötung auf Verlangen" noch die "fahrlässige Tötung" erreichen den für einen Mord erforderlichen Grad der Verwerflichkeit.
Die allgemeine Bedeutung der Definition des Mordes für jede Gesellschaft zeigt sich auch daran, dass der gesetzlich fixierte Mordbegriff zu jeder Zeit mit sozialen Anschauungen und Forderungen konkurriert. So kommt es, dass in der Realität zu jeder Zeit mehreres als Mord bezeichnet wird, nämlich jeweils das, was:  
 
Das gilt auch für den "normalen" Totschlag, der zwar vorsätzlich erfolgt, aber doch nicht als so verwerflich angesehen wird wie der ja geradezu durch seine Außergewöhnlichkeit definierte Mord. Von Mord wird nur dann gesprochen, wenn die Tötungshandlung besondere Eigenschaften aufweist, die sie als außerordentlich verwerflich erscheinen lassen. Im Laufe der Geschichte und quer durch alle Gesellschaften gehen die Ansichten darüber zwar auseinander, welche Arten von Tötungshandlungen diese besondere moralische (und rechtliche) Verurteilung verdienen; zugleich erscheint jedoch die Überzeugung durchaus universellen Charakters zu sein, dass es erforderlich sei, eine solche Klasse besonders verwerflicher Tötungen von "normalen" Tötungen abzugrenzen und besonders zu behandeln.
 
Man tötet allein innerhalb der Europäischen Union jährlich 25 Millionen Tiere für die Pelzindustrie sowie mehrere Milliarden Hühner und weiteres Geflügel sowie rund 360 Millionen Schweine, Schafe, Ziegen und Rinder für die Fleischerzeugung (European Commission 2008). Darüber hinaus ist der Mensch aber auch biologisch gesehen durchaus "frei, seine Artgenossen zu töten; die instinktive Hemmung dagegen reicht bei ihm nicht aus" (v. Weizsäcker 1979: 85). Als soziale Tatsache ist das Töten - auch das von Artgenossen - in soziologischer Hinsicht normal (Durkheim 1968).
 
Die soziale Bewertung reicht von schärfster Verurteilung bis zu höchster Anerkennung. Das Grundmuster, dem die Verteilung von Ächtung und Achtung folgt, sieht folgendermaßen aus. Das Töten von Nicht-Menschen gilt grundsätzlich als moralisch neutral. Das Töten von Artgenossen wird grundsätzlich dann als Gefahr für die Allgemeinheit wahrgenommen und dementsprechend missbilligt, wenn die Handlung aus (egoistischen) Motiven zum privaten Vorteil erfolgt. Demgegenüber wird das (altruistische) Töten zur Abwehr von Bedrohungen des Gemeinwesens innerhalb des betreffenden Gemeinwesens grundsätzlich als notwendig und gerechtfertigt, wenn nicht lobenswert und vorbildlich bewertet. Tötungen können den Status einer Person also beschädigen (Bestrafung, Verachtung), sie können ihn aber auch unberührt lassen (Indifferenz bei Notwehr oder bei der Tötung von Tieren) oder erhöhen (Orden, Ehrenzeichen, Denkmäler).
 
Die schiere Bandbreite sozialer Werturteile birgt ein gewisses Potential an Wertungswidersprüchen und -konflikten, deren Aufbrechen und Ausufern nicht nur den ethischen, sondern auch den politisch-ideologischen und damit den machtmäßigen Status Quo der Gesellschaft gefährden könnte. Diesem Risiko begegnet in gewisser Weise die Trennung zwischen privater und politischer Moral. Nach dem Prinzip ''Quod licet Iovi non licet bovi'' kann dann zwar der Staat das Töten verlangen und belohnen, doch gilt für Privatpersonen nichtsdestotrotz der Satz: ''Du sollst nicht töten''. Eine Vielzahl von Ausnahmen und feinen Differenzierungen führt dazu, dass das soziale Bewertungskontinuum, das sich zwischen der verwerflichsten und der lobenswertesten Tötung erstreckt, letztlich dann aber doch nicht ganz deckungsgleich ist mit dem Kontinuum vom Privaten zum Öffentlichen: die Tötung aus privater Notwehr gilt zum Beispiel als achtens-, die extralegale Tötung von Zivilpersonen durch staatliche Akteure hingegen eher als ächtenswert.
 
Vor allem aber gibt es auch innerhalb der Klasse der sozial unerwünschten Tötungshandlungen noch erhebliche moralische Differenzierungen: wo die Tötung fahrlässig oder auf Verlangen des dann Getöteten erfolgte, wird sie generell weniger stark geächtet sein als dort, wo sie als Totschlag im Rahmen eines Eifersuchtsanfalls erfolgt oder gar ganz kaltblütig ein arg- und wehrloses Opfer langsam und qualvoll vom Leben zum Tode befördert. Für Taten vom Stile der letztgenannten Art haben die meisten Gesellschaften mittels besonderer Begriffe und Sanktionen eine von anderen Tötungsdelikten abgesonderte Klasse geschaffen, die als Inbegriff des größten Unrechts und der größten Schuld gilt, die ein Mensch auf sich laden kann. Insofern hat die Bezeichnung einer vorsätzlichen Tötung als Mord eine viel wuchtigere und metaphysisch aufgeladenere Bedeutung als wenn sie als Totschlag bezeichnet würde.
 
Welche Arten von Tötungen jeweils der Kategorie der höchsten Verwerflichkeit zugeordnet werden, unterscheidet sich nach Epochen, Kulturen und politischen Verhältnissen. Üblicherweise erfolgte (und erfolgt) die Abgrenzung im westlichen Kulturkreis mittels der Merkmale des Vorbedachts (im griechischen Alterum: ''ek pronoia'') und der Planung (''bouleusis'').
 
In Deutschland herrscht allerdings insofern eine besondere Situation, als das hiesige Strafgesetz die Abgrenzung des Mordes vom Totschlag seit 1941 nicht mehr nach dem Merkmal der Überlegung vornimmt, sondern sich einer typisierenden Bewertung von Tatmotiven, Tatumständen und Tatzielen bedient. Zudem beschreibt das Gesetz seither nicht die Tat, sondern den Täter. "Mörder ist", heißt es in dem seit 1941 unveränderten, aus der nationalsozialistischen Tätertypenlehre stammenden Gesetzestext, "wer aus Mordlust, zur Befriedigung des Geschlechtstriebes, aus Habgier oder sonst aus niedrigen Beweggründen, heimtückisch oder grausam oder mit gemeingefährlichen Mitteln oder um eine Straftat zu ermöglichen oder zu verdecken, einen Menschen tötet." Die semantische Absonderung geht einher mit einer speziellen Sanktionsandrohung. In Deutschland erfolgt das dadurch, dass das Gesetz (völlig untypischerweise) bei Vorliegen eines Mordes die lebenslange Freiheitsstrafe als einzig mögliche Strafe zwingend vorschreibt. Der heutige Gesetzeswortlaut "Der Mörder wird mit lebenslanger Freiheitsstrafe bestraft" gilt erst seit 1969 und geht über den seit 1953 geltenden Zwischenschritt "Der Mörder wird mit lebenslangem Zuchthaus bestraft" bis auf die 1941 eingeführte Formulierung zurück: "Der Mörder wird mit dem Tode bestraft." Zusätzlich kommt seit 1979 als symbolische Abgrenzung auch im Verhältnis zum Totschlag hinzu, dass Mord nicht mehr verjähren kann.
 
Die symbolisch also gleich mehrfach gesicherte Exzeptionalität des Mordes gegenüber allen anderen Tötungen und Tötungsdelikten dient der Markierung der moralischen Grenzen zur Abschreckung potentieller Täter ebenso wie zur Beruhigung der rechtstreuen Bevölkerung. Zwar erfolgt die Bestrafung des Mordes in der Praxis nicht schon immer dann quasi automatisch, wenn der Täter bekannt ist und seine Tat die Merkmale des Mordes erfüllt, weil letztlich jeder Schritt der Ermittlung, der Subsumtion und des Prozesses in unterschiedlichem Ausmaß mit Machtverhältnissen und Interessenkonstellationen zusammenhängt und es durchaus vorkommen kann, dass eine Tötungshandlung, die nach dem Buchstaben des Gesetzes als Mord zu qualifizieren wäre, durch die Machtkonstellation erfolgreich umetikettiert und als fahrlässige Tötung, wenn nicht als Unfall, bzw. Tod durch Krankheit oder Altersschwäche dargestellt werden kann. Ist allerdings eine Tötung erst einmal verbindlich als Mord qualifiziert und die Tat einem Individuum zugeordnet, dann ist die damit verbundene Statusdegradierung kaum je wieder reparierbar - und der Staat hat seine Entschlossenheit zur Verteidigung der moralischen Grenzen des Gemeinwesens unter Beweis gestellt.
 
Die Heterogenität des Begriffsinhalts von Mord führt dazu, dass vergleichende Forschungen lieber auf die Kategorie der vorsätzlichen Tötungen ausweichen (Homizide) und gar nicht erst versuchen, den Mord im engeren Sinne zum Gegenstand historischer und interkultureller Komparatistik zu machen. Das ist insofern unglücklich, als man die Abgrenzungsfragen nur verlagert - und sich vor allem aber die Möglichkeit einer fokussierten Erforschung speziell der extremen Formen menschlicher Grausamkeit von vornherein verbaut.
 
Welche Arten von Tötungshandlungen als besonders verwerflich gelten, ist immer auch Gegenstand sozialer und ideologischer Konflikte. Alte Eliten kämpfen gegen die Abwertung und neue für die Verankerung ihrer jeweiligen Moralvorstellungen im Strafgesetzbuch. So unterliegt das, was vom Gesetzgeber mit dem Anspruch der Allgemeinverbindlichkeit als Mord bezeichnet wird, letztlich auch dem Wandel der gesellschaftlichen Einstellungen und der politischen Machtverhältnisse. Daraus ergibt sich, dass zu jeder Zeit mehrere Begriffe des Mordes in einer Gesellschaft benutzt werden. In der gesellschaftlichen Realität wird als Mord bezeichnet, was:  


#im Gesetz abstrakt-generell als Mord definiert ist (abstrakte Gesetzes-Definition)
#im Gesetz abstrakt-generell als Mord definiert ist (abstrakte Gesetzes-Definition)
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#Historiker, Journalisten, Kriminologen und andere informell unter die gesetzliche Definition subsumieren (informelle Real-Definition).
#Historiker, Journalisten, Kriminologen und andere informell unter die gesetzliche Definition subsumieren (informelle Real-Definition).


Für die Sozialwissenschaften geht es nicht darum, welche der vorfindlichen Definitionen die richtige ist, sondern darum, dass jede dieser Definitionen eine soziale Tatsache darstellt, die etwas über das Recht und die Ideologie, die Konflikte und die Probleme in Staat und Gesellschaft aussagen kann. Die gesetzliche Definition des Mordes ist nicht nur deshalb besonders relevant, weil hinter ihrem Allgemeinverbindlichkeitsanspruch die Macht des Staatsapparates steht, sondern auch deshalb, weil sie etwas über die Herrschaftsverhältnisse und die herrschende Ideologie einer Zeit Auskunft gibt. Die Diskrepanz zwischen der gesetzlichen Definition des Mordes einerseits und konkurrierenden Definitionen in gesellschaftlichen Gruppen und sozialen Bewegungen andererseits kann Aufschluss geben über konfligierende Werte in der Gesellschaft, über Tendenzen sozialen und politischen Wandels und vieles mehr: konservative Kreise kämpfen für das ungeborene menschliche Leben und gegen ihren eigenen gesellschaftlichen Einflussverlust mit Kampagnen gegen den "Massenmord an ungeborenen Kindern"; eine zunehmende Zahl von Menschen sieht inzwischen auch ethische Probleme im Umgang mit anderen Lebewesen und verlangt die Ächtung dessen, was sie als "Mord an Tieren" bezeichnet (vgl. dazu Hoerster 2007); legale Hinrichtungen werden hingegen seit langer Zeit von kritischen Geistern als kalte Grausamkeit und "staatlicher Mord" verurteilt; eine ähnliche Delegitimierung staatlichen Tötens beabsichtigt auch der Ausdruck "Soldaten sind Mörder". Hier wie anderswo manifestiert sich ein Unbehagen an dem, was als Heuchelei und Doppelmoral einer gespaltenen Tötungsethik erscheint. Hinter derlei "Streit um Worte" stehen Konflikte von Lebensstilen, Ethiken und ganzen gesellschaftlichen Segmenten um die Frage, wessen Werte als allgemein verbindlich zu gelten haben. Eine selbstbewußter werdende Bürgergesellschaft sieht sich nicht mehr als Untertan des Staates, sondern diesen als eine Organisation im Dienste der Bürger - und würde ihm also am liebsten die Gesellschaftsmoral des Tötungsverbots oktroyieren. All diese Phänomene zeigen, dass es eine Differenz gibt zwischen den herrschenden Überzeugungen, wie sie im positiven Recht verankert sind, und den Werten und Normen gesellschaftlicher Gruppen, Bewegungen oder Subsysteme, aus denen historisch gesehen immer wieder auch rechtlicher Wandel entsteht. Insofern sensibilisieren diese Definitionen nicht nur für ethisch-ideologische Differenzen zwischen Herrschenden und Beherrschten, sondern sie gewähren auch einen Blick auf die Spannbreite dessen, was die Zukunft prägen könnte. 


Eine weitere Diskrepanz besteht zwischen dem, was einerseits von Polizei und Justiz als Mord registriert und deshalb auch in die Statistiken eingespeist wird - und dem, was von anderen als den offiziell dazu berufenen Stellen als Mord angesehen wird. Viele Tötungen, die Mordmerkmale aufweisen, verbleiben im Dunkelfeld. Sie erreichen gar nicht erst die Polizei oder gar die Gerichte. Dennoch werden sie von den Opfern (oder sogar von den Tätern), von Journalisten oder Wissenschaftlern als solche wahrgenommen, beschrieben, bezeichnet und analysiert. Diese Definitionen sind oft unklarer und unsicherer als diejenigen von Gerichten (aber auch die sind oft nicht so solide, wie sie scheinen). Viele aber sind - auch wenn sie nicht vor Gericht landen - nicht weniger real und nicht weniger scheußlich als vor Gericht abgehandelte und formell als Mord definierte Tötungen. Dass diese (theoretisch in Howard S. Beckers Kategorie des „rule-breaking behavior“, bzw. in Michel Foucaults Konzept der „illégalismes“ gehörenden) Morde im Dunkelfeld, die "nur" informell so definiert werden, nicht als Morde in Gerichtsurteilen auftauchen, macht sie jedenfalls nicht schon deshalb weniger real oder gar weniger verwerflich. Oft sind es sogar die gravierendsten Taten, die im Dunkelfeld verbleiben. Denn je näher die Täter an der Macht operieren und je brutaler sind sie, desto größer ihr korruptiver und einschüchternder Einfluss und desto größer auch ihre Chance, sich der formellen Definition ihrer Taten als Mord für lange Zeit oder für immer zu entziehen. Wenn zum Beispiel die Opfer eines Massakers gefunden werden und die Funde keinen Zweifel daran lassen, dass hier unbewaffnete Zivilisten grausam zu Tode gebracht wurden, wenn aber die mutmaßlichen Täter längst gestorben oder aus anderen Gründen nicht zu belangen sind, dann können sie in keiner Polizei- oder Verurteiltenstatistik auftauchen - und doch wäre es absurd, die entsprechenden Individuen (man denke an diktatorische Staatsführungen des 20. Jahrhunderts, die nie zur Rechenschaft gezogen werden konnten) aus jeder kriminologischen Betrachtung auszuklammern, auch wenn die von Historikern zusammengetragenen Belege erdrückende Beweise für ihre Verantwortlichkeit liefern. Wer vom Mord spricht, ist deshalb gut beraten, seinen Blick auf die Welt nicht dadurch unnötig einzuschränken, dass er sich ausschließlich auf solche Taten und Akteure beschränkt, die von ordentlichen Gerichten rechtskräftig verurteilt wurden. Keine der vier Definitionen hat die Wahrheit gepachtet und keine ist - wenn man sie mit Vorsicht behandelt - als Erkenntnisquelle völlig zu entbehren.
1. Gesetzliche Definitionen. Die westliche Tradition ordnet grundsätzlich all jene Tötungen der Kategorie des Mordes (oder seiner begrifflichen Äquivalente) zu, die außerhalb des gesetzlichen Rahmens mit Vorbedacht (im griechischen Altertum: ''ek pronoia'') und Planung (''bouleusis'') begangen wurden. Das deutsche Recht schlug 1941 einen bis heute nicht verlassenen Sonderweg ein, indem es die Abgrenzung nicht mehr nach dem Merkmal der Überlegung vornahm, sondern eine typisierende Bewertung von Tatmotiven, Tatumständen und Tatzielen vornahm. Seither beschreibt das Gesetz auch nicht mehr die Tat des Mordes, sondern den Täter, indem es in § 211 des Strafgesetzbuchs formuliert: "Mörder ist, wer aus Mordlust, zur Befriedigung des Geschlechtstriebes, aus Habgier oder sonst aus niedrigen Beweggründen, heimtückisch oder grausam oder mit gemeingefährlichen Mitteln oder um eine Straftat zu ermöglichen oder zu verdecken, einen Menschen tötet." Aus der nationalsozialistischen Formulierung "Der Mörder wird mit dem Tode bestraft" wurde inzwischen: "Der Mörder wird mit lebenslanger Freiheitsstrafe bestraft." Das deutsche Strafrecht weist dem Mord also eine dreifache Sonderstellung zu: erstens durch die Rede vom "Mörder" inmitten eines sonst nur Handlungen beschreibenden Tatstrafrechts, zweitens durch die Abweichung von der durchgängigen Praxis des Gesetzgebers, keine Punktstrafe vorzuschreiben, sondern einen gerichtlich auszufüllenden Strafrahmen anzugeben und drittens durch die Ausnahmevorschrift (seit 1979), dass Mord - anders als alle anderen Straftaten - keiner Verjährung unterliegt.
 
2. Gesellschaftliche Definitionen. Verschiedene Anschauungen können Aufschluss geben über divergierende Überzeugungen sozialer Schichten und Milieus ebenso wie über Tendenzen des Wertewandels. Die einen prangern Abtreibungen als "Massenmord an ungeborenen Kindern" an, die anderen bezeichnen das Treiben in Schlachthöfen als "Mord an Tieren" (vgl. dazu Hoerster 2007). Hinter derlei "Streit um Worte" steht meist ein handfester sozialer Konflikt darum, welcher Teil der Bevölkerung seine Wertorientierung im Gesetzestext festschreiben und damit allgemein verbindlich machen darf. Eine selbstbewusste Zivilgesellschaft kämpft zum Beispiel gegen den Obrigkeitsstaat und dessen Parteigänger mit Slogans wie "Soldaten sind Mörder" und kritisiert die Praxis der Hinrichtungen in Staaten, in denen es die Todesstrafe gibt, als "staatlichen Mord". In solchen gesellschaftlichen Morddefinitionen drückt sich nicht nur ein Unbehagen an dem aus, was vielen als pure Heuchelei, bzw. als Doppelmoral einer gespaltenen Tötungsethik erscheint. Sie sind auch die logische Konsequenz eines vergesellschafteten Staatsverständnisses, das diesen als Diener seiner Bürger sieht und ihm also am liebsten die Gesellschaftsmoral des Tötungsverbots oktroyieren würde. All diese Phänomene zeigen, dass es eine Differenz gibt zwischen den herrschenden Überzeugungen, wie sie im positiven Recht verankert sind, und den Werten und Normen gesellschaftlicher Gruppen, Bewegungen oder Subsysteme, aus denen historisch gesehen immer wieder auch rechtlicher Wandel entsteht. Insofern sensibilisieren diese Definitionen nicht nur für ethisch-ideologische Differenzen zwischen Herrschenden und Beherrschten, sondern sie gewähren auch einen Blick auf das, was kommen könnte. 
 
3. Subsumtionen durch Polizei und Justiz. Polizeiliche Kriminalstatistiken vermitteln einen Eindruck von dem Risiko, Opfer einer vorsätzlichen Tötung zu werden. Allerdings findet im Laufe der gerichtlichen Verarbeitung in der Regel eher eine Herabstufung (von Mord zu Totschlag oder Körperverletzung mit Todesfolge) statt. Auch gibt es Länder, in denen Polizeibeamte selbst in zahlreiche Mord- und Totschlagsfälle involviert sind - und in denen diese Taten dann häufig gar nicht in der Statistik auftauchen. Diese Unzulänglichkeiten der polizeilichen Statistik bedeuten nicht, dass die Verurteiltenstatistiken der Justiz zuverlässigere Auskunft über die Wirklichkeit des Mord- und Totschlagsgeschehens gäbe. Dennoch ist das, was Polizei und Justiz als Mord bezeichnen, auch die Konstruktion einer eigenen gesellschaftlichen Wirklichkeit.
 
4. Subsumtionen durch Dritte. Viele Morde verbleiben im Dunkelfeld. Sie erreichen gar nicht erst die Polizei oder gar die Gerichte. Dennoch werden sie von den Opfern (oder sogar von den Tätern), von Journalisten oder Wissenschaftlern als solche wahrgenommen, beschrieben, bezeichnet und analysiert. Dass es von der Polizei nicht wahrgenommen und deshalb nicht offiziell als Kriminalität bezeichnet wird, macht dieses "rule-breaking behavior“ (Howard S. Becker), bzw. diesen „illégalisme“ (Michel Foucault) nicht weniger real oder weniger verwerflich. Oft sind es die gravierendsten Taten, die im Dunkelfeld verbleiben. Je näher die Täter an der Macht operieren und je brutaler sie sind, desto größer ihr korruptiver und einschüchternder Einfluss und desto größer auch ihre Chance, sich der formellen Definition ihrer Taten als Mord zu entziehen. Wenn zum Beispiel die Opfer eines Massakers gefunden werden und die Funde keinen Zweifel daran lassen, dass hier unbewaffnete Zivilisten grausam zu Tode gebracht wurden, wenn aber die mutmaßlichen Täter längst gestorben oder aus anderen Gründen nicht zu belangen sind, dann können sie in keiner Polizei- oder Verurteiltenstatistik auftauchen - und doch wäre es absurd, die entsprechenden Individuen (man denke an diktatorische Staatsführungen des 20. Jahrhunderts, die nie zur Rechenschaft gezogen werden konnten) aus jeder kriminologischen Betrachtung auszuklammern. Wer vom Mord spricht, ist deshalb gut beraten, seinen Blick auf die Welt nicht dadurch unnötig einzuschränken, dass er sich ausschließlich auf solche Taten und Akteure beschränkt, die von ordentlichen Gerichten rechtskräftig verurteilt wurden. Keine der vier Definitionen hat die Wahrheit gepachtet und keine ist - wenn man sie mit Vorsicht behandelt - als Erkenntnisquelle völlig zu entbehren.


== Der evolutionäre Vorteil instrumenteller Grausamkeit ==
== Der evolutionäre Vorteil instrumenteller Grausamkeit ==


Über das aggressive Töten anderer Menschen, das die Geschichte unserer Spezies von Anfang an charakterisiert, glaubt die Forschung heute zweierlei zu wissen.
Der Mensch ist nicht nur für seine Umwelt "das gefährlichste aller Tiere" (David Livingstone Smith), er ist, biologisch gesehen, auch durchaus "frei, seine Artgenossen zu töten; die instinktive Hemmung dagegen reicht bei ihm nicht aus" (v. Weizsäcker 1979: 85). Mord und Totschlag gehören zu jeder menschlichen Gesellschaft. Sie sind also im Sinne Émile Durkheims (1968) soziologisch normal. Darüber hinaus glaubt die Forschung heute zweierlei zu wissen.


Erstens, dass der Mensch, der als "das gefährlichste aller Tiere" (David Livingstone Smith) über einen Erfindungsreichtum sondergleichen verfügt, was die grausame und egoistische Eliminierungen seiner Artgenossen angeht, diese Fähigkeit schon von seinen Vorfahren übernommen haben dürfte, für die sich dieses Verhalten im Laufe von rund sechs Millionen Jahren immer wieder als überlebenswichtig erwiesen und tief verankert hatte. Die Verschmelzung der Angst des Gejagten mit dem Triumph des Jägers im "aggressiven Individuum" war wohl ein erheblicher evolutionärer Vorteil für den homo erectus. Darauf konnte auch der anatomisch moderne Mensch, der die Erde seit rund 200.000 Jahren bevölkert, aufbauen - und noch während der letzten 12.000 Jahre, seit der Erfindung des Ackerbaus, erwies sich die Bereitschaft zur Grausamkeit gegenüber Fremden als nützliche Verhaltensdisposition. Immerhin verbrachte der Mensch 95% dieser Zeitspanne in sehr übersichtlichen Gemeinschaften: Fremde kannte er fast nur als Gefahr für sein Leben. Viele Forscher sehen heute noch ontogenetische Ausläufer dieses phylogenetischen Erbes: in der kulturübergreifend feststellbaren Entwicklungsphase des "Fremdelns" bei sieben bis acht Monate alten Kleinkindern (einer Phase der Angst vor Fremden und besonders vor männlichen Fremden) ebenso wie in der (aus der Angst vor dem Ermordet-Werden stammenden) Fähigkeit des Menschen, sich in die potentiell bösen Absichten Anderer hineinzuversetzen. Diese Fähigkeit ist dann ein Vorteil, wenn es dem Menschen gelingt, die Angst vor dem Anderen in die Bereitschaft zu dessen Tötung zu verwandeln. Denn die (von Thomas Hobbes eindrucksvoll geschilderte) Logik der wechselseitigen Antizipation böser Absichten befähigt (und nötigt) das um seine Sicherheit besorgte Individuum, dem Risiko eines Angriffs durch den Anderen durch den eigenen Angriff zuvorzukommen. Den für die weitere Entwicklung riskanten ''bellum omnium contra omnes'' konnte dann - nach Hobbes - nur die Herausbildung einer starken, die Partikulargewalten entwaffnenden Zentralmacht verhindern. - Der angesehene Ökonom und Verhaltensforscher Samuel Bowles (2004) sieht in der Aggression gegen äußere Feinde sogar die Bedingung der Möglichkeit für die ersten evolutionären Schritte zu einer verstärkten Binnensolidarität menschlicher Gemeinschaften. Die Bedrohung von außen wurde zur Wiege menschlicher Selbstlosigkeit. Mit zunehmender Bevölkerungsdichte wurden Kontakte häufiger und intensiver, nicht aber unbedingt friedlicher. So wie es für Kopfjäger und Kannibalen rational war, Fremde umzubringen und gegebenenfalls aufzuessen, weil man damit mehrere Zwecke zugleich erreichen konnte - Abschreckung von Feinden, Vermehrung der eigenen Ressourcen, Stärkung des eigenen Machtgefühls und Verbesserung der Eiweißversorgung - so wurde es auch rational, Fremde zu foltern, zu vergewaltigen oder zu zergliedern. Da die Grausamkeit zweckorientiert war und für die Menschen einen effektiven Weg zum Überleben darstellte, war das Töten anderer Menschen strategisch rational (Helbling 2006). Was heutigen Betrachtern als verabscheuungswürdiger Mord erscheint, war im moralischen Universum der Betroffenen ein naturgegebener und fraglos legitimer Weg der Existenzsicherung des Individuums und seines Kollektivs.
Erstens, dass der Mensch über einen Erfindungsreichtum sondergleichen verfügt, was die grausame und egoistische Eliminierungen seiner Artgenossen angeht: diese Fähigkeit soll er schon von seinen Vorfahren übernommen haben, für die sich dieses Verhalten im Laufe von rund sechs Millionen Jahren immer wieder als überlebenswichtig erwiesen hatte. Die Angst des Gejagten und der Triumph des Jägers vereinigten sich im "aggressiven Individuum": ein erheblicher evolutionärer Vorteil für den homo erectus und eine gute Basis für den seit rund 200.000 Jahren existierenden anatomisch modernen Menschen. Selbst noch nach der Erfindung des Ackerbaus und der Viehzucht vor rund 12.000 Jahren war die Grausamkeit gegenüber Fremden noch nicht dysfunktional geworden. 95% dieser Zeitspanne verbrachte der Mensch in kleinen Gemeinschaften, die ganz gut ohne Kontakt mit Fremden auskamen und für die zudem der Anblick von Fremden meist nichts Gutes bedeutete. Viele Forscher sehen in der kulturübergreifend feststellbaren Phase des "Fremdelns" bei sieben bis acht Monate alten Kleinkindern ebenso einen ontogenetischen Ausläufer dieses phylogenetischen Erbes wie in der (aus der Angst vor dem Ermordet-Werden stammenden) Fähigkeit des Menschen, sich in die potentiell bösen Absichten Anderer hineinzuversetzen - einer Kunst, die dann von Vorteil ist, wenn es dem Menschen gelingt, die Angst vor dem Anderen in die Bereitschaft zu dessen Tötung zu verwandeln. Die (von Thomas Hobbes eindrucksvoll geschilderte) Logik der wechselseitigen Antizipation böser Absichten befähigt (und nötigt) das um seine Sicherheit besorgte Individuum, dem Risiko eines Angriffs durch eine eigene Attacke zuvorzukommen. Den für die weitere Entwicklung riskanten ''bellum omnium contra omnes'' konnte dann - nach Hobbes - nur die Herausbildung einer starken, die Partikulargewalten entwaffnenden Zentralmacht verhindern. In der Aggression gegen Fremde sieht Samuel Bowles (2004) sogar die evolutionäre Wiege menschlicher Liebe, Binnensolidarität und Selbstlosigkeit innerhalb der jeweils eigenen Gruppe. Die zunehmende Bevölkerungsdichte machte Kontakte häufiger, aber nicht aber unbedingt friedlicher. Kopfjäger und Kannibalen genossen den evolutionären Vorteil, durch die Tötung und das Verzehren von Fremden andere Feinde abzuschrecken, den eigenen Eiweißbedarf zu decken und zudem das eigene Machtgefühl zu intensivieren. Doch auch jenseits dieser Kulturen war es rational, weil abschreckend, Fremde zu vergewaltigen, zu foltern und/oder zu zerstückeln. Die Grausamkeit war zweckorientiert im Hinblick auf das eigene Überlegen und insofern strategisch rational (Helbling 2006).


Zweitens hat das Risiko, sein Leben als Opfer einer vorsätzlichen Gewalttat zu beenden, im Laufe der Jahrtausende dramatisch abgenommen. Alles in allem ist die Menschheit - so kontraintuitiv das angesichts der Massaker der Gegenwart erscheint - heutzutage im Vergleich zu früher eher besonders friedfertig. Vor 10.000, 5.000, 2.000 und auch noch 500 Jahren war die Rate gewaltsamer Todesfälle wesentlich höher als heute. Insofern wurde das Mordgeschehen menschheitsgeschichtlich immer weiter marginalisiert: faktisch wie ideologisch und moralisch. Ein erster Befriedungsschub verdankte sich (vor 5000 Jahren) der Entstehung von Hochkulturen. Damals ging die Rate der Homizide um etwa vier Fünftel zurück. Der Aufbau von Verwaltungsstrukturen im 13. und 14. Jahrhundert führte zu einem erneuten und überaus dramatischen Tötungs-Rückgang auf jährlich vielleicht noch 30 bis 40 Personen pro 100.000 Einwohner. Der dritte Humanisierungsschub schließlich kam mit dem Niedergang zahlreicher Gewaltpraktiken von der Gewaltherrschaft bis zur Folter im Zuge der Aufklärung und der Urbanisierung (Eisner 1997). - Die Gewaltexzesse des 20. Jahrhunderts mit ihren vielleicht 180 Millionen Toten (White 2011) sollen nichts an der Realität einer langfristigen Abnahme des Homizids ändern: selbst wenn dadurch der Durchschnitt auf drei von hundert Todesfällen stiege, läge dieser Anteil immer noch deutlich unter dem in allen früheren Epochen Üblichen. Steven Pinker (2011) zieht daraus den Schluss, dass wir bei aller noch vorhandenen Grausamkeit auf der Welt letztlich doch froh sein könnten über die historische Leistung der Aufklärung und der Zivilisation insgesamt. Wenn das so grausame und so blutige 20. Jahrhundert allerdings im historischen Vergleich vergleichsweise gewaltarm war - dann kann dies auch weniger zur Beruhigung als vielmehr zu einer vertieften Beunruhigung über die Geschichte der Menschheit und den Stand ihrer Zivilisierung Anlass geben. Und denkbar wäre auch, dass das 21. Jahrhundert mit seiner "Coming Anarchy" (Kaplan 1994) eine neue Tendenz in Richtung auf vermehrte Extremgewalt begründet. Jedenfalls fehlt es nicht an Gesellschaftskrisen, die zu derlei Anlass geben könnten - und auch nicht an militärischem, religiösen und politischen Gewaltpotential oder irgend einer sonstigen Bedingung für die rasche Entstehung und Vervielfältigung sozial heterogener Netzwerke der Verfolgung, die trotz intern uneinheitlicher Motivationen und Interessen eines gemeinsam haben: den Willen, eine gegnerische Gruppe zu vernichten (Gerlach 2011). Wenn also auch zuzutreffen scheint, dass Mord heute weniger häufig vorkommt als während aller früheren Epochen, so bleibt es doch beunruhigend, dass gerade die entwickelten Gesellschaften im frühen 19. Jahrhundert und in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts schwer erklärliche Phasen des Anstiegs des Risikos gewaltsamer Tötungen zu verzeichnen hatten (vgl. Gartner 1990: 92; Gurr 1981).
Zweitens ging das Risiko, sein Leben als Opfer einer vorsätzlichen Gewalttat zu beenden, im Laufe der Jahrtausende geradezu dramatisch zurück (Pinker 2011). Alles in allem ist die Menschheit heute - so kontraintuitiv das angesichts der Massaker der Gegenwart erscheinen mag - sicherer als früher. Vor 10.000, 5.000, 2.000 und auch noch 500 Jahren war das Risiko umgebracht zu werden wesentlich höher. Drei Schübe der Befriedung marginalisierten die Häufigkeit und die moralische Bewertung des Homizids: zuerst die Entstehung von Hochkulturen vor 5.000 Jahren (Rückgang um vier Fünftel), dann der Aufbau von Verwaltungsstrukturen im 13. und 14. Jahrhundert (auf 30-40 Homizidopfer im Jahr pro 100.000 Einwohner) und schließlich die ineinandergreifenden Prozesse der Urbanisierung und der Aufklärung (Eisner 1997). Selbst die Gewaltexzesse des 20. Jahrhunderts mit ihren vielleicht 180 Millionen Toten (White 2011), die dazu führten, dass im Durchschnitt drei von hundert Todesfällen auf eine vorsätzliche Tötung zurückzuführen war, änderten nichts daran, dass der Tod durch Homizid auch im 20. Jahrhundert deutlich seltener war als in allen früheren Epochen. Insofern könnte man heute froh und dankbar sein für die Leistungen der Aufklärung und der Zivilisation. Man kann aber auch verzweifeln über die conditio humana und das schier unvorstellbare Ausmaß menschlicher Grausamkeit im Laufe der Geschichte. Zumal dann, wenn das 21. Jahrhundert mit seiner "Coming Anarchy" (Kaplan 1994) eine neue Tendenz in Richtung auf vermehrte Extremgewalt begründen sollte. An Gesellschaftskrisen und an militärischem, religiösen und politischen Gewaltpotential fehlt es jedenfalls kaum irgendwo auf der Welt (Gerlach 2011). Dass gerade die entwickelten Gesellschaften im frühen 19. Jahrhundert und in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts schwer erklärliche Phasen des Anstiegs des Risikos gewaltsamer Tötungen zu verzeichnen hatten (vgl. Gartner 1990: 92; Gurr 1981), kann sich rückblickend eines Tages jedenfalls durchaus auch als Beginn einer langen Phase der Rebarbarisierung erweisen.


== Tötungsdelikte  im internationalen Vergleich ==
== Tötungsdelikte  im internationalen Vergleich ==
Der internationale Vergleich von Kriminalitätsraten ist für seine Fallstricke bekannt. Die unterschiedlichen Definitionen dessen, was Mord im Gegensatz zu anderen Tötungsdelikten ausmacht, sind auch keine Erleichterung. So verzichtet man heute auf den Versuch, Mordraten zu vergleichen und befasst sich lieber mit der viel weiteren Kategorie der vorsätzlichen Tötungsdelikte (Homicide; Homizid). Da sich auch dort Abgrenzungsprobleme ergeben, verschiebt man das Problem zwar nur und verbaut sich zudem die Möglichkeit eines internationalen Vergleichs extremer Formen vorsätzlicher Tötungen, doch werden die Statistiken dadurch nicht völlig wertlos. Den relativ besten Eindruck von den Größenverhältnissen und Entwicklungstendenzen bei vorsätzlichen Tötungsdelikten vermittelt die ''Global Study on Homicide'' des Büros Vereinten Nationen zur Drogen- und Verbrechensbekämpfung (UNODC 2011), die ihre Daten aus nationalen und internationalen sowie polizeilichen und medizinischen Quellen schöpfte und dadurch einige der Verzerrungen, die sich aus selektiven Polizeistatistiken ergeben könnten, ausbügeln konnte.


Der internationale Vergleich von Mordstatistiken ist für seine vielen Fallstricke und Unwägbarkeiten bekannt. Um die Schwierigkeiten, die sich aus den verschiedenen gesetzlichen Abgrenzungen ergeben, zu entgehen, beschränkt man den Vergleichsversuch von vornherein auf die viel weitere Kategorie der "vorsätzlichen Tötungsdelikte", schließt also zumindest den Totschlag mit ein. Da sich auch dort erhebliche Abgrenzungsprobleme ergeben, hat man das Problem weniger umgangen als verschoben. Aber so ist es nun einmal. Den relativ besten Eindruck von den Größenverhältnissen und Entwicklungstendenzen bei vorsätzlichen Tötungsdelikten (= homicide; Homizide) vermittelt die ''Global Study on Homicide'' des Büros Vereinten Nationen zur Drogen- und Verbrechensbekämpfung gelten (UNODC 2011), die ihre Daten aus nationalen und internationalen sowie polizeilichen und medizinischen Quellen schöpfte und dadurch einige der Verzerrungen, die sich aus mancherorts sehr selektiven Polizeistatistiken ergeben, ausbügeln konnte.  
*Weltweit starben im Jahr 2010 nach der besten verfügbaren Schätzung 468 000 Menschen durch vorsätzliche Tötungsdelikte. Die Homizidrate lag damit im weltweiten Durchschnitt bei 6,9 Tötungsdelikts-Opfern pro 100.000 Einwohnern. Besonders gefährdet: junge Männer (21/100.000).


*Weltweit starben im Jahr 2010 nach der besten verfügbaren Schätzung 468 000 Menschen durch vorsätzliche Tötungsdelikte. Die Homizidrate lag damit im weltweiten Durchschnitt bei 6,9 Tötungsdelikts-Opfern pro 100.000 Einwohnern. Homizide sind überwiegend Männersache und werden häufig mit Schusswaffen begangen. 80 Prozent aller Täter und aller Opfer sind männlich. Schußwaffen spielen bei 40% aller Taten eine Rolle (in Europa: 21%).
*Überhaupt sind Homizide überwiegend Männersache: 80 Prozent aller Täter und aller Opfer sind männlich.


*In Europa wird der globale Durchschnitt nur in den neuen baltischen EU-Mitgliedsstaaten erreicht. Ansonsten bleibt Europa, wo 11% der Weltbevölkerung wohnen, aber (nur) 5% der vorsätzlichen Tötungen geschehen, deutlich darunter. Die Staaten der EU kommen auf einen Wert von 3/100.000. West- und Mitteleuropa für sich genommen auf 1,5 und Deutschland seit Jahren auf einen um die 1,0 oszillierenden Wert (je nach Quelle und Berechnung auf 0,84 bis 1,1), während Österreich ebenfalls seit Jahren noch darunter liegt (0,56).  
*Schußwaffen spielen bei 40% aller Taten eine Rolle (in Europa: 21%).


*Geringe Homizidraten (< 3/100.000) fanden sich 2010 weltweit (einschließlich Europas) in immerhin 40 (von 207 berücksichtigten) Staaten. Außerhalb Europas gehören zu dieser Gruppe u.a. Kanada, Australien und Neuseeland, China und Japan und die meisten arabischen Staaten. Soziale Unruhen (wie in Nordafrika) und einzelne Massenmorde (wie das Massaker auf der norwegischen Insel Utoya) verweisen allerdings auf eine hohe Störanfälligkeit des statistischen Friedens.
*Die UNO sieht eine klare Verbindung zwischen Homizidraten und der Kluft zwischen Arm und Reich. In Ländern mit (laut Gini- oder Human Development Index) besonders krassen Unterschieden sind Homizide um ein Vielfaches häufiger als in Ländern mit einer gleichmäßigeren Verteilung des Wohlstands.


*Sogar ohne dramatische gesellschaftliche Verwerfungen können sich die Homizid-Raten innerhalb von ein bis zwei Dekaden erheblich verändern. Zwischen Ende der 1950er und Ende der 1970er Jahre stieg z.B. in entwickelten westlichen Ländern das Risiko, Opfer eines tödlichen Gewaltverbrechens zu werden, um 60%. Andererseits sank dasselbe Risiko in New York City von 1993 bis 2002 um 69% (vgl. Hess 2004).
*In armen Ländern mit extremen Einkommensunterschieden, schlechter Regierungsführung und einem hohen Anteil junger Männer an der Gesamtbevölkerung ist die Mord- und Totschlagsrate um ein Mehrfaches höher als anderswo. In solchen Ländern haben Polizei und Militär oft faktisch eine Lizenz zum Töten und sind selbst eher Teil des Problems als von dessen Lösung.


*Homizidraten von über 20/100.000 fanden sich 2010 in 17 der 2007 Staaten. Die Spitzengruppe liegt mit ihren Raten allerdings weit darüber. An erster Stelle steht Honduras (Anstieg von 82/100.000 im Jahre 2010 auf 86/100.000 im Jahre 2011). Mit einigem Abstand folgen El Salvador (von 66 in 2010 auf 71 in 2011), Saint Kitts and Nevis (von 38 in 2010 auf 68 in 2011) und Venezuela (von 48 in 2010 auf 67 in 2011).
*Das höchste Mordrisiko (Homizidrate > 30/100.000) besteht in: Honduras (2010: 82/100.000; 2011: 86), El Salvador (2010: 66; 2011: 71), Saint Kitts and Nevis (2010: 38; 2011: 68) und Venezuela (2010: 48; 2011: 67). Es folgen mit großem Abstand Belize, Guatemala und Jamaika (mit jeweils 39/100.000 im Jahre 2011), die Bahamas (36), Kolumbien (33), Südafrika (32; Durchschnitt für ganz Afrika: 17) und die Dominikanische Republik (31). Im Rest der Welt liegt die Homizidrate unter 30.


*Direkt unter den genannten vier Ländern mit ihren völlig aus dem Rahmen fallenden Homizidraten rangierten im Jahr 2011 sieben Staaten mit Raten im Dreißigerbereich: Belize, Guatemala und Jamaika (mit jeweils 39), die Bahamas (36), Kolumbien (33), Südafrika (32; Durchschnitt für ganz Afrika: 17) und die Dominikanische Republik (31).
*Ein sehr geringes Mordrisiko (Homizidrate < 3/100.000) bestand 2010 in immerhin 40 von 207 Staaten. Dazu gehören Mittel- und Westeuropa (1,5/100.000) sowie Kanada, Australien und Neuseeland, China und Japan und die meisten arabischen Staaten. Soziale Unruhen (wie in Nordafrika) und einzelne Massenmorde (wie das Massaker auf der norwegischen Insel Utoya) verweisen allerdings auf eine hohe Störanfälligkeit des statistischen Friedens.


*In armen Ländern mit extremen Einkommensunterschieden und schlechter Regierungsführung und  ist die Mord- und Totschlagsrate um ein Mehrfaches höher als anderswo. Länder wie Honduras, El Salvador, Guatemala sind von tiefen sozialen Gräben zwischen einer nahezu allmächtigen Oligarchie und weitgehend rechtlosen Angehörigen verschiedener Volksgruppen gekennzeichnet. Polizei und Militär haben in solchen Ländern oft faktisch eine Lizenz zum Töten und stellen eher einen Teil der Gewaltmärkte und Gewaltkulturen dar, als dass sie sie eindämmten.
*Insgesamt kommt Europa auf eine Rate von 3/100.000. Der globale Durchschnittswert von 6,9 wird von den neuen baltischen EU-Mitgliedsstaaten erreicht. Ansonsten sind Mord und Totschlag in Europa, wo 11% der Weltbevölkerung wohnen, aber (nur) 5% der vorsätzlichen Tötungen geschehen, selten geworden. Österreich und Deutschland oszillieren seit Jahren um eine Homizidrate von etwa 1/100.000.  
*Ausnahmefall Nicaragua: das Land ist arm und liegt in demselben Drogenkorridor von Süd- nach Nordamerika, der die gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen staatlichen und nicht-staatlichen Gruppen und Banden in Ländern wie Honduras und El Salvador befeuert. Dennoch liegt die Homizidrate (13/100.000) hier seit vielen Jahren schon um ein Vielfaches niedriger als bei den Nachbarn. Die relative Immunität gegen exorbitante Gewalt korreliert hier mit einer besseren Regierungsführung, einer vergleichsweise funktionsfähigen Justiz und einer weniger in feindselige ethnische oder soziale Lager gespaltenen Gesellschaftsstruktur (Logan 2009).  


*Ausnahmefall Brasilien: das Land hat eine hohe, aber nicht exorbitante Homizidrate von 25/100.000. Es gibt aber einen Bundesstaat (Alagoas), der eine Homizidrate von 60/100.000 aufweist und dessen Hauptstadt Maceió auf eine Rate von 107 kommt. Das Hauptmerkmal von Alagoas und seiner Hauptstadt Maceió ist extreme soziale Ungleichheit. Elend und Luxus leben nebeneinander. Riesige Zuckerrohrplantagen und Rinderherden kennzeichnen eine Gesellschaft, in der die Plantagenarbeiter ihre Zwiste mit der Faust und mit Messern oder Macheten austragen und in der die Oberschicht der Bestrafung entgeht, indem sie verschwiegene und billige Auftragskiller nutzt. Während Verbesserungen der Lebensverhältnisse und der Polizeiarbeit seit 1998 einen Rückgang der Homizide in Rio um zwei Fünftel und Sao Paulo um zwei Drittel bewirkten, wanderten gewalttätige Drogen- und Waffenhändlerbanden in Gegenden aus, die gleichsam noch auf ihre postmoderne Erschließung warteten, gleichzeitig aber auch alte Gewaltstrukturen aufwiesen: unter anderem in Alagoas fanden sie Gelegenheiten der Landerschließung, des illegalen Tropenholzmarktes, schlecht bewachte Grenzen für Waffen und Drogen sowie eine hochgradig korrupte Polizei (Waiselfisz 2011).
*Sogar ohne dramatische gesellschaftliche Verwerfungen können sich die Homizid-Raten innerhalb von ein bis zwei Dekaden erheblich verändern. Zwischen Ende der 1950er und Ende der 1970er Jahre stieg z.B. in entwickelten westlichen Ländern das Risiko, Opfer eines tödlichen Gewaltverbrechens zu werden, um 60%. Andererseits sank dasselbe Risiko in New York City von 1993 bis 2002 um 69% (vgl. Hess 2004).


*Die UNO sieht eine klare Verbindung zwischen Homizidraten und der Kluft zwischen Arm und Reich. In Ländern mit (laut Gini- oder Human Development Index) besonders krassen Unterschieden sind Homizide um ein Vielfaches häufiger als in Ländern mit einer gleichmäßigeren Verteilung des Wohlstands.
*Ausnahmefall Nicaragua: das Land ist arm und liegt in demselben Drogenkorridor von Süd- nach Nordamerika, der die gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen staatlichen und nicht-staatlichen Gruppen und Banden in Ländern wie Honduras und El Salvador befeuert. Dennoch liegt die Homizidrate (13/100.000) hier niedriger als bei den Nachbarn. Die relative Immunität gegen exorbitante Gewalt korreliert hier mit einer besseren Regierungsführung, einer vergleichsweise funktionsfähigen Justiz und einer weniger in feindselige ethnische oder soziale Lager gespaltenen Gesellschaftsstruktur (Logan 2009).  


*Auch die Alterspyramide spielt eine Rolle: je höher der Anteil junger Menschen, desto höher die Homizidraten. Insbesondere junge Männer haben eher Waffen, beteiligen sich an Straßenkriminalität und geraten leichter in körperliche Auseinandersetzungen (weltweit werden in jedem Jahr 21 von 100.000 jungen Männern Opfer vorsätzlicher Tötungsdelikte).
*Ausnahmefall Brasilien: das Land hat eine hohe Homizidrate (25). Verbesserungen der Lebensverhältnisse und der Polizeiarbeit bewirkten seit 1998 einen Rückgang der Homizide in Rio um zwei Fünftel und Sao Paulo um zwei Drittel. In anderen Bundesstaaten wie etwa Alagoas trafen die aus den Metropolen verdrängten Drogen- und Waffenhändlerbanden auf überkommene Gewaltstrukturen sowie einen illegalen Tropenholzmarkt, schlecht bewachte Grenzen und eine korrupte Polizei (Waiselfisz 2011). In Alagoas stieg die Homizidrate auf 60, in der Hauptstadt Maceió auf 107.


== Mord als Abweichung ==
== Mord als Abweichung ==
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== Mord als Konformität ==
== Mord als Konformität ==
Die soziale Bewertung reicht von schärfster Verurteilung bis zu höchster Anerkennung. Das Grundmuster, dem die Verteilung von Ächtung und Achtung folgt, sieht folgendermaßen aus. Das Töten von Nicht-Menschen gilt grundsätzlich als moralisch neutral. Das Töten von Artgenossen wird grundsätzlich dann als Gefahr für die Allgemeinheit wahrgenommen und dementsprechend missbilligt, wenn die Handlung aus (egoistischen) Motiven zum privaten Vorteil erfolgt. Demgegenüber wird das (altruistische) Töten zur Abwehr von Bedrohungen des Gemeinwesens innerhalb des betreffenden Gemeinwesens grundsätzlich als notwendig und gerechtfertigt, wenn nicht lobenswert und vorbildlich bewertet. Tötungen können den Status einer Person also beschädigen (Bestrafung, Verachtung), sie können ihn aber auch unberührt lassen (Indifferenz bei Notwehr oder bei der Tötung von Tieren) oder erhöhen (Orden, Ehrenzeichen, Denkmäler).
Die schiere Bandbreite sozialer Werturteile birgt ein gewisses Potential an Wertungswidersprüchen und -konflikten, deren Aufbrechen und Ausufern nicht nur den ethischen, sondern auch den politisch-ideologischen und damit den machtmäßigen Status Quo der Gesellschaft gefährden könnte. Diesem Risiko begegnet in gewisser Weise die Trennung zwischen privater und politischer Moral. Nach dem Prinzip ''Quod licet Iovi non licet bovi'' kann dann zwar der Staat das Töten verlangen und belohnen, doch gilt für Privatpersonen nichtsdestotrotz der Satz: ''Du sollst nicht töten''. Eine Vielzahl von Ausnahmen und feinen Differenzierungen führt dazu, dass das soziale Bewertungskontinuum, das sich zwischen der verwerflichsten und der lobenswertesten Tötung erstreckt, letztlich dann aber doch nicht ganz deckungsgleich ist mit dem Kontinuum vom Privaten zum Öffentlichen: die Tötung aus privater Notwehr gilt zum Beispiel als achtens-, die extralegale Tötung von Zivilpersonen durch staatliche Akteure hingegen eher als ächtenswert.
Vor allem aber gibt es auch innerhalb der Klasse der sozial unerwünschten Tötungshandlungen noch erhebliche moralische Differenzierungen: wo die Tötung fahrlässig oder auf Verlangen des dann Getöteten erfolgte, wird sie generell weniger stark geächtet sein als dort, wo sie als Totschlag im Rahmen eines Eifersuchtsanfalls erfolgt oder gar ganz kaltblütig ein arg- und wehrloses Opfer langsam und qualvoll vom Leben zum Tode befördert. Für Taten vom Stile der letztgenannten Art haben die meisten Gesellschaften mittels besonderer Begriffe und Sanktionen eine von anderen Tötungsdelikten abgesonderte Klasse geschaffen, die als Inbegriff des größten Unrechts und der größten Schuld gilt, die ein Mensch auf sich laden kann. Insofern hat die Bezeichnung einer vorsätzlichen Tötung als Mord eine viel wuchtigere und metaphysisch aufgeladenere Bedeutung als wenn sie als Totschlag bezeichnet würde.


Während der sozial unangepasste Mörder schon lange die Aufmerksamkeit der Kriminologie erregen konnte, ist die Möglichkeit des Mordes aus Gehorsam gegenüber bestimmten Normen und Werten erst in jüngerer Zeit wissenschaftlich bearbeitet worden. Dabei kommt Mord wohl mindestens ebenso häufig als Verbrechen aus Gehorsamsbereitschaft und damit als Ausdruck von sozialer Konformität vor wie als Ausdruck sozialer Anpassungsschwierigkeiten.
Während der sozial unangepasste Mörder schon lange die Aufmerksamkeit der Kriminologie erregen konnte, ist die Möglichkeit des Mordes aus Gehorsam gegenüber bestimmten Normen und Werten erst in jüngerer Zeit wissenschaftlich bearbeitet worden. Dabei kommt Mord wohl mindestens ebenso häufig als Verbrechen aus Gehorsamsbereitschaft und damit als Ausdruck von sozialer Konformität vor wie als Ausdruck sozialer Anpassungsschwierigkeiten.
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*Pinker, Steven (2011) Gewalt. Eine neue Geschichte der Menschheit. A. d. Engl. v. Sebastian Vogel. S. Fischer, Frankfurt/M.
*Pinker, Steven (2011) Gewalt. Eine neue Geschichte der Menschheit. A. d. Engl. v. Sebastian Vogel. S. Fischer, Frankfurt/M.
*[http://www.theologe.de/altes_testament.htm Potzel, Dieter (2011) Die Aufforderung zum Völkermord in der Bibel. Der Theologe Nr. 26]


*[http://www.bbc.co.uk/news/magazine-178706733 Pressly, Linda (2012) Honduras murders: Where life is cheap and funerals are free. BBC Radio 4, Crossing Continents. May 2012]
*[http://www.bbc.co.uk/news/magazine-178706733 Pressly, Linda (2012) Honduras murders: Where life is cheap and funerals are free. BBC Radio 4, Crossing Continents. May 2012]
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*Trube-Becker, Elisabeth (1974). Frauen als Mörder. München: Goldmann.
*Trube-Becker, Elisabeth (1974). Frauen als Mörder. München: Goldmann.
*[http://www.unodc.org/documents/data-and-analysis/statistics/Homicide/Globa_study_on_homicide_2011_web.pdf UNO (2011) United Nations Office on Drugs and Crime (UNODC). Global Study on Homicide. Trends, Context, Data, abgerufen am 02.05.2012 (PDF 7,1 MB, englisch, Internationale Studie zu den Tötungsdelikten vom Büro der Vereinten Nationen für Drogen- und Verbrechensbekämpfung].
*[http://www.unodc.org/documents/data-and-analysis/statistics/Homicide/Globa_study_on_homicide_2011_web.pdf UNO (2011) United Nations Office on Drugs and Crime (UNODC). Global Study on Homicide. Trends, Context, Data, abgerufen am 02.05.2012 (PDF 7,1 MB, englisch, Internationale Studie zu den Tötungsdelikten vom Büro der Vereinten Nationen für Drogen- und Verbrechensbekämpfung].
*[https://www.unodc.org/documents/data-and-analysis/statistics/GSH2013/2014_GLOBAL_HOMICIDE_BOOK_web.pdf United Nations ... 2013 (2014)]


*Veiel, Andres (2007) Der Kick: Ein Lehrstück über Gewalt: München, Deutsche Verlags-Anstalt (DVA).
*Veiel, Andres (2007) Der Kick: Ein Lehrstück über Gewalt: München, Deutsche Verlags-Anstalt (DVA).
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== Weblinks ==
== Weblinks ==
*[http://www.heise.de/tp/artikel/22/22490/1.html über Frank, Warum Menschen töten]
*[http://www.heise.de/tp/artikel/22/22490/1.html über Frank, Warum Menschen töten]
*[http://www.equalitytrust.org.uk/resources/publications/research-digest-1-violent-crime-web Equality Trust (2012) Research digest: Income inequality and violent crime]
== Siehe auch ==
*[[Mord (Version 1)]]
*[[Handbook3]]
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